Erwartungsgemäß hat Calixto Bieito Georg Büchners Szenen-Skizzen transponiert. Aus dem deutschen Vormärz gelangte die Story in die heutige Ukraine. Unsanft landete sie in einer "Unschönen Welt" (wie das Programmheft es nennt).
Die vom Regisseur entworfene Bühne zeigt eine verkommene Industrielandschaft: in ihr agieren rotuniformierte Arbeitsleute mit Grubenlampen an den Helmen. Wozzeck kommt erst einmal nicht dazu, den Chef zu rasieren. Er hat an einer geborstenen verrosteten Pipeline zu schaffen. Der etwas stimmschwache Hauptmann Edgar Schäfer steigt von einem Kontrollturm. Was die Kehle nicht vermag, müssen die Hände leisten: Mit einer Laserkanone hält er Wozzeck in Schach. Das böse Spiel zwischen dem kleinen Machthaber in der Tiefen Provinz mit dem ihm ausgelieferten Untergebenen ist auf plausible Weise in der Gegenwart angekommen.
Oliver Zwarg erscheint nicht als ein von Phobien gepeinigter "Stadtsoldat" der Biedermeierzeit. Der robuste Sänger im T-Shirt über der stolz gewölbten Brust vermeidet es, den Wozzeck als geprügelten Hund darzustellen. Wie aus den Dialogen mit Kamerad Andres und mit seiner Marie deutlich wird, hat er zwar vielleicht ein wenig wahnhafte religiöse Vorstellungen im Kopf und ist von Okkultismus beeinflusst; aber auch damit liegt dieser Wozzeck ja voll im Trend der Gegenwart. Mit differenzierter Stimmführung beglaubigt Zwarg einen Typen, der mehrere Jobs braucht, um sich und seine Rumpffamilie über Wasser zu halten. Er will sich also nach der Decke strecken, weil er es muss. Und er wird doch, weil er sich in seinen mitunter etwas schrägen Anpassungsbemühungen als Opfer gut eignet, von den Oberen wie seinen Mitmenschen fertig gemacht.
Aus dem Bühnenhimmel fährt der Wohncontainer der Marie ins realpostsozialistische Elend hinunter. Das namenlose glatzköpfige Kind der Protagonisten ist auf dauerhafte medizinische Versorgung angewiesen. Es hängt am Sauerstoffschlauch. Stets muss es die lebenserhaltenden Flaschen mit sich herumtragen. Das Bild ist anlässlich des Tschernobyl-Jubiläums um die Welt gegangen. Franz Wozzeck junior ist nur zu Gesten des Verlangens fähig. Erst ganz am Ende vermag er die eine Silbe herauszubringen: dies Hopp - hopp. Dabei sitzt er auf dem Schaukelpferd, das der wie ein Popmusik-Star glitzernde Tambourmajor ihm mitbrachte, als er der Mutter Marie die Ohrhänger schenkte und sie in seinem Benz-Cabrio abschleppte.
Christiane Iven stellt die unternehmungslustige Lust der von Wozzeck vernachlässigten Lebensgefährtin ebenso passend dar wie die Endverbraucherin der Bibel, deren Seiten sie zur Intensivierung der Lektüre allemal herausreißt. Auch das ist eine Form der aktualisierenden Büchner- und Berg-Interpretation, die eben ihren Preis hat.
Shao-Chia Lü leitet die Begleitmusik zu Bieitos Kritik am Raubbau natürlicher und menschlicher Ressourcen sachlich, energisch und doch mit Gefühl für das Bergsche Espressivo. Konsequent setzt Calixto Bieito Gegenbilder zur schönen neuen Medienwelt. Kabinettstück ist dabei die Vorführung des Doktors. Und damit der Haupttendenz heutiger Naturwissenschaft: dieser Zyniker wird als Pathologe dargestellt. Er seziert auf einem fahrbaren Tisch - und das sieht wieder einmal recht echt aus. Das Blut spritzt, wie später auch die übel riechenden Exkremente. Der spezialisierte Arzt kommt einfach nicht nach, die anfallenden Leichen rasch genug zu zerlegen. Aber er dient gewiss auf seine geschwätzige Weise dem Fortschritt. Und er hört, genüsslich vespernd, zu, wie am Ende "ein Mensch stirbt". Ein Ereignis, das zuvorderst die Schaulust befördert. Bieito hat Büchner nur zu gut verstanden. Calixt Oh! und zugenäht!
Die vom Regisseur entworfene Bühne zeigt eine verkommene Industrielandschaft: in ihr agieren rotuniformierte Arbeitsleute mit Grubenlampen an den Helmen. Wozzeck kommt erst einmal nicht dazu, den Chef zu rasieren. Er hat an einer geborstenen verrosteten Pipeline zu schaffen. Der etwas stimmschwache Hauptmann Edgar Schäfer steigt von einem Kontrollturm. Was die Kehle nicht vermag, müssen die Hände leisten: Mit einer Laserkanone hält er Wozzeck in Schach. Das böse Spiel zwischen dem kleinen Machthaber in der Tiefen Provinz mit dem ihm ausgelieferten Untergebenen ist auf plausible Weise in der Gegenwart angekommen.
Oliver Zwarg erscheint nicht als ein von Phobien gepeinigter "Stadtsoldat" der Biedermeierzeit. Der robuste Sänger im T-Shirt über der stolz gewölbten Brust vermeidet es, den Wozzeck als geprügelten Hund darzustellen. Wie aus den Dialogen mit Kamerad Andres und mit seiner Marie deutlich wird, hat er zwar vielleicht ein wenig wahnhafte religiöse Vorstellungen im Kopf und ist von Okkultismus beeinflusst; aber auch damit liegt dieser Wozzeck ja voll im Trend der Gegenwart. Mit differenzierter Stimmführung beglaubigt Zwarg einen Typen, der mehrere Jobs braucht, um sich und seine Rumpffamilie über Wasser zu halten. Er will sich also nach der Decke strecken, weil er es muss. Und er wird doch, weil er sich in seinen mitunter etwas schrägen Anpassungsbemühungen als Opfer gut eignet, von den Oberen wie seinen Mitmenschen fertig gemacht.
Aus dem Bühnenhimmel fährt der Wohncontainer der Marie ins realpostsozialistische Elend hinunter. Das namenlose glatzköpfige Kind der Protagonisten ist auf dauerhafte medizinische Versorgung angewiesen. Es hängt am Sauerstoffschlauch. Stets muss es die lebenserhaltenden Flaschen mit sich herumtragen. Das Bild ist anlässlich des Tschernobyl-Jubiläums um die Welt gegangen. Franz Wozzeck junior ist nur zu Gesten des Verlangens fähig. Erst ganz am Ende vermag er die eine Silbe herauszubringen: dies Hopp - hopp. Dabei sitzt er auf dem Schaukelpferd, das der wie ein Popmusik-Star glitzernde Tambourmajor ihm mitbrachte, als er der Mutter Marie die Ohrhänger schenkte und sie in seinem Benz-Cabrio abschleppte.
Christiane Iven stellt die unternehmungslustige Lust der von Wozzeck vernachlässigten Lebensgefährtin ebenso passend dar wie die Endverbraucherin der Bibel, deren Seiten sie zur Intensivierung der Lektüre allemal herausreißt. Auch das ist eine Form der aktualisierenden Büchner- und Berg-Interpretation, die eben ihren Preis hat.
Shao-Chia Lü leitet die Begleitmusik zu Bieitos Kritik am Raubbau natürlicher und menschlicher Ressourcen sachlich, energisch und doch mit Gefühl für das Bergsche Espressivo. Konsequent setzt Calixto Bieito Gegenbilder zur schönen neuen Medienwelt. Kabinettstück ist dabei die Vorführung des Doktors. Und damit der Haupttendenz heutiger Naturwissenschaft: dieser Zyniker wird als Pathologe dargestellt. Er seziert auf einem fahrbaren Tisch - und das sieht wieder einmal recht echt aus. Das Blut spritzt, wie später auch die übel riechenden Exkremente. Der spezialisierte Arzt kommt einfach nicht nach, die anfallenden Leichen rasch genug zu zerlegen. Aber er dient gewiss auf seine geschwätzige Weise dem Fortschritt. Und er hört, genüsslich vespernd, zu, wie am Ende "ein Mensch stirbt". Ein Ereignis, das zuvorderst die Schaulust befördert. Bieito hat Büchner nur zu gut verstanden. Calixt Oh! und zugenäht!