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Situation in der Türkei
"Die türkische Bevölkerung verzweifelt immer mehr"

Die stark politisierte Justiz biete traditionell keinen Schutz in der Türkei, sagte Gerald Knaus, Präsident der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, im Deutschlandfunk. Eine Reform des Anti-Terrorgesetzes, wie von der EU gefordert, würde daran nichts ändern - und die Aussetzung der Visa-Freiheit träfe ohnehin die Falschen.

Gerald Knaus im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während einer Rede im Präsidentenpalast in Ankara am 4.5.2016.
    Auch Oppositionsparteien stimmten der von Präsident Erdogan forcierten Aufhebung der Abgeordnetenimmunität in der Türkei zu. (afp / Adem Altan)
    Jochen Spengler: Ist die Türkei noch eine Demokratie oder schon eine Diktatur? Darüber kann man trefflich streiten, doch die Richtung, in die Präsident Erdogan sein Land führt, erscheint eindeutig, nachdem auf sein Betreiben hin gestern das Parlament mehrheitlich die Immunität von etwa einem Viertel der Abgeordneten aufgehoben hat. Die Besorgnis in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik mit ihren engen Bindungen an die Türkei ist groß. Die Kritik an der Entwicklung im Land am Bosporus wird lauter.
    Am Telefon begrüße ich nun Gerald Knaus, Türkei-Kenner und Präsident der Europäischen Stabilitätsinitiative, eine Denkfabrik, die vor einigen Monaten die Blaupause für das Türkei-EU-Flüchtlingsabkommen entwickelt hat. Guten Tag, Herr Knaus!
    Gerald Knaus: Guten Tag!
    Spengler: Herr Knaus, schon seit geraumer Zeit wird in der Türkei die Unabhängigkeit der Medien mit Füßen getreten, die Gerichte sind fast schon gleichgeschaltet, es wird ein Bürgerkrieg gegen die Kurden geführt, der Regierungschef wird ausgetauscht und seit gestern können auch noch jene Parlamentarier ausgeschaltet werden, die Erdogans Plänen für ein Präsidialsystem im Wege stehen. Es gibt nun viele Wege von einer Demokratie zur Diktatur, es gibt Putsch, Staatsstreich, Parlamentsentmachtung und so weiter. Was fehlt eigentlich noch, damit man die Türkei als eine Diktatur bezeichnen muss?
    Knaus: Na ja, die Türkei ist heute am besten zu beschreiben als ein nationaler Sicherheitsstaat mit demokratischen Wahlen. Das heißt, wir haben Wahlen und man darf nicht vergessen, noch im Sommer 2015 hatten die Anti-AKP-Kräfte im Parlament eine Mehrheit. Aber wir haben gleichzeitig Strukturen, Institutionen, Gesetze, eine Justiz, die auf einem sehr weiten Begriff von nationaler Sicherheit aufbauen, ein Antiterrorgesetz von 1991, das ist ja nichts Neues, und eine Verfassung von den 80er-Jahren, die sagt: Es gibt keinen Schutz für Aktivitäten gegen das türkische nationale Interesse. Und wir haben eine politisierte Justiz, auch das seit vielen Jahrzehnten, aber die in den letzten Jahren immer mehr, immer wieder und erneut eingesetzt wird gegen kritische Fragensteller. Ob das jetzt Medien sind oder Zivilgesellschaft oder Akademiker. Das ist ein Erbe der letzten Jahrzehnte, das ist nichts Neues, das hat Herr Erdogan nicht erfunden. Aber er benutzt es jetzt. Und das wirklich Fatale – haben wir gestern bei der Abstimmung über die Immunität gesehen – ist, er geht diesen Weg nicht alleine, sondern die Oppositionsparteien im türkischen Parlament machen da mit. Die AKP hat 317 Sitze, aber für die Aufhebung der Immunität haben gestern 376 – und das war essenziell, sonst hätte es nicht geklappt – Abgeordnete gestimmt. Also, auch die Oppositionsparteien haben diesen nationalen Sicherheitsstaat und sein Antiterrorgesetz und die Aufhebung der Immunität in dieser Phase legitimiert.
    Spengler: Ja. Aber das ist ja umso schlimmer, wenn das Parlament quasi die eigene Selbstentmachtung mitbetreibt. Ist es übertrieben, wenn man befürchtet, dass die gestrige Immunitätsaufhebung so etwas wie Erdogans Ermächtigungsgesetz sein könnte?
    Knaus: Nein, denn da gibt es noch viele Schritte hin. Man wird sehen, es gibt jetzt einen Machtkampf in einer dieser Oppositionsparteien über genau diese Frage. Da sieht man auch wiederum die Versuche des Staates, das zu beeinflussen von außen. Das ist natürlich vollkommen illegitim, aber in der nationalistischen MHP, der drittgrößten Partei, versucht jetzt eine ehemalige Innenministerin, den Parteichef zu stürzen, mit dem Argument, dass er zu devot, zu schwach ist gegenüber Erdogan. Also, es gibt in der Türkei noch Diskussionen, aber tatsächlich ist es so, dass die breite Bevölkerung – und das sehen die politischen Parteien – vor dem Eindruck der Kriege im Irak und in Syrien und dem Wiederaufflammen der Kämpfe in Südost-Anatolien und dem Terrorismus des Islamischen Staates und der PKK bereit ist oder auch Druck ausübt, auch auf die Oppositionsparteien – und das wird von der AKP ausgenutzt –, eine harte Linie und diese Antiterrorgesetze, diese harte Anwendung zu unterstützen. Und das ist für die Demokratie immer eine Gefahr. Und in der Türkei, wo die Justiz traditionell politisiert ist, traditionell keinen Schutz bietet, ist es extrem gefährlich, weil niemand im Land sich sicher sein kann, dass er nicht innerhalb kürzester Zeit angeklagt wird, vor Gericht steht, in Untersuchungshaft kommt.
    Spengler: Würden Sie denn noch sagen, das ist eine Demokratie?
    Knaus: Selbst Parteichefs, die lauter Wahlen verlieren, werden nicht ersetzt
    Knaus: Das wirkliche Problem ist, dass bei Wahlen die Türken immer noch frei wählen können, aber dass die Parteien derart autoritär strukturiert sind – und das macht es sehr leicht, die Zentralisierung der Macht, wie Erdogan sie betreibt, voranzutreiben –, dass selbst Parteichefs, die lauter Wahlen verlieren bei den Oppositionsparteien nicht ersetzt werden. Das heißt, die türkische Bevölkerung verzweifelt immer mehr. Man hat ... Wen würde man jetzt, wenn man gegen die Aufhebung der Immunität ist, für wen würde man jetzt als türkischer Wähler in Zentral-Anatolien stimmen? Wenn alle dafür sind? Das heißt, wir haben eine Situation, wo das Ausschalten der freien Debatte in den Medien, aber eben auch die fast schon ... ja, die hysterische Stimmung natürlich auf einem Hintergrund von ständigen Terrorangriffen und Anschlägen und ständigen Nachrichten von toten Sicherheitskräften dazu führt, dass die Bevölkerung diesen Kurs mitträgt, obwohl eigentlich klar sein müsste, wohin dieser Kurs führt. Denn in den 90er-Jahren ist genau das schon einmal versucht worden, da hat man auch kurdische gewählte Vertreter aus dem Parlament gedrängt. Und das hat zu einem für die Türkei unglaublich teuren und für die Menschen schrecklichen Jahrzehnt geführt mit den Kämpfen in Südost-Anatolien, mit Vertreibungen, mit Gewalt. Diesen Weg müssten eigentlich die Türken schon einmal gesehen haben und davor zurückschrecken. Aber derzeit wird dieser Kurs noch geteilt und da stellt sich jetzt die Frage für die Europäische Union: Wie reagiert sie darauf?
    Spengler: Die wollte ich eigentlich stellen, die Frage!
    Knaus: Ja, das ist die logische nächste Frage! Wie reagiert man jetzt darauf? Ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel, wie man falsch reagieren kann. Und das ist jetzt leider sehr beliebt: Eine Möglichkeit wäre zu sagen, wir brechen jetzt die Beziehungen ab, wir wollen mit dieser Türkei nichts zu tun haben.
    Spengler: Das würden Sie nicht raten?
    Knaus: Das ist eine Illusion, wir werden natürlich mit der Türkei weiterhin zu tun haben, weil wir auch Interessen haben. Aber die Frage beispielsweise der Visa-Liberalisierung: Man sagt jetzt, wir wollen jetzt, dass die Türkei ihr Antiterrorgesetz ändert oder die Definition des Antiterrorgesetzes, die Definition von Terrorismus ändert. Aber jeder Mensch, der das türkische System kennt, der in diesen Gerichten mal war, der mit Angeklagten gesprochen hat in den Gefängnissen, die unschuldig angeklagt wurden, weiß: Selbst mit dem Schweizer Antiterrorgesetz würde die politische Justiz in der Türkei weiter so funktionieren wie jetzt. Denn es liegt natürlich an den Richtern und Staatsanwälten, was sie aus den Gesetzen machen wollen, wie sie sie interpretieren.
    Spengler: Ja, aber dann müsste es dem türkischen Staat doch leicht fallen, diese Gesetze zu ändern, wenn sich in der Praxis nichts ändert ...
    Knaus: Erdogan braucht Festhalten an Anti-Terrorgesetz als Symbol
    Knaus: Nein, weil, für den Premierminister und auch für Davutoglu, aber jetzt vor allem für Erdogan ist es ein Symbol, das er benötigt. Weil er sagt: Alle Kritik in der EU beruht auf Unverständnis unserer schwierigen Lage. Dass die EU uns jetzt kritisiert wegen des Antiterrorgesetzes, während ständig Bomben losgehen, zeigt nur – und somit will er auch die legitime Kritik aushebeln, Kritik, von der er weiß, dass sie kommen wird an dem, was er macht –, zeigt nur, dass die EU nicht versteht, was hier los ist! Jetzt reagiert die EU darauf mit der Idee, man verweigert der einfachen türkischen Bevölkerung das Visa-freie Reisen ...
    Spengler: Moment, Herr Knaus, jetzt muss ich kurz unterbrechen: Es war doch vorher klar, dass es zu diesen Visa-Erleichterungen nur kommen wird, wenn die Türkei die ich glaube 72 Bedingungen erfüllt. Das war doch vorher klar?
    Knaus: Ich kann Ihnen zitieren, was die EU-Kommissarin Malmström 2013 gesagt hat, als sie diese Roadmap überreicht hat. Da sagte sie dem damaligen türkischen Premierminister: Offensichtlich ist es so, dass ich nicht sage, dass die Türkei diese 72 Bedingungen bestätigen soll oder zustimmen soll. Das ist ein Dialog, wo beide Seiten etwas wollen. Das war Frau Malmström damals. Weil, die EU ja wollte diese Gespräche über die Visa-Liberalisierung, weil die Türkei gesagt hat, davon macht sie abhängig die Rücknahme von Flüchtlingen. Diese Diskussion läuft nämlich seit 2002, die Verhandlungen, das ist nichts Neues. Und die Türkei hat seit zehn Jahren diese beiden Themen immer verknüpft.
    Spengler: Also, das heißt, wenn die EU jetzt nicht auf ihren 72 Bedingungen bestehen würde, das wäre dann kein Kotau vor Erdogan?
    Knaus: Das wäre kein Kotau, vor allem wenn man bedenkt, dass 2,2 Millionen Türken derzeit Visa-frei reisen, mit sogenannten grünen Pässen, die der türkische Staat an alle staatlichen Mitarbeiter und ihre Familien vergeben kann. Das heißt, wir würden jetzt eine Politik machen, die sagt: Die einfachen Leute, auch die Journalisten, auch die Studenten, auch die Geschäftsleute, die Verwandte in Deutschland haben, die sollen jetzt nicht Visa-frei reisen, während Staatsanwälte, die Parlamentarier, die Polizisten, alle, die für den Staat arbeiten, und jeder, dem Herr Erdogan oder sein Innenministerium einen grünen Pass gibt, die dürfen weiterhin Visa-frei reisen. Und das soll ...
    Spengler: Herr Knaus, verstehe ich Sie richtig, dass Sie das Abkommen, wo Sie ja sozusagen auch die Blaupause für entwickelt haben, obwohl die Türkei dann, als Sie die Blaupause entwickelt haben, noch ein anderer Staat war, noch ein liberalerer Staat als derzeit, dass dieses Abkommen um jeden Preis gerettet werden muss, obwohl es ja inzwischen auch massive Kritik daran gibt? Wir haben es eben im Bericht gehört, der "Spiegel" meldet heute, dass zum Beispiel die Türkei hoch qualifizierte Syrer wie Ärzte, Ingenieure, eben nicht mehr in die EU ausreisen lässt, sondern nur noch Härtefälle. Das entspricht doch nicht dem Geist dieses Abkommens?
    Knaus: Abkommen wurde bisher von der EU nicht umgesetzt
    Knaus: Nein, das wirkliche Problem ist, dass dieses Abkommen bis jetzt auch von der EU nicht umgesetzt wurde. Wir reden davon, dass in den letzten zwei Monaten 177 Leute aus der Türkei umgesiedelt wurden. Wir haben im ganzen Herbst davon gesprochen, dass man der Türkei eine Last abnehmen soll – damals sprachen niederländische Politiker von 150.000 Flüchtlingen, die Türkei hat über zweieinhalb Millionen, Deutschland sprach ebenfalls davon, dass man ein paar Hunderttausend Flüchtlinge im geregelten Verfahren übernehmen würde, wenn die Türkei hilft, die Grenze zu kontrollieren. Jetzt streiten wir über 177 in zwei Monaten für die gesamte EU! Das heißt, ob da jetzt unter den 177 fünf oder zehn oder 20 Akademiker sind, das ist eine Scheindebatte. Die wirkliche Frage ist: Steht die Europäische Union zu der Grundidee des Abkommens, dass man verhindern will, dass Flüchtlinge in der Ägäis ertrinken oder Schlepper bezahlen, aber wenn das verhindert wird, dass man dann in größerem Ausmaß in einem geregelten Verfahren syrische Flüchtlinge übernimmt?
    Spengler: Letzte Frage, Herr Knaus: Was raten Sie der Bundeskanzlerin, die morgen in die Türkei aufbricht, möglicherweise am Montag Herrn Erdogan trifft, was raten Sie ihr, wie soll sie sich dort verhalten?
    Knaus: Also, es ist eine sehr schwierige Situation, aber ich glaube, dass sie einerseits klarmachen muss – und das kann sie als Regierungschefin eines wichtigen Landes –, dass die Türkei nun doch respektieren muss, dass sie klarmacht – was Herr Erdogan vielleicht von seinen Beratern nicht hört –, wie katastrophal sich diese derzeitigen Entwicklungen entwickeln in der Türkei auf das Image des Landes, auf die Unterstützung, für jegliche Politik der Kooperation mit der Türkei auswirkt, dass das alles vitale strategische Interessen der Türkei auch infrage stellt, dass man weiterhin mit der Türkei zusammenarbeiten wird. Dass es allerdings immer schwieriger wird und dass die Türkei, wenn das so weitergeht, in Kürze vor einer Situation sein könnte, wo sich in der EU ein anti-türkischer Kurs formiert, der von Liberalen, denen es um die Menschenrechte geht, bis zu den Rechten, die gegen den Islam und gegen die Türken sind, getragen wird und der die Türkei isoliert auf eine Art, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht isoliert war. Also, diese Gefahr, auf die muss sie hinweisen. Aber ich finde, sie müsste gleichzeitig auch zeigen, dass Deutschland weiterhin ein Interesse hat an einer fairen Umsetzung des Abkommens. Denn einen Plan B gibt es derzeit nicht. Ohne Hilfe der Türkei würden die Leute wieder in großer Anzahl nach Griechenland kommen und man hätte dann in der EU die gleichen Gefahren des Kontrollverlusts an den Grenzen, mit Flüchtlingen, die im Meer ertrinken, und mit den Spannungen in ganz Südosteuropa in einer strategisch wichtigen Region des Balkans, wie vor wenigen Monaten.
    Spengler: Danke schön! Das waren die Einschätzungen von Gerald Knaus, Präsident der Europäischen Stabilitätsinitiative. Danke für Ihre Zeit heute Mittag!
    Knaus: Viele Grüße an Sie!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.