Es sei ein Jammer, dass Charles Byrne, der Riese von Irland, immer noch nicht bestattet wurde, sagt der französische Paläopathologe Philippe Charlier.
"Und hier in diesem Fall, wo wir eindeutig identifizierbare Knochen haben, müssen wir doch in der Lage sein zu sagen: Nein, das Museum darf die Knochen eben nicht weiter behalten, auch wenn sie diese schon fast 200 Jahre ihr Eigen nennen. Denn die Zeiten ändern sich. Wir müssen dem Willen einer Person diesen Respekt entgegenbringen, vor allem, wenn es keine Angehörigen mehr gibt, die das Museum zur Herausgabe zwingen könnten."
Wo kein Kläger, da kein Richter also? Nein, sagt der Forscher von der Universität Versailles. Er kann nicht verstehen, dass der Wille eines Einzelnen weiterhin missachtet wird, auch wenn es sich um einen wissenschaftlich betrachtet spannenden Fall handelt.
"Wir müssen den letzten Willen eines jeden respektieren. Wir müssen eine Balance schaffen zwischen wissenschaftlicher Forschung einerseits und dem Respekt der Individualität oder Privatsphäre andererseits."
Letztendlich, so Philippe Charlier, sei dieser Fall exemplarisch und das Problem betreffe längst nicht nur England.
In anatomischen Museen weltweit liegen hunderttausende Skelette, von denen viele nie identifiziert wurden, Frankreich eingeschlossen. Viele Museumsbetreiber würden diese Probleme aber einfach ignorieren.
"Im Wesentlichen unternehmen sie nichts und das ist das größte Problem. Die Knochen gehören zu Menschen, die durch diese Ignoranz ein zweites Mal sterben. Solche Skelette liegen in hunderten Museen und manche von diesen Sammlungen sind illegal, auch das ist ein Problem."
Die Anonymität vieler Skelette sei eine Sache, schlimmer seien jedoch viele Lagerungsbedingen, die selbst ihn als Paläopathologen erschütterten.
"Ich habe ein Museum in der Normandie besucht. Dort standen viele Plastiktüten herum, in denen sich Knochen von Menschen aus dem 17. Jahrhundert befanden, jenen, die zu den ersten Reformisten, also Protestanten gehörten. Die Exhumierung fand bereits in den 1970er-Jahren statt, wissenschaftlich bearbeitet wurden die Knochen aber nie. Und wissen sie, was kürzlich passiert ist? Ratten haben diese Knochen angefressen. Das ist nicht nur abartig, sondern auch unethisch."
Um Abhilfe zu schaffen, bedarf es Philippe Charlier zufolge nicht nur einheitlicher Standards, die verbindlich gelten und auch entsprechend kontrolliert werden müssten, sondern zunächst einmal müssten die menschlichen Hinterlassenschaften kategorisiert werden.
Kategorien für menschliche Hinterlassenschaften
Im Fachblatt "Clinical Anatomy" schlägt er vier Kategorien vor. 1. Ethnographische Elemente. Dazu zählen etwa Haarproben, die nicht mehr sicher identifiziert beziehungswiese einem Menschen zugeordnet werden können. 2. Teilweise erhaltene oder vollständige Skelette sowie Schädel, 3. Archäologische Hinterlassenschaften und 4. moderne Schädelsammlungen aus dem frühen 20. Jahrhundert.
"Diese Kategorien sind wichtig, weil wir damit erstmals alle menschlichen Hinterlassenschaften in Museen und Sammlungen akkurat einteilen können, wobei drei davon ethische Probleme bergen."
Besonders die vierte Kategorie, Schädelsammlungen, betrifft dies, denn sie ist vor allem für ehemalige Kolonialmächte relevant. Denn hier geht es nicht nur um ein Altes Testament wie bei Charles Byrne, sondern um aktuelle Rückforderungen der ehemaligen Kolonien oder geplünderter Länder. Diesem Problem seien sich zunehmend auch Politiker bewusst.
"Ich denke schon, zumindest hier in Frankreich ist das der Fall. Zunächst war es ja ein reines Problem der Museen, welches aber schnell zum Politikum wurde als die Maori die Rückführung der Schädel nach Neuseeland forderten."
Bei diesem Streit ging es um die Rückführung von 20 mumifizierten und reich tätowierten Maori-Köpfen, die Seefahrer im 19. Jahrhundert nach Frankreich gebracht hatten. Nach jahrelangem Streit hatte das französische Parlament 2010 der Rückführung nach Neuseeland zugestimmt, die Anfang 2012 abgeschlossen wurde.
Nach mehr als 200 Jahren sind die Schädel nun keine Tauschobjekte mehr, sondern werden an einem für die Maori heiligen Ort aufbewahrt. Doch nicht nur in Frankreich wird das Problem zunehmend diskutiert, sagt Myra Giesen. Die Anthropologin von der Newcastle University hat versucht, die Situation im Vereinigten Königreich zu überblicken. Dort liegen in anatomischen Sammlungen, Museen und Universitäten schätzungsweise rund 110.000 Skelette, die nur zum Teil katalogisiert sind. Auch kleine Sammlungen seien betroffen und die Reaktionen auf geplante Standards mitunter seltsam.
"Das ist kompliziert, da viele Museen gar nicht wollen, dass die Öffentlichkeit erfährt, welche Skelettsammlungen sie in ihren Archiven haben, nur aus Angst vor Reparationsforderungen. Das geht sogar so weit, dass sich viele Institutionen nicht mehr als Museen bezeichnen, weil sie dann bestimmte Standards für Lagerungsbedingungen wie die Raumtemperatur nicht mehr erfüllen müssen."