Wenn in den vergangenen Monaten über das Thema Flucht gesprochen wurde, dann überwiegend mit Blick auf die Situation in der Ukraine. Die EU hatte beispielsweise extra die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert, damit ukrainische Flüchtlinge nicht das herkömmliche Asylverfahren durchlaufen müssen.
Allmählich aber gerät die sogenannte Balkanroute wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit, über die erneut zunehmend Migranten und Flüchtende aus Ländern wie Afghanistan, Syrien und afrikanischen Staaten, aber auch aus Indien oder Pakistan den Weg in die EU suchen.
Für Kritik sorgte indes Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die SPD-Politikerin hatte erklärt, Deutschland zwar für Geflüchtete aus der Ukraine offenzuhalten, die Zuwanderung von Asylbewerbern aber über die Balkanroute und das Mittelmeer begrenzen zu wollen. Eine Zweiklassengesellschaft von Geflüchteten dürfe es in Deutschland nicht geben, entgegnete die Bundesvorsitzende der SPD-Jugendorganisation Jusos, Jessica Rosenthal, im Deutschlandfunk.
Was ist die Balkanroute?
Was umgangssprachlich als die Balkanroute bezeichnet wird, sind tatsächlich verschiedene Strecken, die von Südost- nach Mitteleuropa führen. Hundertausende Menschen haben die Abschnitte in den vergangenen Jahren für Flucht und Migration genutzt.
Die zahlreichen Unter-Strecken weichen teilweise stark voneinander ab. Hauptsächlich wird aber zwischen einer westlichen und einer östliche Balkanroute unterschieden. Während der westliche Korridor über den inneren Balkan führt (von Griechenland über Nordmazedonien und Serbien), verläuft die östliche Route von der Türkei über Bulgarien und Rumänien bis aufwärts nach Serbien und Montenegro.
Welche Rolle spielte die Balkanroute in der Vergangenheit?
Vor allem die starken Flucht- und Migrationsbewegungen der Jahre 2015 und 2016 haben den Transitstrecken über die Balkanhalbinsel den umgangssprachlichen Begriff „Balkanroute“ eingebracht. Nachdem bis Oktober 2015 nahezu 700.000 Menschen verschiedene Streckenabschnitte zwischen Griechenland und Mitteleuropa für die Flucht genutzt hatten, begannen im Frühjahr 2016 einige angrenzende Staaten damit, die sogenannte Balkanroute weniger durchlässig zu machen. Fotos von Stacheldrahtzäunen an der ungarisch-serbischen und der ungarisch-kroatischen Grenze stehen heute sinnbildlich für jene Abriegelung.
Anschließend nutzten Migranten und Flüchtende unter anderem eine neue, weiter westlich gelegene Balkanroute, um in die EU zu gelangen – oftmals über Albanien, Montenegro und Bosnien bis nach Kroation.
Wie ist heute die Situation auf der Balkanroute?
Vor allem 2020 waren die Fluchtbewegungen über die Balkanroute stark zurückgegangen. Die aufkommende Corona-Pandemie und daraus resultierende geschlossene Grenzen gelten als Hauptursache. Nun wird dieser coronabedingte Rückstau allerdings nach und nach abgebaut und die Zahl der Flüchtenden über den Korridor steigt wieder.
Um wie viele Flüchtende es sich dort mittlerweile genau handelt, ist nicht einfach zu bestimmen. Denn oft werden Menschen auf ihren Reisen mehrfach aufgegriffen und gehen so in die Statistiken mehrerer Länder ein. Laut der Internationalen Organisation für Migration der UN (IOM) wurden bis Ende August 2022 im gesamten Westbalkan knapp 100.000 Flüchtlinge registriert. Extrem große Flüchtlingstrecks wie im Jahr 2015 sind also nicht unterwegs.
Mit Blick auf die Herkunft jener Menschen, die aktuell die Balkanroute nutzen, sagte die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im Deutschlandfunk: „Wir haben es hier mit einer klassischen gemischten Migration zu tun. Unter den jetzt ankommenden Menschen sind einerseits noch immer Personen aus klassischen Fluchtländern wie Syrien und Afghanistan, wo ja weiterhin repressive Regime herrschen und die Menschen auch im Rahmen eines Asylverfahrens sehr häufig einen Fluchtgrund vorweisen können und Asyl erhalten.“
Zusätzlich seien unter den jetzt Ankommenden auch Personen aus Indien, Tunesien, Marokko oder Pakistan. Das sind Personen, die in vielen Fällen keinen Asylgrund haben und tatsächlich meistens gar kein Asyl beantragen wollen. „Sondern es handelt sich im Grunde um Arbeitsmigranten, die vor allem auf dem Weg nach Westeuropa sind, wo sie unter anderem in der Erntehilfe unterkommen, so Kohlenberger.
Vielen Geflüchteten, die derzeit die Balkanroute nutzen, fehle es einfach an legalen Einreisemöglichkeiten – worin ein wesentlicher Unterschied zu Migrantinnen und Migranten aus der Ukraine liege, betonte Kohlenberger. „Ukrainerinnen und Ukrainer konnten bereits vor Ausbruch des Krieges visafrei in die EU einreisen, das heißt, sie hatten immer legale Migrations- und Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung.“
Welchen Einfluss hat Serbien auf die Situation entlang der Balkanroute?
Aus Sicht der EU ist Serbien Teil des Problems. Denn Serbien hat Reiseabkommen mit mehreren Staaten, die den Bürgerinnen und Bürgern visumsfreie Einreisen erlauben. Das merkt momentan unter anderem Österreich: Rund ein Viertel der dortigen Asylanträge werden derzeit von Menschen aus Indien und Tunesien gestellt – Länder, mit denen Serbien eben jene Visa-Abkommen hat. Allerdings bleiben die Anträge überwiegend ohne reale Aussicht auf Erfolg.
Seit 2017 können Personen mit indischer Staatsbürgerschaft visafrei in Serbien einreisen – zum Beispiel ganz regulär mit dem Linienflugzeug. Dort angekommen, endet für sie meistens aber der legale Weg. Anschließend gehe es in der Regel über die sogenannte grüne Grenze weiter, erläutert Migrationsforscherin Kohlenberger – nicht selten mithilfe von Schleppern über die Balkanroute nach Ungarn oder Österreich. „Im Grunde kann man Serbiens Visapolitik als nationalistisch geprägt beschreiben", sagt Kohlenberger, "weil sie jene Länder belohnt, die den Kosovo nicht anerkennen – und dazu zählt Indien.“
Mittlerweile hat Serbien nach Druck aus der EU und Österreich seine Visa-Regeln jedoch verschärft. Die Visafreiheit für Tunesien, Burundi und die Zentralafrikanische Republik wurde aufgehoben. Serbien möchte so seine EU-Beitrittsperspektive nicht aufs Spiel setzen. Und ab 2023 sollen auch Menschen aus Indien nicht mehr ohne Visum in Serbien per Flugzeug einreisen.
Wie ist die Flüchtlingssituation in Deutschland?
In Deutschland wurden im noch laufenden Jahr 2022 laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bisher rund 155.000 Anträge auf Asyl gestellt, und damit weit weniger als in den Jahren 2015 und 2016. Damals waren es mehr als drei- bis viermal so viele. Die Situation heute ist also mit der von 2015 nicht vergleichbar, betont auch der Migrationsforscher Gerald Knaus, Gründer der Denkfabrik "European Stability Initiative":
"2015 hatten wir in zwölf Monaten eine Million Menschen, die irregulär aus der Türkei mit Booten nach Griechenland auf die Inseln kamen und dann über Südosteuropa Richtung Deutschland. 2022 sind zehn von elf Flüchtlingen, die in Deutschland aufgenommen wurden, regulär in die Europäische Union eingereist: aus der Ukraine. Ohne Schlepper."
Wie der Wissenschaftler ausführt, verblasst also die Anzahl der irregulären Einreisen über die Balkanroute im Vergleich zu den großen Herausforderungen, dass mit einer sich möglicherweise verschlechternden Lage in der Ukraine wieder mehr Menschen von dort Richtung Europa flüchten könnten.
Quellen: Silke Hahne, Ann-Kathrin Jeske, IOM, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dpa, jma