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Sittenbild aus der modernen Arbeitswelt

Die Angestellten nennen den Vorgang "spanisch den Flur runterlaufen". Er markiert das Ende jeder Erfolgsstory, denn wer spanisch den Flur runterläuft, ist gekündigt. Ohne lange Schonfristen, wie in Amerika üblich. Aus Anstand bezahlt ihm die Firma noch bis zum Monatsende das Gehalt weiter, doch das Büro - oder die kleine Großraumkabine - muss binnen einer halben Stunde geräumt sein. Kaum Zeit, sich von den Kollegen zu verabschieden, noch weniger, sensible Kundendaten zu kopieren - und genau darauf kommt es der Firma an.

Von Florian Felix Weyh |
    Die gespenstische Geschwindigkeit, mit der sich von einer Minute auf die andere das Leben ändert, macht den ominösen Ausdruck plausibel, der von allen stammen könnte: von Joe, Jim, Chris, Carl, Benny, Marcia, Karen und wie sie auch heißen mögen, denn sie sind Kreative, Angestellte einer großen Werbeagentur in Chikago. Inspiriert von einem Tom-Waits-Song, der wiederum auf einen Piratenfilme anspielt, hat irgendeiner von ihnen die kühne Umschreibung als Chiffre der Angst im Bürojargon etabliert. Denn man schreibt das Jahr 2001. Der allgemeine Börsenrausch ist verflogen, die New Economy erweist sich als Phantasmagorie und reißt auch etablierte Branchen mit in den Abgrund. Werbefirmen etwa, die in den fetten Jahren am meisten vom Boom profitierten, nun aber wieder um Kunden buhlen müssen. "Was ich tue", formuliert es ein Angestellter in einer Mail, "ist zu versuchen, einen Dollar für einen Kunden zu generieren, um für uns einen Vierteldollar zu generieren, damit ich fünf Cent für mich rauskriege. ( ... ) Aus diesem Grund liebe ich meinen Job und will ihn nie verlieren." Er ist dann der Erste, der ihn verliert und derjenige, vor dessen mutmaßlichem Racheakt sogar die Geschäftsleitung zittert. Denn eines scheint klar: Wer einmal spanisch den Flur runtergelaufen ist, der kehrt nicht in friedlicher Absicht zurück.

    Schöngeistige Literatur beschäftigt sich mit vielerlei, doch die Arbeitswelt wird kaum je zum Schauplatz von Romanen. All die zahllosen Tragödien, die sich tagtäglich in Büroetagen zutragen, gelten als wenig attraktiv und kaum literaturfähig. Umso erstaunlicher, dass der junge Amerikaner Joshua Ferris mit seinem Roman "Wir waren unsterblich" nicht nur ein unterhaltsames 400-Seiten-Debüt im Büromilieu vorlegt, sondern damit auch noch - für amerikanische Debütanten eher unüblich - literarisch innovativ arbeitet. Die Einflüsse seines großen Vorbilds Don DeLillo sind dabei unverkennbar, da Ferris wie dieser jede Geradlinigkeit in der Story verweigert. Die Chicagoer Werbeagentur ist ein zeitloses Universum, in dem sich Vor- und Rückblenden aneinander reihen, um in ein stillstehendes Flächengemälde aus dem Leben der Angestellten zu münden. Parallel dazu macht ein selten gelesener Kunstgriff - jenes schon im Titel anklingende "Wir" des auktorialen Erzählers in der ersten Person Plural -, von vornherein klar, dass es in solchen Milieus nur einen Helden geben kann: das Kollektiv. Dessen eingefahrene Rituale liefern das Material für Humoresken wie für Gehässigkeiten, für tröstliche Momente wie für zeitlose Wahrheiten. "Wir fanden Joe immer dann besonders unsympathisch", sagt das Kollektiv über einen Vorgesetzten, "wenn er etwas wusste, das wir auch wussten, sich aber weigerte, es uns zu sagen."

    Wie viel dieses Kollektiv, diese permanente Gerüchtesammel- und -verbreitungsmaschine weiß, zeigt sich vor allem im tragischen Strang des Buches. Lynn, die ranghöchste Figur des Geschehens, als "Partnerin" weit über den normalen Angestellten thronend, gibt einen Auftrag bekannt, der zunächst wie eine Aufklärungskampagne für Brustkrebspatientinnen aussieht, sich dann aber auf die Forderung zuspitzt, die Kampagne solle krebskranke Frauen zum Lachen bringen. Natürlich mutmaßt das Kollektiv, dass Lynn selbst vor einer Totaloperation stehe, der Auftrag in Wahrheit ein Hilferuf sei, doch irgendeinen Nutzen kann es aus dieser Spekulation nicht ziehen. Im Gegenteil, die Kommunikationsblockaden im Haus nehmen noch zu, parallel geht die Entlassungswelle weiter, von der man nicht weiß, wen sie als nächstes treffen wird.

    Mit diesem Sittenbild aus der modernen Arbeitswelt, das sich trotz unterschiedlicher Bedingungen in Europa mühelos auf hiesige Verhältnisse übertragen lässt, gelingt Joshua Ferris ein völlig unzynisches Panorama menschlicher Schwächen, die doch auch ihre sympathischen Seiten haben können: "Marcia war eine der wenigen unter uns, die die Gemeinheit anderer Leute zum Anlass nahm, sich an die eigene zu erinnern und sich für beide zu schämen." Obwohl im Gewimmel der Personen die Individualitäten programmgemäß auf der Strecke bleiben, erhält der Leser doch genügend Material, um sich dem Geschehen mit Empathie nähern zu können. Selten wird er in der Belletristik als Arbeitnehmer ernster genommen. Schon deswegen ist dieser Roman ein kleines Wunder - und ein spannend zu lesendes Buch.

    Joshua Ferris: Wir waren unsterblich
    Deutsch von Frank Wegner
    Rowohlt, 442 Seiten, 12,- Euro