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Sjón: "CoDex 1962"
Der Romanberserker

Sjón wurde als bislang einziger nordischer Schriftsteller für den Oscar nominiert – 2001 für die Liedtexte in Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“ mit der Sängerin Björk. Zu seinem Großroman „CoDex 1962“ sagt er lapidar: „Let the reader do the work“ - lass den Leser/die Leserin die Arbeit machen.

Von Katrin Hillgruber |
Dunkler Hintergrund; Buchcover im Vordergrund
Sjóns Buch der Wunder: "CoDex 1962" (S. Fischer Verlage)
Das Leben als isländischer Genforscher scheint ein recht angenehmes zu sein. Jedenfalls gilt das für Hrólfur Zóphanías Magnússon, den Geschäftsführer des fiktiven Biotechnologie-Konzerns CoDex in Sjóns Roman "CoDex 1962". Magnússon, Sohn eines landesweit bekannten Kommunisten, versuchte sich einst mit mäßigem Erfolg im sogenannten Club der heimlichen Dichter, bis er sich der Biotechnologie zuwandte. Inzwischen genießt Magnússon seinen edlen Whiskey, Geschenk eines globalen Pharmariesen, mit Blick auf die einmaligen nordischen Naturschönheiten, und spricht seine Memoiren auf Mikrokassetten. Außerdem liebt er die Frauen: Seine erste Gemahlin hieß Anna, gefolgt von Brýndis und der Fitnesstrainerin Cara mit C. Jetzt ist er beim Buchstaben D wie Dora angelangt.
"Und schließlich war da Halldóra Oktavía Thorsteinson, Professorin für Volkswirtschaft, die von allen Dóra genannt wurde und die er aus purer wissenschaftlicher Neugier geheiratet hatte. Irgend etwas stimmte nicht mit dieser alphabetischen Aufstellung. Aber was sollte er auch machen? Sollte er ab jetzt Frauen aus dem Weg gehen, die Eirún oder Engilrá hießen, Efemía oder Emma, Einarína oder Elísabet?"
"Lieber ohne Schuh als ohne Buch", lautet ein Wahlspruch der knapp 360.000 literaturliebenden Isländerinnen und Isländer. Nichts Geringeres als das "Buch der Isländer" trägt seit 1997 die biotechnologische Firma deCODE Genetics zusammen. Nach eigenen Angaben hat das Unternehmen Daten von 95 Prozent der Inselbevölkerung aus den letzten 300 Jahren erfasst, einzelne Informationen reichen sogar 1200 Jahre zurück, bis zu den Vikingern. Hinzu kommen Daten aus Volkszählungen, Kirchenbüchern und Familienchroniken. Einzig und allein das Humangenom der relativ isolierten isländischen Bevölkerung ist derart umfassend codifiziert. Das stieß vor allem bei den Nationalisten im Parlament, dem Althing, auf Beifall und wurde von Skandalen wie dem illegalen Zugriff auf Krankenakten begleitet.
"Die angeblich reine, unvermischte Erbmasse der Isländer sollte in der internationalen Forschung eingesetzt werden, um die Erdenbürger von ihren Krankheiten zu erlösen, von Krebs bis Keuchhusten; das Konzept passte jedoch in erster Linie gierigen Nationalisten in den Kram, zumal, nachdem bekannt wurde, dass das Projekt von ausländischen Pharmariesen finanziert worden war."
Drei Brüder in Einem
Inzwischen scheinen sich die Wogen wieder geglättet zu haben. Es gibt sogar eine App für Flirtwillige: Zu Beginn eines Rendezvous scannt "Islendinga" die Daten des Gegenübers und soll auf diese Weise einem Inzest vorbeugen.
Die Totalität dieses Unterfangens einer kompletten genetischen Kodifizierung spiegelt, ironisiert und konterkariert Sjón nach bester postmoderner Manier mit seinem gewaltigen, ebenfalls nach Totalität strebenden Roman "CoDex 1962". Konsequenterweise handelt es sich bei der vierten Frau seines Genforschers Magnússon um einen genetischen Superlativ.
" - Dóra ist das, was wir Mediziner eine Chimäre nennen, nach einem grotesken Mischwesen in der griechischen Mythologie. Ihr Erbgut stammt von fünf verschiedenen Individuen, ihrer Mutter und vier Vätern. Auf den ersten Blick fällt das nicht auf, doch, um nur zwei Beispiele zu nennen, sie hat zwei unterschiedliche Blutgruppen, ist auf der linken Seite rothaarig und blond auf der rechten. Das erste Kind des Jahres neunzehnhundertzweiundsechzig …"
Ihre Ehe sollte nicht länger kinderlos bleiben. Zu diesem Zweck hatte sich Dóras Mutter, eine mondäne Erscheinung, in der stürmischen Nacht des 1. April 1961 gleich vier fremden Männern hingegeben, vom Taxifahrer bis zum Kapitän. Dóra, die spätere Direktorin der isländischen Nationalbank, kam am 1. Januar 1962 auf die Welt, ihr Schöpfer Sjón am 27. August 1962, und zwar als Sigurjón B. Sigurdsson. Sein Geburtsdatum verleiht er auch Jósef Löwe, dem Erzähler des Romans. Einmal begegnen sich die beiden Gleichaltrigen, und so hat der Autor einen Cameo-Auftritt nach dem Vorbild von Alfred Hitchcock.
"Es war im Winter neunzehnhundertachtzig/einundachtzig. Zu dieser Zeit hatte er den Punkt in seinem Künstlernamen noch nicht gestrichen und unterschrieb nach wie vor mit ›S.jón‹, was die meisten natürlich ›Ess-jón‹ aussprachen. […] Eines Morgens […] sprach ich den jungen Dichter an, der mit dem Rücken zu mir saß und Kaffee aus einem Plastikbecher trank: – Ich weiß, wer du bist. Du bist Ess-jón.
Er schaute über die Schulter und sah mich an, als wolle er etwas Schnippisches erwidern: » ›Sjón‹ spricht man das aus, so wie in ›Vision‹.«
Aber als ihm klar wurde, dass es dieser Junge im Rollstuhl war, der ihn da angesprochen hatte, wurde sein Gesichtsausdruck freundlicher und er antwortete: – Das kann gut sein. Und wer bist du?
Jeder wusste, dass Sjón zu den Surrealisten zählte […]. Also sagte ich einfach:
– Ich bin ein Riesenrad, ich bin ein Schneckenhaus, ich bin eine schlafende Tür.
Er lachte. Es klingelte. Unsere Begegnung war bis auf Weiteres zu Ende. Ein Jahr später verarbeitete Sjón meine Antwort in einem Gedicht, das den Titel Papier trug, wahrscheinlich hatte er vergessen, dass ihm diese Zeile nicht selbst eingefallen war. Ich hatte Spuren hinterlassen."
Jósef Löwes Gespräch mit einer Frau, deren Identität erst spät enthüllt wird, verleiht dem Triptychon bei aller mächtig ins Kraut schießenden Phantasie so etwas wie einen Rahmen und eine Struktur. Denn "CoDex 1962", im Original 1994, 2001 und 2016 erschienen, besteht aus insgesamt drei Büchern: Zunächst aus der im Zweiten Weltkrieg in Norddeutschland angesiedelten Liebesgeschichte "Deine Augen sahen mich". Sie findet als Kriminalgeschichte namens "Islands tausend Jahr‘" ab 1944 ihre skandinavische Fortsetzung. Der dritte Teil schließlich führt in Form eines Science-Fiction-Romans mit dem Titel "Ich bin eine schlafende Tür" in die Gegenwart.
" - Dreizehn…"
Die Stimme des Genforschers ertönt blechern aus dem kleinen Lautsprecher des Diktaphons, bis eine elegant gepflegte Frauenhand nach dem Gerät greift, es vom Couchtisch in Jósef Löwes Wohnzimmer nimmt und mit langem, blau lackierten Fingernagel die Wiedergabe ausschaltet: Die Kassette beginnt zu stocken; die Stimme verschluckt sich bei den letzten Silben: – …taaa-u-snnD."
Jeder habe ein Recht darauf, seine Geschichte zu Ende zu erzählen, ist Jósef überzeugt. Und im Grunde antwortet er, der Sohn des Prager Juden Leo Löwe, mit den 640 Seiten dieses Romans nur auf die ersten vier Standardfragen des CoDex-Erhebungsbogens:
" a) Name
b) Geburtsdatum und Jahr
c) Geburtsort
d) Eltern (Herkunft / Ausbildung / Beruf)"
Die Frage nach der Herkunft, die sich in letzter Zeit zum Politikum entwickelt hat, bedeutet für Sjón den Erzählanlass schlechthin, den Urgrund aller Literatur. In diesem Punkt erinnert er an so bedeutende Werke wie Günter Grass‘ "Die Blechtrommel" oder "Die Zimtläden" von Bruno Schulz. In einem Interview auf Youtube spricht Sjón von "CoDex 1962" als einem wahren Roman, weil er versuche, alles von einem Individuum zu erzählen. Jósef Löwe will sich seiner eigenen Existenz auf Erden bewusst werden und nutzt dafür alle literarischen Tricks und Formen vom Gedicht über das Miniaturdrama bis zur Anrufung der Engel, denen menschliche Regungen und Sehnsüchte angedichtet werden – etwa dem leicht desorientierten Erzengel Gabriel.
"Es war Nacht. Gabriel stand mit weit gespreizten Beinen über Europa, sein gelenkiger Körper in einer grotesken Stellung erstarrt: Sein rechter Fuß ruhte auf dem grönländischen Islandeis und der linke im persischen Hochland. Er presste sein Gewand krampfhaft über seinem Schoß an den Körper, wobei sich die Posaune obszön unter dem Stoff abzeichnete, sein silberhelles Haupt fiel nach hinten in den tiefschwarzen Weltraum, und sein Mund war verkniffen wie der einer alten Jungfer. Das einzige Lebendige waren seine Augen, die traumverwirrt unter den Lidern zitterten."
Auf dem Weg zum totalen Roman
Passend zum Totalitäts-Anspruch des Romans setzt dessen erster Teil, die Liebesgeschichte "Deine Augen sahen mich", mit einem spektakulär düsteren, geradezu surrealen Deutschland-Tableau ein. Ausdrücke wie "Kükenstadt", "Gasthof Vrieslander" oder "Fräulein Knopfloch" sind grau gedruckt, da sie auch im isländischen Original auf Deutsch stehen – wahrscheinlich reizte Sjón die Verwandtschaft der germanischen Sprachen Ohnehin kann die Leistung der Übersetzerin Betty Wahl nicht genug gelobt werden. Die Isländisch-Dozentin an der Frankfurter Goethe-Universität hat bereits Gedichte von Sjón wie den Band "Bewegliche Berge" ins Deutsche übertragen, in diesem Fall zusammen mit Tina Flecken. Hinzu kommen mehrere seiner kürzeren Romane wie den mit dem Isländischen Literaturpreis prämierten "Der Junge, den es nicht gab". Diese Erfahrung mag ihr dabei geholfen haben, auch die aberwitzigsten Volten und allerisländischsten Anspielungen von Sjóns Chef d’Œuvre in ein spielerisch leichtes, wendiges und leuchtend schönes Deutsch gebracht zu haben. Nur bleibt unklar, was mit dem wiederholt auftretenden "Schwimmbadwärter" gemeint ist – ein schlichter Bademeister?
Die Eingangsszenerie in dem fiktiven norddeutschen Marktflecken Kükenstadt erinnert an Lars von Triers "Europa"-Trilogie, an deren dunkel raunende, alptraumhafte Szenen aus dem verwüsteten Nachkriegsdeutschland, in denen es von Nachtzügen, orientierungslosen Uniformierten sowie Werwölfen nur so wimmelt. Bei Sjón treiben ebenfalls Werwölfe ihr Unwesen. Bei Bedarf verwandeln sie sich in stehlende und mordende isländische Zwillinge, die eine bürgerliche Existenz als Briefmarkensammler führen. Doch zurück nach Kükenstadt: Mitten im Zweiten Weltkrieg, von dem noch nicht allzuviel zu spüren ist, taucht im Gasthof Vrieslander, einem ehemaligen Bordell, ein erschöpfter, zerlumpter Mann auf. Ein Dienstmädchen wird dazu abgestellt, sich rund um die Uhr um den Fremden zu kümmern.
Besuch bei Rabbi Löw
"Das Mädchen Marie-Sophie blieb zurück: In Zimmer dreiundzwanzig. Im ersten Stock des Gasthofs Vrieslander. In der Kleinstadt Kükenstadt. Am Ufer der Elbe. In Niedersachsen. Allein mit einem kaum bekleideten Mann. Noch vor einer Stunde hatte sie ihn mit dem Nudelholz zu Boden schlagen wollen, nun sollte sie ihn gesundpflegen: In der Welt tobte Krieg."
Recht behäbig und mit Märchen-Anklängen à la Hans Christian Andersen schildert Jósef, wie seine angeblichen Eltern sich damals in Deutschland kennenlernten und er quasi gezeugt wurde. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Bettgeschichte, wie der Schauplatz vermuten lässt, sondern vielmehr um eine Koffergeschichte: Leo Löwe ist offenbar einem NS-Vernichtungslager entkommen, dessen Insassen durch Hunger, Schläge und die gestreifte Häftlingskleidung in sogenannte Zebra-Menschen verwandelt wurden. Trotzdem hat er es geschafft, eine Hutschachtel hinauszuschmuggeln. Deren Inhalt: ein Lehmbatzen, der feucht gehalten werden muss. Damit zitiert der Autor die Legende aus dem 18. Jahrhundert vom Prager Rabbi Löw, der aus einer formlosen Masse mit Hilfe eines magischen Sprachrituals einen Menschen erschuf. In Löws Nachfolge machen sich der Flüchtling und das Zimmermädchen ans Töpfern.
"Ach ja, richtig! Das Augenlicht fehlt ja noch. […] Löwe griff nach dem Etui und entnahm ihm zwei braune Augen sowie zwei winzige Ausschnitte aus einer Filmrolle – der eine zeigte Adolf Hitler am Rednerpult, auf dem anderen saß ebendieser am Tisch und wischte sich einen Soßenfleck von der Krawatte – , diese Filmschnipsel legte er jeweils auf den Grund der beiden Augenhöhlen, setzte die Augen von oben hinein und verrieb sie an den Rändern mit Lehm, den er unter seinen Fingernägeln hervorkratzte. Das Werk war vollendet. Marie-Sophie und Löwe sahen einander in die Augen, tauschten ihre Körper und betrachteten die Frucht ihrer Arbeit […]. Und das Ergebnis gefiel ihnen unbeschreiblich gut. Jetzt blieb ihnen nur noch, den kleinen Lehmkörper zum Leben zu erwecken."
In diesem rätselhaft absurden Schöpfungsakt offenbart sich eine gewisse Faszination für die Ästhetik des Nationalsozialismus als technisch avancierter Diktatur. Selbst in den Träumen der Kükenstädter haben die Ikonen des angeblich tausendjährigen Reiches Einzug gehalten. So träumt die 16-jährige Schülerin Hannah P.:
"Ich sitze auf der Rückbank eines Autos bei rasendem Tempo. Am Steuer sitzt ein schwarz gekleideter Mann und daneben Zarah Leander. Sie scheint sich einen Schal aus rotem Samt um den Hals gelegt zu haben. Der Mann lehnt sich zu ihr hinüber, und als er sagt: »Jetzt bremse ich!«, wird mir unerträglich heiß in diesem Wagen. Ihr Kopf löst sich von ihrem Körper und fällt in meinen Schoß."
Diese morbide Komik verbindet Sjón mit Lars von Trier, für dessen Film "Dancer in the Dark" er die Songtexte schrieb. Nach dem vermeintlich erfolgreichen Schöpfungsakt gelingt es Leo Löwe, sich 1944 mitsamt dem Säugling in der Hutschachtel nach Island einzuschiffen. Doch auf der Überfahrt wird ihm ein Siegelring gestohlen, ohne den das Lehmkind nicht dauerhaft zum Leben erweckt werden kann. Das gelingt erst geschlagene achtzehn Jahre später nach einem überdrehten Action Comic, an jenem 27. August 1962, dem gemeinsamen Geburtstag von Erzähler und Autor.
Um den goldenen Ring aus dem Weisheitszahn des kriminellen Briefmarkenhändlers herauszubefördern, verbündet sich der Alchemist und Keramikkünstler Leo Löwe mit einem russischen Spion namens Puschkin, der an einem verlängerten Steißbein leidet, und dem Afroamerikaner Anthony. Dank seines Sex Appeals wurde er als Jugendlicher von einem schwulen Gönner zum Nackt-Ringer ausgebildet.
"Nun ja, der Mann hatte drei Interessengebiete, ein anthropologisches Interesse an glíma, dem isländischen Ringkampf, ein erotisches an nackten Männern und ein theologisches an ›Negern‹, wie er mich und meinesgleichen nannte."
Phantastik und Gewalt
Nun ist Anthony einem Ruf der theologischen Fakultät nach Island gefolgt.
"Die Vertreter der beiden Großmächte saßen sich am Küchentisch in der Ingólfsstrati gegenüber und musterten einander. Sie trafen sich zum ersten Mal und hatten sich gerade vorgestellt. Zwischen ihnen auf der eisblauen Tischplatte stand ein Teller mit Pfannkuchen, beide hielten einen Kaffeebecher in der Hand. Das Gebäck rührten sie nicht an, weder der sowjetische Spion mit dem Schwanz noch der amerikanische, stiernackige Theologe; keiner von ihnen hatte je einen solchen Menschen gesehen wie den, den sie hier vor sich sahen."
Bis die Aktion gelingt, wird der Homunculus aus Lehm täglich mit der Milch einer schwarzen Ziege getränkt und eingerieben. Ziegenmilch sei Heldennahrung, heißt es, und die Ziege ist ja nicht nur durch den Halbgott Satyr ein literarisch bedeutsames Tier.
Nach unzähligen Volten ist der Großroman "CoDex 1962" mit seiner Neigung zu phantastischen Übertreibungen also endlich im titelgebenden Jahr angekommen. Leo Löwe wird vom Parlament nach einer endlosen bürokratischen Posse eingebürgert und in Jón Jónsson umbenannt. Das veranlasst Sjón dazu, in Form einer strapaziösen Endlosschleife alle im Jahr 1962 geborenen und zum Teil gestorbenen isländischen Säuglinge aufzuzählen. Er lässt sie mit ihren Schicksalen auf einer imaginären Bühne auftreten und verabschiedet sie jedesmal mit der Formel:
"- Liebe Brüder und Schwestern, geboren neunzehnhundertzweiundsechzig, wir warten hier auf euch."
Aber stimmt die Geschichte wirklich so, wie sie Jósef der geheimnisvollen Interviewerin des Konzerns CoDex aufs Band spricht? Eine zweite, tragische Spur seiner Herkunft führt in die psychiatrische Klinik Kleppur direkt am Meer, die bereits durch Einar Már Gudmudssons Roman "Ein Engel des Universums" Berühmtheit erlangt hat. Die beiden auf Island spielenden Romanteile sparen nicht an ironischer und doch liebevoller Kritik am Selbstverständnis der jungen Nation, die jahrhundertelang zu Dänemark gehörte. Isländisch sei wie Dänisch mit Drachenschuppen, meine kürzlich der Schriftsteller Clemens J. Setz. Oder wie es der Lehrer für die eingebürgerten Neu-Isländer ausdrückt:
"Das Isländische ist wie eine Bergquelle, ein großer und gewaltiger Fluss, so klar, dass man an jeder Stelle bis auf den Grund sehen kann. Es wird von den sanften Wellen der Erzählungen und Geschichten getragen oder von den tosenden Stromschnellen kunstvoller Verse in die Tiefe gerissen."
Diese typisch isländische Stolz auf Sprache und Literatur als Trägerinnen der kulturellen Identität prägt auch zutiefst Sjóns "CoDex 1962".
"Die Biomasse der Erde ist stabil. Alles, was zerfällt und stirbt, wird zur Nahrung für alles, was noch kommt. Die Biomasse der Dichtung hingegen wächst stetig an. Sie setzt sich zusammen aus wundersamem Material, das zu keiner der drei bekannten Lebenswelten unserer Erde gehört – nicht zum Tierreich, nicht zum Pflanzenreich, nicht zum Reich der Steine – , und doch ernährt sie sich von allen dreien; die Dichtung kommt vom Menschen, und der Mensch ist von dieser Welt."
Als Fazit eines 24-jährigen Schreibprojekts mit einem ausdrücklichen Totalitäts-Anspruch überzeugt das nicht unbedingt. Und so wiegen im Fall "CoDex 1962" die drei Einzelteile schließlich mehr als ihre Summe. Das mindert jedoch keineswegs das gewaltige Lesevergnügen, das "CoDex 1962" beschert: eine hochkomische Island-Partie im Zeichen von Genom und Golem.
Sjón: "CoDex 1962"
aus dem Isländischen von Betty Wahl
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 640 Seiten, 32 Euro.