Das Schreckensjahr beginnt mit Zuversicht. Volkswagen und Toyota liefern sich ein Wettrennen um den Titel des weltgrößten Autobauers. Auch auf dem hart umkämpften US-Markt sind die Wolfsburger in der Offensive: In einer massiven Werbekampagne behauptet der Konzern, dass VW-Dieselautos wegen ihres vergleichbar geringen Schadstoffausstoßes besonders umweltfreundlich seien.
Hinter den Kulissen verdichten sich die Probleme: In den USA fährt die Kernmarke Volkswagen Verluste ein. VW-Chef Martin Winterkorn stimmt seine Manager auf einen Sparkurs ein.
Duell zwischen Piëch und Winterkorn
Im Frühjahr folgt ein öffentlich ausgetragener Machtkampf. Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch fordert die Absetzung des VW-Vorstandschefs. "Ich bin auf Distanz zu Winterkorn", lässt er über den "Spiegel" wissen. Offenbar traut Piëch seinem Zögling nicht länger zu, die ausufernden Probleme zu lösen. Doch der Konzernstratege Piëch hat seinen Einfluss auf die Truppen überschätzt. Ehrenbekundungen begleiten den ruhmlosen Abgang des Patriarchen. Winterkorn behält die Oberhand. Neben der einflussreichen Arbeitnehmerseite hält ihm auch das Anteilseigner-Land Niedersachsen die Treue. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) stellt damals klar, was diese Allianz verbindet:
"In Niedersachsen wissen wir ganz genau, was wir an Volkswagen haben: 120.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die direkt an den sechs niedersächsischen Standorten beschäftigt sind."
Gerade, als sich die Aufregung um das Duell zwischen Piëch und Winterkorn etwas gelegt hat, folgt ein wahrer Skandal für Volkswagen. In den USA ermittelt die Umweltbehörde EPA, bei Abgastests bliesen VW-Dieselautos bis zu neunmal mehr gesundheitsgefährdende Stickoxide in die Luft als gesetzlich erlaubt. Am 3. September sollen VW-Mitarbeiter in den USA der EPA den Betrug gestanden haben, zum öffentlichen Bekenntnis ringt sich VW aber erst Wochen später durch. Am 19. September teilt Volkswagen mit, weltweit elf Millionen Dieselmotoren manipuliert zu haben. Offenbar ließen sich Abgasnormen und Kostenvorgaben nur mithilfe einer Software einhalten, die auf dem Prüfstand den Testmodus erkennt.
Wenig Informationen über Dieselgate
Die VW-Aktionäre werden erst spät - am 22. September – über Dieselgate informiert und sehen ihr Vermögen dahinschwinden. Um den unmittelbaren Schaden zu reparieren, stellt der Konzern 6,5 Milliarden Euro zurück. In der Existenz gefährdet sehen Autoanalysten wie Frank Schwope von der Nord/LB VW aber nicht:
"Ich denke, im Moment läuft es auf Beträge von 20, 30 Milliarden hinaus, vielleicht mehr, die da an Schaden aufgetreten sind. Ich denke, das kann der Konzern verkraften."
Die Entscheidung zum Einbau der Betrugssoftware soll bereits 2005 während der Amtszeit des damaligen VW-Chefs Bernd Pischetsrieder gefallen sein. Dennoch steht VW-Chef Winterkorn unter großem Druck. Befreiungsversuche. Winterkorn bezeichnet den größten Skandal der Firmengeschichte als "Fehler einiger weniger":
"Die Unregelmäßigkeiten bei Dieselmotoren unseres Konzerns widersprechen allem, für was Volkswagen steht."
VW behauptet, die Konzernvorstände seien von den Eigenmächtigkeiten der Entwicklungsabteilung völlig überrascht worden. Doch Winterkorns Argumentationslinie geht nicht völlig auf. Ende September: der Rücktritt.
In Wolfsburg stimmt der neue VW-Lenker Matthias Müller die Belegschaft auf Konsequenzen ein: Alle geplanten Investitionen stünden nunmehr auf dem Prüfstand. Volkswagen lässt den Betrug von Experten der US-Kanzlei Jones Day untersuchen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt, stellt bei Razzien Firmenunterlagen und Datenträger sicher.
Anfang Oktober: Neuer Aufsichtsratsvorsitzender
Anfang Oktober wechselt VW-Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch nahtlos auf den seit Piëchs Abgang vakanten Sessel des Aufsichtsratsvorsitzenden. VW holt sich den Chefaufklärer aus den eigenen Reihen. Wegen seiner ungeklärten Rolle im Skandal könnte der Österreicher bald selbst im Fokus der Ermittlungen stehen, doch Pötsch gibt sich ahnungslos:
"Niemand hätte sich vorstellen können, dass das Unternehmen in eine Situation geraten könnte, wie wir sie seit Ende September erleben."
Im November gesteht VW, den Behörden bei der Zulassung einiger Modelle womöglich zu niedrige Angaben zu Verbrauchswerten und zur tatsächlichen CO2-Belastung gemeldet zu haben. Doch schon einen Monat später behauptet der Konzern, dieser Verdacht habe sich in Luft aufgelöst – interne Überprüfungen hätten ergeben, dass die Messwerte von fast allen 800.000 betroffenen Fahrzeugen doch den ursprünglich gemeldeten Angaben entsprächen.
Unterdessen genehmigt das Kraftfahrtbundesamt die technischen Lösungen zur Nachrüstung der manipulierten Dieselautos: Mithilfe eines simplen Luftgitters und diverser Softwareupdates soll es verblüffend einfach sein, die Grenzwerte einzuhalten.
In Wolfsburg stellen sich VW-Chef Müller und Chefkontrolleur Pötsch Anfang Dezember erstmals den Fragen der Journalisten. Angesprochen auf die Schuldfrage geben sich beide schmallippig. Müller spricht vom fälligen Kulturwandel bei Volkswagen, von einem Konzernumbau, von mehr Befugnissen für die Marken des Konzerns.
"Wir werden nicht zulassen, dass uns diese Krise lähmt. Wir nutzen sie als Katalysator für den Wandel, den Volkswagen braucht."
Doch Dieselgate ist für Volkswagen noch lange nicht ausgestanden. Eine Klagewelle getäuschter Autokäufer und vieler anderer rollt auf Volkswagen zu. Und als erste Bewährungsprobe im neuen Jahr steht der amtlich verordnete Rückruf von Millionen Fahrzeugen an.