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"Sintflut" von Adam Tooze
Die USA und der Erste Weltkrieg

Der amerikanische Historiker Adam Tooze zeichnet in seinem neuen Buch "Sintflut" die weltpolitische Rolle der USA zwischen 1916 und 1931 nach. Die zentrale Frage, der Tooze nachgeht: Wie kam es dazu, dass die USA nach ihrem Eintritt in den Ersten Weltkrieg ihren internationalen Führungsanspruch geltend gemacht haben: politisch, moralisch, militärisch?

Von Niels Beintker |
    Gemeinhin gilt er als gescheiterter Prophet des Liberalismus: Woodrow Wilson, zwischen 1913 und 1921 Präsident der Vereinigten Staaten, der Politiker, der, seinen "14 Punkten" vom Januar 1918 folgend, die Welt sicherer machen wollte - mit den berühmten Worten: sicherer für die Demokratie. Die ehrgeizigen, visionären Pläne für eine freiheitliche europäische Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg gingen nicht auf, Woodrow Wilson, 1919 sogar mit dem Friedensnobelpreis geehrt, erscheint im Rückblick als tragisches politisches Genie - eine einflussreiche Lesart, die etwa auch in Heinrich August Winklers großer "Geschichte des Westens" zu finden ist. Adam Tooze, Historiker in Yale, plädiert für eine kritischere Bewertung dieses amerikanischen Präsidenten:
    "In den berühmten 14 Punkten, die als Manifest des Wilsonschen Programms normalerweise genommen werden, fallen weder das Wort Demokratie noch der Begriff Selbstbestimmung. Es ist klar, dass Wilson sich als Liberaler und als Progressiver und als Fortschrittler versteht - aber eben in dem Sinne: durch Fortschritt, durch Liberalität das Wertvolle bewahrend aufrechterhalten zu können. In diesem Sinne wird er missverstanden als Prophet einer weltweiten demokratischen Revolution."
    Missverstanden als Prophet einer weltweiten demokratischen Revolution
    Woodrow Wilson war stattdessen, geprägt durch die Folgen des amerikanischen Bürgerkrieges, ein konservativer Demokrat - diese These gehört zu den wichtigen Denkanstößen in Adam Toozes umfangreicher wie erhellender Studie über die Versuche einer Neuordnung der zwischen 1916 und 1931.
    Das Buch - entstanden vor allem auf der Grundlage der neueren Forschungsliteratur - ist einerseits eine Geschichte der internationalen Beziehungen nicht nur zwischen den USA und den europäischen Staaten, sondern auch zwischen Amerika, Europa und den asiatischen Mächten Japan und China - und schon deshalb ist es horizonterweiternd. Andererseits wird ein zentraler geopolitischer Prozess in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - Amerikas Aufstieg zur Weltmacht - immer wieder gespiegelt mit der innenpolitischen Verfassung der Vereinigten Staaten in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg, etwa mit Blick auf die Diskussion über den Völkerbund:
    "Wilsons Vision war weder ein feiger Internationalismus noch ein Plan, die Souveränität der Vereinigten Staaten einer internationalen Behörde unterzuordnen. In Wirklichkeit behauptete er die moralische Überlegenheit Amerikas, ein ungeheurer Anspruch, der in einer besonderen Vorstellung von der historischen Bestimmung Amerikas wurzelte."
    Adam Tooze sagt dazu: "Was wir nicht im Blick haben, ist, wie gespalten, wie gebrochen, wie konfliktreich Amerikas eigene Geschichte in der Zeit vor 1914 gewesen ist - und wie sehr Wilson einen Weg in die Zukunft sucht, die es Amerika ermöglichen wird, die fundamentalten Prinzipien seiner eigenen Ordnung in einer neuen Weltordnung aufrecht zu erhalten."
    Wilsons "Frieden ohne Sieg"
    Adam Tooze verbindet die Analyse der bisweilen recht diffusen politischen Entwürfe für eine Nachkriegsordnung mit der der wirtschaftlichen Entwicklung in den USA, in Europa und in Asien. Ökonomisch betrachtet waren die Vereinigten Staaten 1916 längst eine globale Führungsmacht - beispielsweise hätten die europäischen Entente-Mächte ohne amerikanische Investitionen in ihre Kriegsanleihen- so zeigt Tooze - den langen und brutalen Ersten Weltkrieg schwerlich finanzieren können. Aus dieser wirtschaftlichen Vormacht erwuchs schließlich der moralische Führungsanspruch, wenn auch wiederum mit einem insgesamt sehr offenen Programm postuliert. Im Januar 1917 skizzierte Wilson vor dem amerikanischen Senat die Idee eines "Friedens ohne Sieg". Eine wichtige Zäsur, argumentiert Tooze:
    "Das ist eine äußere Einflussnahme. Nicht durch die Parteinahme für einen der streitenden Blöcke, sondern der Versuch, den Krieg lahmzulegen, den Krieg zu beenden, ohne, dass es Gewinner oder Verlierer gibt. Dadurch wird eine sichere Grundlage geschaffen für eine neue Ordnung. Und eine neue Ordnung, die wiederum nicht auf Machtausübung beruhen muss, sondern auf der Einsicht in die Unvernünftigkeit und Zwecklosigkeit des Militarismus."
    Der spätere Friedensvertrag von Versailles - für Adam Tooze ein unvollendeter Frieden - bewirkte freilich das Gegenteil: Es gab eben doch deutliche Sieger und deutliche Verlierer, für die politische Entwicklung nach 1918/19 eine schwere Hypothek - auch deshalb, weil sich die USA zudem weigerten, an die Spitze einer internationalen Koalition liberaler Staaten zu treten.
    Der Bruch durch Sparpolitik und Isolationismus
    Dennoch standen die Folgejahre - auch über diverse Krisen wie die französische Besetzung des Ruhrgebietes und die Inflation in Deutschland hinweg - zunächst eher im Zeichen der internationalen Annäherung und Verständigung, wirtschaftlich und auch politisch. Erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise und einer weltweiten radikalen Deflation, zuletzt durch die Folgen der Abkehr Großbritanniens vom Goldstandard, wurden die vielfältigen Bande gekappt. Austerität, die rigorose nationale Sparpolitik - so Tooze - wurde wichtiger als eine internationale Verständigung, nicht allein, aber eben auch in den USA.
    "[...] diese Hinwendung zu einer 'konstruktiven' Politik ging in den USA, wie anderswo auch, mit einer Einschränkung des internationalen Engagements einher. Nicht im Nachgang des Ersten Weltkriegs, sondern erst als Reaktion auf die desillusionierenden 1920er-Jahre und die Weltwirtschaftskrise gelangte der radikale Isolationismus in der amerikanischen Politik zu voller Blüte."
    Adam Tooze: "Das ist wirklich der Moment des Bruches - diese Hinwendung der amerikanischen Gesellschaft, der amerikanischen Politik zwischen '31 und '33, der Moment, in dem die Weltwirtschaftskrise in Amerika ihren Höhepunkt erreicht, indem die amerikanische Politik tatsächlich Aspekte des Isolationismus annimmt. Das ist der Moment, in dem der Versuch, das Bündnis des Ersten Weltkrieges in einer Partnerschaft, in einer Struktur der Machtverteilung zwischen Großbritannien, Frankreich und Amerika, nicht mehr aufrechterhalten werden kann."
    Die verheerenden Folgen: Die radikalen, diktatorischen Gegenmodelle zum Entwurf einer liberalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung gewannen in Europa und auch in Asien die Oberhand. In den USA selbst, so resümiert der Autor, wurde, durch die Hinwendung zum Isolationismus, eine neue Phase der inneren Staatsgründung eingeleitet - aus der heraus das Land dann schließlich zu einer neuen Position der geopolitischen Stärke am Ende des Zweiten Weltkriegs fand.
    Manche der Entwicklungen, die Adam Tooze in seinem Buch über die Versuche einer Neuordnung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt, sind bekannt. In dieser Verdichtung freilich - und zugleich in der Erweiterung sowohl in Richtung Asien als auch mit Blick auf die Situation in den USA - erwachsen Ansätze für eine historische Neuvermessung einer dramatischen Epoche zwischen den beiden Weltkriegen.
    Adam Tooze: "Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931"
    Siedler, übersetzt von Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer, 720 Seiten, 34,99 Euro
    ISBN 978-3-886-80928-8