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Slavoj Žižek
Neubegründung des dialektischen Materialismus

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek will den dialektischen Materialismus neu begründen. Was genau er darunter versteht, erklärt er in seinem neuen Buch "Absoluter Gegenstoß" allerdings nicht. Dennoch ist das Werk durchaus lesenswert und unterhaltsam - auch für Philosophie-Neulinge.

Von Thomas Arnold |
    Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek bei einem Vortrag in der russischen Hauptstadt Moskau, aufgenommen am 20.08.2012.
    Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek ist ein Unterhalter von absurden Witz. (imago/ITAR-TASS)
    Wie der Untertitel des Buches verrät, bemüht sich der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in "Absoluter Gegenstoß" um eine Neubegründung des dialektischen Materialismus. Wie andere Denker vor ihm, ist Žižek der Auffassung, dass der philosophische Rahmen des Marxismus wieder einmal aktualisiert werden müsste.
    "Dieser Aufgabe versucht sich das vorliegende Buch zu widmen, indem es eine Neubegründung des dialektischen Materialismus vorschlägt. Das Wort 'dialektisch' ist hier im Sinne des griechischen dialektika (ähnlich wie semiotika oder politika) zu verstehen: nicht als allgemeiner Begriff, sondern als 'dialektische' (semiotische, politische) Angelegenheiten, als ein inkonsistentes (nichtganzes) Gemisch. Aus diesem Grund sind die einzelnen Kapitel dieses Buches Anwendungen – keine Erläuterungen – des dialektischen Materialismus; dieser ist nicht Thema des Buches, er wird vielmehr darin praktiziert." (S. 11-12)
    Žižek will den dialektischen Materialismus also neu begründen, ohne ihn dabei zu thematisieren. Was zunächst etwas seltsam klingt, entspricht den ursprünglichen Ansätzen von Karl Marx und Friedrich Engels; diese hatten den dialektischen Materialismus nämlich nicht als geschlossene Lehre konzipiert, sondern als "Anleitung beim Studium".
    Anders als eine Doktrin zeigt eine Heuristik ihren Wert tatsächlich nur in der Anwendung, sodass Žižeks Idee einer Neubegründung durch Anwendung durchaus ihre Berechtigung hat.
    Integration der Psychoanalyse
    Neu soll an Žižeks Version des dialektischen Materialismus vor allem die Integration der Psychoanalyse sein. So ist Žižeks Ansatz wesentlich von den Begriffen des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan geprägt. Ein zweiter entscheidender Einfluss ist der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aus dessen Werk auch der Ausdruck "absoluter Gegenstoß" stammt. Gemeint ist damit ein paradoxer Prozess, in dem ein Wesen sich von sich selbst abstößt, sich verliert und dadurch erst Identität gewinnt. Das Wesen richtet sich dabei nur gegen sich selbst; es kommt nichts von außen dazu, der dialektische Prozess der Abstoßung und Identitätsbildung verläuft intern.
    Žižeks Kunst besteht nun gerade darin, mit Hegel und Lacan solche paradoxen Prozesse sichtbar zu machen. Unter Žižeks Blick schlagen so die Phänomene unversehens in ihr Gegenteil um – alles ist immer genau anders herum, als es scheint. Seine Methode erlaubt es ihm außerdem, scheinbar völlig disparate Phänomene zu analogisieren, was einen nicht unerheblichen Teil des Reizes von Žižeks Denken ausmacht. Diese Herangehensweise durchzieht Žižeks ganzes Werk, sie bildet den methodischen Kern seiner Arbeit, unabhängig vom konkreten Thema und unabhängig vom Medium. Sein Vorgehen in "Absoluter Gegenstoß" ist folglich exakt dasselbe wie in "The Pervert's Guide to Ideology".
    Das Verfahren sei an einigen besonders markanten Beispielen verdeutlicht. Gegen das Klischee, dass gerade die Fundamentalisten besonders gläubig seien, wendet Žižek etwa ein:
    "Tief im Innern fehlt es den terroristischen Fundamentalisten an echter Überzeugung – und ihre Gewaltausbrüche sind dafür der Beweis. Wie schwach muss der Glaube eines Dschihadisten sein, wenn er sich von einer albernen Karikatur in einer auflagenschwachen dänischen Tageszeitung bedroht fühlt? [ ... ] Das Problem der Fundamentalisten ist nicht, dass wir sie als minderwertig betrachten, sondern dass sie sich insgeheim selbst für minderwertig halten. [ ... ] Das Problem liegt nicht in der kulturellen Differenz [ ... ], sondern, im Gegenteil, in der Tatsache, dass sie schon sind wie wir, dass sie unsere Maßstäbe schon verinnerlicht haben und sich daran messen." (S. 45)
    Erster Weltkrieg als bloße Reaktion
    In dieser Analyse wird neben dem Umschlag ins Gegenteil ein weiterer Aspekt des absoluten Gegenstoßes realisiert: Žižek geht davon aus, dass der Materialismus kein Außen mehr hat; nicht einmal die scheinbare Fundamentalopposition kann sich dem materialistischen Diskurs noch entziehen. Ebenso wie den heutigen religiösen Fundamentalismus deutet Žižek den Ersten Weltkrieg nicht als eigentliche Krise der Moderne, sondern als bloße Reaktion:
    "Der Weltkrieg war nicht der traumatische Bruch, der den Progressivismus des 19. Jahrhunderts erschütterte, sondern eine Reaktion auf die wahre Bedrohung der etablierten Ordnung: Die Explosion der avantgardistischen Kunst, Wissenschaft und Politik, die die herrschende Weltsicht unterminierte [ ... ] 1914 war kein Erwachen, sondern die vehemente und gewaltsame Wiederkehr eines patriotischen Schlummers, der das wahre Erwachen verhindern sollte." (S. 225)
    Gegen die aktuellen nationalistischen Bewegungen gibt Žižek zu (be)denken, dass Ideen wie "Ursprung", "Volk" oder "Identität" immer illusorisch sind; Ursprünge im emphatischen Sinn gibt es erst, wenn die nationalistische Begierde sie sich herbeiwünscht und "das Volk" ist immer eine mythische Konstruktion, die nichts mit der wirklichen Mehrheit der Bürger zu tun hat.
    Die partikuläre, völkische Identität ist schließlich kein fester Grund, sondern ein ziemlich fragiles ideologisches Phantasma, durchzogen von Inkonsistenzen und bereits globalisierten Werten.
    Paradoxe, teilweise absurde Schlaglichter
    Gleichwohl sind Ideologien gerade keine Verzerrungen der wahren Welt, die wir, einmal durchschaut, einfach ablegen können, wie Žižek zu John Carpenters Kultfilm "They Live" erläutert:
    Im besten Fall eröffnet uns Žižek mit seinen paradoxen Beschreibungen eine überraschende und erhellende Perspektive. Leider begnügt er sich häufig mit seinen paradoxen, teilweise absurden Schlaglichtern. Diese Oberflächlichkeit zeigt sich nicht nur im saloppen Umgang mit Neurologie und Quantenmechanik, sondern teilweise auch in der Interpretation der von ihm herangezogenen Denker. (So behauptet er etwa auch, Tolkiens Mittelerde sei materialistisch, insofern es keine transzendenten Gottheiten in diesem Universum gebe, was offensichtlich falsch ist.)
    Zudem liefert er keine Gründe, weshalb wir seine paradoxie-freundliche Herangehensweise eher annehmen sollten als eine andere Sichtweise.
    Ich kann sicherlich Computerspiele als eine moderne Form der Exerzitien im Sinne des Ignatius von Loyola sehen; ich kann die sieben letzten Worte Jesu als Superposition im Sinne der Quantenmechanik auffassen; ich kann Faulheit als Widerstand gegen alle Ideologie begreifen – ich kann es aber auch lassen, solange mir keine Gründe geboten werden, warum ich diese Deutung einer anderen vorziehen sollte.
    Ein Unterhalter mit absurdem Witz
    Trotz dieser und weiterer möglicher Einwände können wir Žižek dreierlei zugutehalten. Erstens ist Žižek ein Unterhalter von absurdem Witz, seine Deutung des Kinder-Überraschungseis mit Lacan und Platon aus "The Pervert's Guide to Ideology" etwa ist schlichtweg komisch. Zweitens zeigt er auf, wie anfällig für Inkonsistenzen und Umkehrungen viele unserer Vorstellungen sind. Drittens schließlich weist er uns immer wieder darauf hin, dass andere Sichtweisen auf die Welt möglich sind – und gerade diesen Möglichkeits-Sinn gilt es mit allen Mitteln wach zu halten.
    Slavoj Žižek: "Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, 656 Seiten, 28,00 Euro.