Im Jahr 1914 geht ein junger Mann durch Berlin und muss – am Ziel seines Weges angekommen – enttäuscht feststellen, dass der Heiratsautomat, von dem er gelesen hat und mit dessen Hilfe er plante, eine Braut zu finden, von der Polizei konfisziert worden ist. Auch die Annoncen im "Blatt der Heiratslustigen" geben wenig Vielversprechendes her. So landet der junge Mann schließlich bei einer Heiratsvermittlerin.
Die junge Frau notierte meine Personalien und versprach felsenfest, mir eine junge, schöne, reiche und nette Gattin zu finden. Freudig und dankerfüllt gab ich ihr die zehn Mark, die sie für die Überprüfung meiner Angaben und Vorspesen verlangte, aber mir nach Erhalt der Mitgiftprovision wieder zurückstellen wird. Die brave Frau gibt sich gewiß mit der Auswahl meiner Zukünftigen die denkbar größte Mühe, denn trotzdem seit jenem Besuche schon ein Monat verstrichen ist, habe ich noch nichts von ihr gehört. Gut Ding will Weile haben!
Diese Zeilen schreibt nicht etwa ein unbedarfter Provinzler, der über die Gepflogenheiten der Großstadt Berlin staunt und sich zwangsläufig in ihnen verstricken muss. Diese Zeilen schreibt Egon Erwin Kisch, einer der wichtigsten Beobachter und kritischen Kommentatoren der Weimarer Republik. Wie kaum ein anderer versteht es der überzeugte Kommunist Kisch, die Marke "Kisch" in seinen Texten dabei stets mitzutransportieren. Welche Formel hätte besser zum Zeitgeist passen können als die vom "Rasenden Reporter", die Kisch selbst sich zulegt?
In jenem Text über den heiratswilligen jungen Mann ist es aber noch nicht die Figur des rasenden Reporters, sondern der Blick des Fremden, den Kisch bewusst annimmt, um auf diese Weise die Entfremdung, die Unnatürlichkeit der Zustände zu entlarven, die er beobachtet.
So zeichnet Kisch, unmittelbar zu Beginn des Ersten Weltkrieges, das Bild einer Gesellschaft, in der die Liebesbeziehungen zu Geschäftsbeziehungen verkommen sind. Der Text bildet den Auftakt einer Zusammenstellung vergriffener Kisch-Reportagen, die nun in der Salto-Reihe des Wagenbach Verlags erschienen ist.
Aufschlussreich sind nicht nur die historischen Details, von denen Kisch in seinen Reportagen berichtet. Überraschender noch ist die Ähnlichkeit mit Symptomen unserer Tage, die man allenthalben in den Schilderungen von Kisch entdecken kann. Wenn er etwa über den Rausschmiss der Bohème, die wenig konsumiert und lange bleibt, aus dem legendären "Café des Westens" schreibt, dann kann man darin Züge von Gentrifizierung lesen. Und wenn Kisch berichtet, wie eine Hausangestellte im Auftrag ihrer Herrschaften Weihnachtsbaum, Weihnachtsbaumfuß und Weihnachtsbaumschmuck kauft – für Unsummen und nach Maß, dann scheint auch schon im Jahr 1922 der Konsum das einzige Ritual, das an Feiertagen begangen wird.
Zurechtgestutzt werden nicht nur die Weihnachtsbäume, sondern auch die Menschen selbst. So weiß Kisch, reichlich süffisant, über eine Klinik für Nasenkorrekturen zu erzählen, die den gut zahlenden Patienten nicht nur ein schöneres Gesicht, sondern gleich auch noch ein besseres Leben verspricht.
Natürlich fehlen auch die klassischen Sujets der Weimarer Republik in den Reportagen von Egon Erwin Kisch nicht: Er schreibt über das Berliner Sechstagerennen genauso wie über den Lunapark, den damals größten Vergnügungspark Europas, angesiedelt im West-Berliner Stadtteil Halensee.
In diesen Texten allerdings zeigt Kisch sich nicht so sehr als spitzfindiger Beobachter von Zeit und Gesellschaft. Vielmehr tritt er hier als miesepetriger Kulturkritiker auf den Plan, dessen Vorbehalte gegen alle Ausprägungen der Unterhaltungsindustrie wenig originell und zugleich reichlich moralinsauer sind.
Dem Publikum des Sechstagerennens wird unterstellt, dass es um der Zerstreuung willen seine kranken Verwandten allein zu Hause sterben lässt. Den Besuchern des Vergnügungsparks wird dazu gratuliert, dass sie sich in der Wildwasserbahn die Kleider ruinieren und in anderen Karussells vor Übelkeit den Magen entleeren. Aber gerade auch dort, wo der Autor sich selbst als – wenngleich kritisches – Kind seiner Zeit zeigt, liefert dieser Band ein ebenso erhellendes wie unterhaltsames Sittengemälde der Weimarer Republik.
Bedauerlich an diesem Band – wie immer in der Salto-Reihe schön gestaltet und in rotes Leinen gebunden – ist allenfalls seine spärliche Kommentierung. Der Leser muss sich mit einer knappen editorischen Notiz, ein paar Fußnoten und etwas zeitgenössischem Bildmaterial begnügen. Ein Nachwort sucht er vergebens.
So muss der Band für sich selbst sprechen. Er tut das, indem er seinen Bogen einmal durch die Weimarer Republik schlägt. Der Text, der den Abschluss des Bandes bildet und der nur in Auszügen abgedruckt ist, stammt aus dem Jahr 1933. Er erzählt von der Verhaftung Kischs nebst anderer linker Stimmen wie Carl von Ossietzky oder Ludwig Renn nach dem Reichstagsbrand.
Unser Zug stolpert über die Eisentreppe hinab, das Spalier von Nationalsozialistischer Hilfspolizei hat wohl nur die Aufgabe, unseren Weg zu flankieren, damit niemand entweicht, aber die nunmehr beamteten Braunhemden wollen ihren besonderen Schneid zeigen, uns so traktieren sie uns mit Fußtritten und höhnischem Zuruf: "Jetzt werdet ihr ja sehen, was mit euch geschieht, ihr rote Saubande. Jetzt kriegt ihr alle vor'n Dez geknallt..."
Na schön, jetzt wissen wir es also. Im Hof harrt unser ein Gefängnisauto. Das Abteil hat knapp für zehn Menschen Raum, nur fünf auf jeder Seite. Aber es müssen unserer zweiundzwanzig hinein, so daß wir aufeinandergepfercht, ineinandergepfercht sitzen und stehen, endlich hat man uns zu einem Konglomerat zusammengepreßt, da heißt es: noch sechs hinein. Sie winden sich in uns hinein wie Bohrer ins Gestein.
Trotz dieser bedrohlichen Lage bleibt der Ton von Kisch sachlich, mitunter wird er so salopp, dass den nachgeborene Leser Grauen überfällt angesichts der düsteren Vorzeichen auf die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten, deren Anfänge Kisch hier beschreibt.
Die Fahrt in dem überfüllten Gefängnisauto endet in Spandau. Mit dem Ende der Fahrt bricht auch der Text ab. Nicht aber das Wirken von Egon Erwin Kisch.
Kisch ist, anders als unzählige andere, den Nationalsozialisten entkommen. Er emigriert 1933 nach Paris, später nach Mexiko. Dass seine Reportagen aus den Berliner Jahren nun endlich wieder zu kaufen sind, kann man nur begrüßen.
Egon Erwin Kisch: "Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen."
Wagenbach-Verlag , Berlin 2013, 144 Seiten, 15,90 Euro.
Die junge Frau notierte meine Personalien und versprach felsenfest, mir eine junge, schöne, reiche und nette Gattin zu finden. Freudig und dankerfüllt gab ich ihr die zehn Mark, die sie für die Überprüfung meiner Angaben und Vorspesen verlangte, aber mir nach Erhalt der Mitgiftprovision wieder zurückstellen wird. Die brave Frau gibt sich gewiß mit der Auswahl meiner Zukünftigen die denkbar größte Mühe, denn trotzdem seit jenem Besuche schon ein Monat verstrichen ist, habe ich noch nichts von ihr gehört. Gut Ding will Weile haben!
Diese Zeilen schreibt nicht etwa ein unbedarfter Provinzler, der über die Gepflogenheiten der Großstadt Berlin staunt und sich zwangsläufig in ihnen verstricken muss. Diese Zeilen schreibt Egon Erwin Kisch, einer der wichtigsten Beobachter und kritischen Kommentatoren der Weimarer Republik. Wie kaum ein anderer versteht es der überzeugte Kommunist Kisch, die Marke "Kisch" in seinen Texten dabei stets mitzutransportieren. Welche Formel hätte besser zum Zeitgeist passen können als die vom "Rasenden Reporter", die Kisch selbst sich zulegt?
In jenem Text über den heiratswilligen jungen Mann ist es aber noch nicht die Figur des rasenden Reporters, sondern der Blick des Fremden, den Kisch bewusst annimmt, um auf diese Weise die Entfremdung, die Unnatürlichkeit der Zustände zu entlarven, die er beobachtet.
So zeichnet Kisch, unmittelbar zu Beginn des Ersten Weltkrieges, das Bild einer Gesellschaft, in der die Liebesbeziehungen zu Geschäftsbeziehungen verkommen sind. Der Text bildet den Auftakt einer Zusammenstellung vergriffener Kisch-Reportagen, die nun in der Salto-Reihe des Wagenbach Verlags erschienen ist.
Aufschlussreich sind nicht nur die historischen Details, von denen Kisch in seinen Reportagen berichtet. Überraschender noch ist die Ähnlichkeit mit Symptomen unserer Tage, die man allenthalben in den Schilderungen von Kisch entdecken kann. Wenn er etwa über den Rausschmiss der Bohème, die wenig konsumiert und lange bleibt, aus dem legendären "Café des Westens" schreibt, dann kann man darin Züge von Gentrifizierung lesen. Und wenn Kisch berichtet, wie eine Hausangestellte im Auftrag ihrer Herrschaften Weihnachtsbaum, Weihnachtsbaumfuß und Weihnachtsbaumschmuck kauft – für Unsummen und nach Maß, dann scheint auch schon im Jahr 1922 der Konsum das einzige Ritual, das an Feiertagen begangen wird.
Zurechtgestutzt werden nicht nur die Weihnachtsbäume, sondern auch die Menschen selbst. So weiß Kisch, reichlich süffisant, über eine Klinik für Nasenkorrekturen zu erzählen, die den gut zahlenden Patienten nicht nur ein schöneres Gesicht, sondern gleich auch noch ein besseres Leben verspricht.
Natürlich fehlen auch die klassischen Sujets der Weimarer Republik in den Reportagen von Egon Erwin Kisch nicht: Er schreibt über das Berliner Sechstagerennen genauso wie über den Lunapark, den damals größten Vergnügungspark Europas, angesiedelt im West-Berliner Stadtteil Halensee.
In diesen Texten allerdings zeigt Kisch sich nicht so sehr als spitzfindiger Beobachter von Zeit und Gesellschaft. Vielmehr tritt er hier als miesepetriger Kulturkritiker auf den Plan, dessen Vorbehalte gegen alle Ausprägungen der Unterhaltungsindustrie wenig originell und zugleich reichlich moralinsauer sind.
Dem Publikum des Sechstagerennens wird unterstellt, dass es um der Zerstreuung willen seine kranken Verwandten allein zu Hause sterben lässt. Den Besuchern des Vergnügungsparks wird dazu gratuliert, dass sie sich in der Wildwasserbahn die Kleider ruinieren und in anderen Karussells vor Übelkeit den Magen entleeren. Aber gerade auch dort, wo der Autor sich selbst als – wenngleich kritisches – Kind seiner Zeit zeigt, liefert dieser Band ein ebenso erhellendes wie unterhaltsames Sittengemälde der Weimarer Republik.
Bedauerlich an diesem Band – wie immer in der Salto-Reihe schön gestaltet und in rotes Leinen gebunden – ist allenfalls seine spärliche Kommentierung. Der Leser muss sich mit einer knappen editorischen Notiz, ein paar Fußnoten und etwas zeitgenössischem Bildmaterial begnügen. Ein Nachwort sucht er vergebens.
So muss der Band für sich selbst sprechen. Er tut das, indem er seinen Bogen einmal durch die Weimarer Republik schlägt. Der Text, der den Abschluss des Bandes bildet und der nur in Auszügen abgedruckt ist, stammt aus dem Jahr 1933. Er erzählt von der Verhaftung Kischs nebst anderer linker Stimmen wie Carl von Ossietzky oder Ludwig Renn nach dem Reichstagsbrand.
Unser Zug stolpert über die Eisentreppe hinab, das Spalier von Nationalsozialistischer Hilfspolizei hat wohl nur die Aufgabe, unseren Weg zu flankieren, damit niemand entweicht, aber die nunmehr beamteten Braunhemden wollen ihren besonderen Schneid zeigen, uns so traktieren sie uns mit Fußtritten und höhnischem Zuruf: "Jetzt werdet ihr ja sehen, was mit euch geschieht, ihr rote Saubande. Jetzt kriegt ihr alle vor'n Dez geknallt..."
Na schön, jetzt wissen wir es also. Im Hof harrt unser ein Gefängnisauto. Das Abteil hat knapp für zehn Menschen Raum, nur fünf auf jeder Seite. Aber es müssen unserer zweiundzwanzig hinein, so daß wir aufeinandergepfercht, ineinandergepfercht sitzen und stehen, endlich hat man uns zu einem Konglomerat zusammengepreßt, da heißt es: noch sechs hinein. Sie winden sich in uns hinein wie Bohrer ins Gestein.
Trotz dieser bedrohlichen Lage bleibt der Ton von Kisch sachlich, mitunter wird er so salopp, dass den nachgeborene Leser Grauen überfällt angesichts der düsteren Vorzeichen auf die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten, deren Anfänge Kisch hier beschreibt.
Die Fahrt in dem überfüllten Gefängnisauto endet in Spandau. Mit dem Ende der Fahrt bricht auch der Text ab. Nicht aber das Wirken von Egon Erwin Kisch.
Kisch ist, anders als unzählige andere, den Nationalsozialisten entkommen. Er emigriert 1933 nach Paris, später nach Mexiko. Dass seine Reportagen aus den Berliner Jahren nun endlich wieder zu kaufen sind, kann man nur begrüßen.
Egon Erwin Kisch: "Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen."
Wagenbach-Verlag , Berlin 2013, 144 Seiten, 15,90 Euro.