Spätestens seit ihrem 2010 erschienenen Buch "Die zitternde Frau" gehört auch Siri Hustvedt zu den Schriftstellern, die ihrer Krankheit mit Schreiben begegnen. Ein Zittern, das sie während öffentlicher Auftritte überfiel, war der Auslöser. Larmoyanz findet man bei der betroffenen Erzählerin aber nicht. Ganz im Gegenteil ist ihre Reise durch verschiedene Wissensgebiete leicht erzählt wie eine Novelle und frei von Fachsprache, obwohl sie ihren Lesern komplizierte Forschungsergebnisse zumutet. Das Anliegen, Subjekt zu bleiben innerhalb einer Medizin, die ihre Patienten zu entmündigen droht, treibt die Recherche an; eine Neugier, die sich auf den Leser überträgt und weit von der eigenen Krankheit der Autorin wegführt, hin zu philosophischen Fragen. Diese Neugier trägt auch Siri Hustvedts Sammelband mit Essays aus den Jahren 2006 bis 2011.
"Wie sehen, erinnern, fühlen wir, wie gehen wir mit anderen um? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort selbst gebrauchen? Tatsächlich ertrinken wir in Antworten. Es ist wichtig, trotz des Überangebots von Lösungen im Kopf zu behalten, dass, wer wir sind und warum wir so geworden sind, nicht nur in den Geisteswissenschaften offene Fragen bleiben, sondern auch in den Naturwissenschaften."
Siri Hustvedts Interesse speziell an der Neurowissenschaft reicht in die 80er Jahre zurück, als sie erstmals von einem Mann namens Phineas Gage las. Eine Stange hatte ihm den Kopf durchbohrt. Er überlebte, war aber wesensverändert: Er konnte seit dem Unfall keine Schuld mehr empfinden. Sollte moralisches Leben nur ein Klumpen Hirngewebe sein? Fragen dieser Art leiten ihre 32 hier abgedruckten Essays, die eine reiche Lehr- und Vortragstätigkeit der Autorin spiegeln. Oft sind sie für Kongresse, Museen oder Universitäten entstanden. Siri Hustvedt ging nach ihrer Promotion 1986 über Charles Dickens nicht an die Universität, sondern genoss es zu lesen, was sie interessierte, als "intellektuelle Vagabundin", wie sie selbst schreibt.
Wer ihre Prosa schätzt, etwa "Die unsichtbare Frau", ihr starkes Debüt von 1992, oder den Roman "Was ich liebte", der 2003 erschien und großen Erfolg hatte, fragte sich womöglich immer schon, warum darin so viele Traumatisierte auftreten. Die dunkle Welt in den Büchern der norwegischstämmigen Amerikanerin droht jederzeit einzustürzen. Seltsame Begegnungen stoßen ihre Erzähler plötzlich auf Themen, die mit ihnen selbst zu tun haben und die sie eigentlich wegschließen wollten. Die Essays nun zeigen Siri Hustvedts persönliche Waffen gegen das Angstmachende, Fremde, Unerklärliche. Am Grund ihrer Denkexperimente - das macht gleich der Eröffnungsaufsatz über das Begehren deutlich - steht, wenig überraschend, weil schon früher oft zitiert, die Psychoanalyse. Das therapeutische Setting bietet ihr aber weit mehr als nur Material für Beziehungsdramaturgie oder eine Figur wie Erik, den Psychoanalytiker in ihrem Roman "Die Leiden eines Amerikaners". Es ist Grundlage der Fiktion.
"Wenn die Vernunft - und, muss ich hinzufügen, der ganze Körper - die Wache zurückgezogen hat, stürzen Ideen herein und heften sich vielleicht an gelähmte Arme oder Spiegelbilder, an den Analytiker im Raum oder an die Geschichte oder das Gedicht, das gerade geschrieben wird. Und die imaginären Anderen oder Doppelgänger dieser Fiktionen sind nicht immer gute brüderliche Feen."
Drei Bereiche ordnen die Essays, wobei die Übergänge fließend sind: Unter "Leben" findet sich eher Autobiographisches; "Denken" ist dem freien Reflektieren über das Lesen, die Sprache oder den Buchmarkt vorbehalten; der Bereich "Schauen" versammelt Aufsätze vornehmlich zur Kunst; zum Beispiel über Gerhard Richter, Giorgio Morandi oder Goya. Der Band lässt sich unter verschiedenen Blickwinkeln lesen. Als Verbindungsstück zu den Romanen Siri Hustvedts gibt er Aufschluss über ihre Quellen. Davon abgetrennt, kann er zum interdisziplinären Dialog anregen. Zum Dritten ist er beeindruckendes Dokument einer permanenten Selbstbefragung. "Essayer", das französische Verb für "versuchen", umreißt dabei die Vorgehensweise - die bewusst risikoreiche Erzählposition.
Alle Essays führen in die Welt des "Zwischen", Siri Hustvedts Lieblingsgebiet, das sie in einem früheren Band mit dem englischen Wort "Yonder" beschrieben hat. Sie tritt darin in vielen Rollen auf: Als Intellektuelle, die unbefangen große Namen zitiert, von den alten Scholastikern bis zu modernen Neurowissenschaftlern; als Schreibende, die nichts für gegeben hält; als Lesende, die ihr Staunen mit uns teilt, wenn sie Alice aus "Alice in Wonderland" schrumpfen sieht, und die ihre Leitfiguren nennt, etwa die dänische Lyrikerin Inger Christensen. Und privat, etwa als Mutter, die nach der Geburt ihrer heute 27-jährigen Tochter jenes Glück der Schlaffheit empfindet, das sprachlos macht. Die unaufdringlich geschilderte Episode über die Geburt steht nahtlos neben Beschreibungen des menschlichen Gehirns und Martin Bubers Dialogtheorie. Es sind gerade diese erzählerischen Passagen, die einen in diese Essays hineinziehen und die zugleich illustrieren, wie solche Theorien über Kommunikation in den Alltag übersetzt werden könnten. Dabei blitzt immer wieder die sprachkritische Literaturwissenschaftlerin hervor, die Formulierungen hinterfragt.
"Kognitionswissenschaftler sprechen im Zusammenhang mit Erinnerung oft von Kodierung, Speicherung und Abrufen. Das sind Metaphern aus der Computersprache, die der tatsächlichen Praxis des Erinnerns nur nahekommen und sie, würde ich behaupten, obendrein verfälschen. In unserem Gehirn sind keine Lagerhäuser, in denen Material abgespeichert ist und darauf wartet, in seiner Originalform herausgeholt zu werden."
Aus der Sicht des Betrachters
Siri Hustvedts Thesen sind nicht neu; Memoriastudien füllen Regalbretter. Faszinierend ist aber die anschauliche Art, über solche Themen zu schreiben. Allein schon, dass sie einmal die Texte des englischen Psychoanalytikers Donald Wood Winnicott keck als "Prosa" bezeichnet, macht deutlich, dass sie nie in Theorien vernarrt ist. Vehement schreibt sie gegen die Exklusivität von Wissenschaftssprachen oder gestelztem Kunstkritikerjargon an. Am Deutlichsten zeigen das ihre Aufsätze übers Schauen. Eingeleitet ist dieser dritte große Bereich mit einer Materialsammlung; 33 Punkte, von denen der letzte der kürzeste ist:
"Ich schaue, und manchmal sehe ich."
Diese Betrachter-Position zwischen Warten und Erwartung ist typisch für Siri Hustvedt. Ein Beispiel dafür ist ihr Essay über die New Yorker Künstlerin Louise Bourgeois, die 2010 mit 98 Jahren starb. Wie sie deren aufwühlende Skulpturen, misstrauisch gegen alle vorgefassten Sätze, ins Licht rückt, ist von großer Achtung der Künstlerin gegenüber geprägt. Siri Hustvedt will das "rohe, ambivalente" Gefühl verstehen, das diese bedrückend vernähten Körper auslösen, jenseits einer schon viel zu oft erzählten traumatischen Künstler-Kindheit. Sie sucht einen anderen Zugang zum Werk - und findet ihn gerade in den Leerstellen: dort, wo die von der Künstlerin arrangierten Betten, Stühle, Spulen oder Parfümflaschen einen rätselhaften Zusammenhang herstellen und den Betrachter in eigene Erinnerungs- und Imaginationsprozesse verwickeln. Im besten Sinn ist Siri Hustvedt Phänomenologin ihrer eigenen Empfindung und Wissensarchive. Sie zeichnet auf, was sie bemerkt, muss es aber nicht zu Ende verstehen. Der von ihr gerne erwähnte dänische Philosoph Kierkegaard mit seiner Theorie der indirekten Mitteilung mag ihr dabei den Weg gewiesen haben. Wie ihm geht es Siri Hustvedt nicht um Ergebnisse. Sie will den Leser vielmehr zu einem Dialog mit sich selbst verführen. Das macht die Lektüre ihrer Essays ebenso unterhaltsam wie anspruchsvoll.
Siri Hustvedt: "Leben, Denken, Schauen"
Essays. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Erica Fischer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 490 Seiten, 24,95 Euro
Essays. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Erica Fischer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 490 Seiten, 24,95 Euro
Siri Hustvedt
Die 1955 in Minnesota geborene Schriftstellerin Siri Hustvedt wuchs zweisprachig in Amerika auf, mit einer norwegischen Mutter und einem norwegisch-amerikanischen Vater - in Norwegen selbst wohnte sie als Vierjährige fünf Monate und noch mal als Zwölfjährige für ein Jahr.
Heute lebt sie mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Paul Auster, in New York. Zuletzt erschien 2011 ihr Roman "Ein Sommer ohne Männer".