Es ist nicht das erste Mal, dass die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakulic sich mit dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien befasst. In ihrem 1999 veröffentlichten Roman "Als gäbe es mich nicht" beschreibt sie die Geschichte der jungen Lehrerin S., die im Mai 1992 aus ihrem Dorf von bosnischen Serben verschleppt. S. verbringt die nächsten Monate in einem Gefangenenlager, er- und durchlebt hier Grausamkeiten, die sich mit Worten kaum beschreiben lassen. Gemeinsam mit acht anderen Mädchen, darunter eine erst 13jährige, kommt sie in den so genannten Frauenraum, wo sie über Monate dem Willen und der Willkür serbischer Soldaten ausgeliefert ist – Tage und Nächte werden zu einer nicht enden wollenden Kette von Vergewaltigung, Folter, Erniedrigung jeglicher Art.
Das Wesen, das am Abend des folgenden Tages in den 'Frauenraum’ zurückkommt, ist nicht mehr A. Sie ist nicht wiederzuerkennen. Sie sieht aus wie A., aber jedem der Mädchen ist sofort klar, es ist nicht mehr A. Auf der Brust, der Stirn und dem Rücken ist ihr mit dem Messer jeweils ein Kreuz und viermal der kyrillische Buchstabe S wie vier Hufeisen eingeritzt. Das geronnene, schwarz gewordene Blut hat sich in den Schnittstellen gesammelt, und von weitem sieht es aus, als wären die Male sorgfältig mit Farbe gemalt. Nur dass die Wunde auf dem Rücken tief und offen ist, und jedes Mal, wenn A. sich rührt, klafft ihr rosafarbenes Fleisch...Nach drei Tagen stirbt A. Die Wunde auf der Stirn hat schon zu heilen begonnen, und unter dem Schorf kam die frische rötliche Narbe zum Vorschein. Das schlimmste war, der junge Mann hat sie tatsächlich gekannt, er war ein Freund ihres Bruders gewesen.
Drakulics jüngstes Buch "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" muss vor diesem Hintergrund gelesen werden. Es ist ein Buch gegen das Vergessen. "Jene Henker", hatte S. am Ende ihrer Odyssee begriffen - Zitat: -, "brauchen das Vergessen, aber die Opfer dürfen es ihnen nicht gewähren."
Und so kehrte Slavenka Drakulic immer wieder an das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zurück. Setzte sich in die sterilen, an Wartezimmer erinnernden Gerichtssäle mit ihren grauen Teppichen und Plastikstühlen. Und verfolgte, oft als einzige Zuhörerin, die Prozesse – sowohl diejenigen, gegen die vermeintlich kleinen Fische, als auch die großen, spektakulären gegen Slobodan Milosevic oder die einstige Führerin der bosnischen Serben, Biljana Plavsic.
Als ich Bekannten und Freunden erzählte, ich würde ein Buch über die Kriegsverbrecher schreiben, sagten sie, was gibst Du Dich mit denen ab, das sind Monster, mit uns haben sie nichts zu tun. Doch: Je länger ich die Angeklagten im Gerichtsaal, hinter der Glaswand betrachtete, desto mehr wurde mir bewusst: Es sind keine Monster, sondern ganz gewöhnliche Menschen – Taxifahrer, Lehrer – und genau das ist so erschreckend. Mir wurde klar, das könnte mein Nachbar sein, mein Verwandter – oder auch ich. Die allerwenigsten sind pathologische Verbrecher. Und genau das ist das eigentlich Interessante: Wie kommen diese normalen Menschen in eine Situation, in der sie nichts anderes tun können als zu morden oder das Morden zu befehlen?
Herausgekommen ist dabei ein Buch von einer besonderen Intensität. So schwer das Thema auch ist, Drakulic schreibt schwebend leicht, mit einem meisterlichen Sinn für Details und Komposition. Der Gerichtssaal ist stets nur Ausgangspunkt. In den einzelnen Essays verbindet die Autorin ihre unmittelbaren Eindrücke mit den Geschichten der Angeklagten. Durch diese biographischen Skizzen führt sie den Leser zurück in die Zeit des Bürgerkrieges, dringt durch dessen Oberfläche hindurch und vermag seine tragischen Widersprüche, Absurditäten und allzu menschlichen Seiten zu benennen.
So die Geschichte von Drazen Erdemovic. Am 16. Juli 1995 beteiligt er sich an der Erschießung von 1200 Muslimen in der Nähe der Ortschaft Srebrenica. Nicht ideologische, sondern ökonomische Motive, so Drakulic, hätten Erdemovic in den Krieg geführt. Er musste seine Frau und sein neugeborenes Kind versorgen. Normale Arbeit gab es kaum. Die bosnisch-serbische Armee zahlte gut. Sobald sie ein wenig Geld gespart und die notwendigen Papiere besorgt hatten, wollten alle drei dem Bürgerkrieg entfliehen.
Nach diesem 16. Juli aber sollte nichts mehr sein wie zuvor. Am Morgen dieses sonnigen Tages wurde Erdemovic’s Einheit auf ein Gehöft gebracht. Niemand von ihnen kannte den Grund. Nur über die mitgeführte große Menge an automatischen Waffen und Munition wunderten sich die Soldaten.
Der Befehlshaber rief sie zusammen und sagte, jetzt kämen Autobusse mit Zivilisten aus Srebrenica Er meinte die gefangenen Muslime, die sich den Einheiten der Armee der Republika Srpska ergeben hatten. Wir werden sie liquidieren, sagte der Kommandeur. Das gefiel Drazen gar nicht. Nie hatten sie so einen Auftrag gehabt, aber keiner sagte ein Wort. Drazen sah die Gefangenen an. Sie standen mit dem Rücken zu den Soldaten.
Nein, das konnte er nicht tun. Er konnte Menschen nicht einfach so töten. Als er sich seinem Kommandeur näherte, zitterten ihm die Hände. Ich will das nicht tun, sagte er. Brano Gojkovic wandte sich zu Drazen, als habe er nicht richtig gehört. Was? sagte er. Drazen kannte den Trick. Gojkovic wollte, dass er seine Worte lauter wiederholte, damit er Zeugen für Späteres haben würde. Drazen sah die Soldaten an. "Genossen, ich will das nicht tun. Seid ihr noch normal? Wisst ihr, worauf ihr euch einlasst?
Er fühlte, wie ihn der Mut verließ, während die anderen seinem Blick auswichen...Es folgte eine unbehagliche Stille...Gojkovic sah ihn ernst und starr an. "Wenn Du das nicht tun willst, Erdemovic, geh zu den Gefangenen, und du wirst auch erschossen. Gib mir Deine Waffe!
Bei aller Abscheu und Wut über die Täter – Erdemovic trat in die Reihe der Soldaten zurück und hatte am Ende des Tages 70 Menschen erschossen – : Drakulic behält stets einen Blick für Nuancen. Die Wahrheit, so weiß sie, ist nicht schwarz oder weiß, sondern beinhaltet eine unendliche Menge an Schattierungen. Drakulic will nicht urteilen, sondern sucht eine Antwort auf die Frage, wie all dies geschehen konnte, wie Menschen, die unter normalen Umständen keiner Fliege etwas zu leide tun konnten, zu Mördern, ja Bestien wurden. Hierin erinnert "Keiner war dabei" an Hannah Arendts Buch über den Eichmann-Prozess und die "Banalität des Bösen" oder Christopher Brownings "Ganz normale Männer".
Wie aber erklärt Drakulic die Implosion der jugoslawischen Gesellschaft, den kollektiven Ausbruch von Hass, Demütigung, Brutalität und Mord? Für die kroatische Autorin ist die Antwort eindeutig: Es ist die vorausgehende Stigmatisierung, die gezielte Konstruktion des anderen als Hassobjekt mit Hilfe von Mythen, Vorurteilen und Propaganda. Wie im Deutschland der dreißiger Jahre folgte dabei eine "scheinbar kleine, unbedeutende Konzession" auf die andere. Der einzelne wird seiner individuellen Eigenschaften beraubt und schließlich nur noch als Teil einer Gruppe definiert.
Es fängt damit an, dass man seinen Nachbarn nicht mehr grüßt, weil er in den Medien als Feind bezeichnet wird. Und dann passiert, was Victor Klemperer beschrieben hat, wie nach und nach besondere Gesetze für die Juden eingeführt wurden: Erst durften sie keine Blumen mehr kaufen und alle sagten: Was soll schon sein, sie kommen ohne Blumen aus. Dann wurde ihnen der Besitz von Schreibmaschinen verboten und jeder sagte: sie können ohne Schreibmaschine leben – und so weiter. Man muss nicht unbedingt selbst einen Menschen umbringen. Doch im Krieg muss man sich entscheiden, es gibt keine unschuldigen Zuschauer. Und diejenigen, die sich als solche begreifen, sind tatsächlich Kollaborateure.
Viele Menschen, stellt Drakulic am Ende fest, hätten vom Krieg profitiert – ein Haus übernommen, den Job eines Vertriebenen. Genau deswegen sei die Aufarbeitung der Verbrechen so schwer. Es herrsche eine Art Konsens, man müsse den Krieg vergessen, nach vorne schauen, ein neues Kapitel aufschlagen. Dieser Opportunismus aber führt in die Sackgasse, ist Drakulic überzeugt. Eine Zukunft hätten Kroaten, Serben und Bosniaken nur, wenn sie sich der Vergangenheit bewusst stellten::
Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Krieges auf dem Balkan muss man einsehen, dass wir normalen Menschen ihn ermöglicht haben und nicht irgendwelche Irren. Wir haben eines Tages unsere Nachbarn unterschiedlicher Nationalität nicht mehr gegrüßt, und am nächsten Tag wurden in unserem Namen Konzentrationslager eingerichtet. Wir haben das einander angetan. Vielleicht ist das ein guter Anlass zu der Überlegung, ob es zu einfach ist, hundert Menschen in Den Haag vor Gericht zu stellen. Was ist mit den anderen, die eine Ideologie übernahmen, welche 200.000 Opfer forderte? Wenn es wahr ist, dass es keine Kollektivschuld gibt, kann es dann eine kollektive Unschuld geben? Nein, die ganze Nation, in Kroatien oder anderswo, kann nicht an den Kriegsverbrechen schuldig sein. Aber die ganze Nation trägt Verantwortung für die Kriegsverbrechen, politisch und moralisch. Es ist nicht angenehm zu hören, dass man ein Kollaborateur war. Aber es ist notwendig zu begreifen, dass das eine Frage der Wahl ist, und dass man sich falsch entschieden hat.
Die Gerechtigkeit ist langweilig, heißt eines der ersten Kapitel in diesem Buch. Mit "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" widerlegt Slavenka Drakulic diese These selbst. Dieses vorzügliche, hochspannende Buch sei jedermann wärmstens empfohlen. Vor allem in den Schulen, so bleibt zu wünschen, sollte es Pflichtlektüre werden.
Marc-Christoph Wagner besprach: "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan", erschienen im Paul-Zsolnay-Verlag in Wien; das Buch hat 200 Seiten und kostet 16 Euro 90.
Das Wesen, das am Abend des folgenden Tages in den 'Frauenraum’ zurückkommt, ist nicht mehr A. Sie ist nicht wiederzuerkennen. Sie sieht aus wie A., aber jedem der Mädchen ist sofort klar, es ist nicht mehr A. Auf der Brust, der Stirn und dem Rücken ist ihr mit dem Messer jeweils ein Kreuz und viermal der kyrillische Buchstabe S wie vier Hufeisen eingeritzt. Das geronnene, schwarz gewordene Blut hat sich in den Schnittstellen gesammelt, und von weitem sieht es aus, als wären die Male sorgfältig mit Farbe gemalt. Nur dass die Wunde auf dem Rücken tief und offen ist, und jedes Mal, wenn A. sich rührt, klafft ihr rosafarbenes Fleisch...Nach drei Tagen stirbt A. Die Wunde auf der Stirn hat schon zu heilen begonnen, und unter dem Schorf kam die frische rötliche Narbe zum Vorschein. Das schlimmste war, der junge Mann hat sie tatsächlich gekannt, er war ein Freund ihres Bruders gewesen.
Drakulics jüngstes Buch "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" muss vor diesem Hintergrund gelesen werden. Es ist ein Buch gegen das Vergessen. "Jene Henker", hatte S. am Ende ihrer Odyssee begriffen - Zitat: -, "brauchen das Vergessen, aber die Opfer dürfen es ihnen nicht gewähren."
Und so kehrte Slavenka Drakulic immer wieder an das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zurück. Setzte sich in die sterilen, an Wartezimmer erinnernden Gerichtssäle mit ihren grauen Teppichen und Plastikstühlen. Und verfolgte, oft als einzige Zuhörerin, die Prozesse – sowohl diejenigen, gegen die vermeintlich kleinen Fische, als auch die großen, spektakulären gegen Slobodan Milosevic oder die einstige Führerin der bosnischen Serben, Biljana Plavsic.
Als ich Bekannten und Freunden erzählte, ich würde ein Buch über die Kriegsverbrecher schreiben, sagten sie, was gibst Du Dich mit denen ab, das sind Monster, mit uns haben sie nichts zu tun. Doch: Je länger ich die Angeklagten im Gerichtsaal, hinter der Glaswand betrachtete, desto mehr wurde mir bewusst: Es sind keine Monster, sondern ganz gewöhnliche Menschen – Taxifahrer, Lehrer – und genau das ist so erschreckend. Mir wurde klar, das könnte mein Nachbar sein, mein Verwandter – oder auch ich. Die allerwenigsten sind pathologische Verbrecher. Und genau das ist das eigentlich Interessante: Wie kommen diese normalen Menschen in eine Situation, in der sie nichts anderes tun können als zu morden oder das Morden zu befehlen?
Herausgekommen ist dabei ein Buch von einer besonderen Intensität. So schwer das Thema auch ist, Drakulic schreibt schwebend leicht, mit einem meisterlichen Sinn für Details und Komposition. Der Gerichtssaal ist stets nur Ausgangspunkt. In den einzelnen Essays verbindet die Autorin ihre unmittelbaren Eindrücke mit den Geschichten der Angeklagten. Durch diese biographischen Skizzen führt sie den Leser zurück in die Zeit des Bürgerkrieges, dringt durch dessen Oberfläche hindurch und vermag seine tragischen Widersprüche, Absurditäten und allzu menschlichen Seiten zu benennen.
So die Geschichte von Drazen Erdemovic. Am 16. Juli 1995 beteiligt er sich an der Erschießung von 1200 Muslimen in der Nähe der Ortschaft Srebrenica. Nicht ideologische, sondern ökonomische Motive, so Drakulic, hätten Erdemovic in den Krieg geführt. Er musste seine Frau und sein neugeborenes Kind versorgen. Normale Arbeit gab es kaum. Die bosnisch-serbische Armee zahlte gut. Sobald sie ein wenig Geld gespart und die notwendigen Papiere besorgt hatten, wollten alle drei dem Bürgerkrieg entfliehen.
Nach diesem 16. Juli aber sollte nichts mehr sein wie zuvor. Am Morgen dieses sonnigen Tages wurde Erdemovic’s Einheit auf ein Gehöft gebracht. Niemand von ihnen kannte den Grund. Nur über die mitgeführte große Menge an automatischen Waffen und Munition wunderten sich die Soldaten.
Der Befehlshaber rief sie zusammen und sagte, jetzt kämen Autobusse mit Zivilisten aus Srebrenica Er meinte die gefangenen Muslime, die sich den Einheiten der Armee der Republika Srpska ergeben hatten. Wir werden sie liquidieren, sagte der Kommandeur. Das gefiel Drazen gar nicht. Nie hatten sie so einen Auftrag gehabt, aber keiner sagte ein Wort. Drazen sah die Gefangenen an. Sie standen mit dem Rücken zu den Soldaten.
Nein, das konnte er nicht tun. Er konnte Menschen nicht einfach so töten. Als er sich seinem Kommandeur näherte, zitterten ihm die Hände. Ich will das nicht tun, sagte er. Brano Gojkovic wandte sich zu Drazen, als habe er nicht richtig gehört. Was? sagte er. Drazen kannte den Trick. Gojkovic wollte, dass er seine Worte lauter wiederholte, damit er Zeugen für Späteres haben würde. Drazen sah die Soldaten an. "Genossen, ich will das nicht tun. Seid ihr noch normal? Wisst ihr, worauf ihr euch einlasst?
Er fühlte, wie ihn der Mut verließ, während die anderen seinem Blick auswichen...Es folgte eine unbehagliche Stille...Gojkovic sah ihn ernst und starr an. "Wenn Du das nicht tun willst, Erdemovic, geh zu den Gefangenen, und du wirst auch erschossen. Gib mir Deine Waffe!
Bei aller Abscheu und Wut über die Täter – Erdemovic trat in die Reihe der Soldaten zurück und hatte am Ende des Tages 70 Menschen erschossen – : Drakulic behält stets einen Blick für Nuancen. Die Wahrheit, so weiß sie, ist nicht schwarz oder weiß, sondern beinhaltet eine unendliche Menge an Schattierungen. Drakulic will nicht urteilen, sondern sucht eine Antwort auf die Frage, wie all dies geschehen konnte, wie Menschen, die unter normalen Umständen keiner Fliege etwas zu leide tun konnten, zu Mördern, ja Bestien wurden. Hierin erinnert "Keiner war dabei" an Hannah Arendts Buch über den Eichmann-Prozess und die "Banalität des Bösen" oder Christopher Brownings "Ganz normale Männer".
Wie aber erklärt Drakulic die Implosion der jugoslawischen Gesellschaft, den kollektiven Ausbruch von Hass, Demütigung, Brutalität und Mord? Für die kroatische Autorin ist die Antwort eindeutig: Es ist die vorausgehende Stigmatisierung, die gezielte Konstruktion des anderen als Hassobjekt mit Hilfe von Mythen, Vorurteilen und Propaganda. Wie im Deutschland der dreißiger Jahre folgte dabei eine "scheinbar kleine, unbedeutende Konzession" auf die andere. Der einzelne wird seiner individuellen Eigenschaften beraubt und schließlich nur noch als Teil einer Gruppe definiert.
Es fängt damit an, dass man seinen Nachbarn nicht mehr grüßt, weil er in den Medien als Feind bezeichnet wird. Und dann passiert, was Victor Klemperer beschrieben hat, wie nach und nach besondere Gesetze für die Juden eingeführt wurden: Erst durften sie keine Blumen mehr kaufen und alle sagten: Was soll schon sein, sie kommen ohne Blumen aus. Dann wurde ihnen der Besitz von Schreibmaschinen verboten und jeder sagte: sie können ohne Schreibmaschine leben – und so weiter. Man muss nicht unbedingt selbst einen Menschen umbringen. Doch im Krieg muss man sich entscheiden, es gibt keine unschuldigen Zuschauer. Und diejenigen, die sich als solche begreifen, sind tatsächlich Kollaborateure.
Viele Menschen, stellt Drakulic am Ende fest, hätten vom Krieg profitiert – ein Haus übernommen, den Job eines Vertriebenen. Genau deswegen sei die Aufarbeitung der Verbrechen so schwer. Es herrsche eine Art Konsens, man müsse den Krieg vergessen, nach vorne schauen, ein neues Kapitel aufschlagen. Dieser Opportunismus aber führt in die Sackgasse, ist Drakulic überzeugt. Eine Zukunft hätten Kroaten, Serben und Bosniaken nur, wenn sie sich der Vergangenheit bewusst stellten::
Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Krieges auf dem Balkan muss man einsehen, dass wir normalen Menschen ihn ermöglicht haben und nicht irgendwelche Irren. Wir haben eines Tages unsere Nachbarn unterschiedlicher Nationalität nicht mehr gegrüßt, und am nächsten Tag wurden in unserem Namen Konzentrationslager eingerichtet. Wir haben das einander angetan. Vielleicht ist das ein guter Anlass zu der Überlegung, ob es zu einfach ist, hundert Menschen in Den Haag vor Gericht zu stellen. Was ist mit den anderen, die eine Ideologie übernahmen, welche 200.000 Opfer forderte? Wenn es wahr ist, dass es keine Kollektivschuld gibt, kann es dann eine kollektive Unschuld geben? Nein, die ganze Nation, in Kroatien oder anderswo, kann nicht an den Kriegsverbrechen schuldig sein. Aber die ganze Nation trägt Verantwortung für die Kriegsverbrechen, politisch und moralisch. Es ist nicht angenehm zu hören, dass man ein Kollaborateur war. Aber es ist notwendig zu begreifen, dass das eine Frage der Wahl ist, und dass man sich falsch entschieden hat.
Die Gerechtigkeit ist langweilig, heißt eines der ersten Kapitel in diesem Buch. Mit "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" widerlegt Slavenka Drakulic diese These selbst. Dieses vorzügliche, hochspannende Buch sei jedermann wärmstens empfohlen. Vor allem in den Schulen, so bleibt zu wünschen, sollte es Pflichtlektüre werden.
Marc-Christoph Wagner besprach: "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan", erschienen im Paul-Zsolnay-Verlag in Wien; das Buch hat 200 Seiten und kostet 16 Euro 90.