Staub. Überall Fliegen. Abfall, zusammengefegt am Ende einer der vielen kleinen Gassen. Er stinkt zum Himmel. Fett und flink rennen ein paar Ratten umher. Baracken, Hütten und Blechverschläge, soweit das Auge reicht. "Shastri Park" heißt dieser Moloch im Nordosten Delhis, den mehrere zehntausend Menschen - so genau weiß das niemand - ihre Heimat nennen. Aus einer mit Götterplakaten tapezierten Kate dringt ein Bollywood-Film-Song nach draußen. Die Behausung des Nachbarn ist verschlossen. Vor der Tür steht ein Stuhl mit einem Koran darauf. In dem von Ratten angenagten Buch blättert der Wind.
Es gebe Slums, in denen ausschließlich Hindus oder nur Muslime wohnten, sagt der Historiker Professor Raziuddin Aquil von der Universität Neu-Delhi. Andernorts, sagt er, lebten Muslime und Hindus Tür an Tür.
Anpassungsvermögen gefragt
Mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung Indiens wohnt heute in einer Metropole, vor allem in Delhi und in Mumbai. Die Hälfte dieser Inder lebt in einem Slum. Hier, wo die Menschen zusammenrücken müssen, ist Anpassungsvermögen gefragt. Denn vor allem große Slums bilden eine Art "Mini-Indien", einen indischen Mikrokosmos, in dem sich Angehörige unterschiedlicher Kasten und Religionsgemeinschaften nicht aus dem Weg gehen können. Und auch wenn einige Gruppen weitgehend unter sich bleiben, kommt es doch zu Vermischungen.
So wird Bhakti, eine mystische Frömmigkeitstradition, nicht nur von vielen Hindus praktiziert, sondern auch von Sikhs und einigen Muslimen. Und manchmal stellen die Mitglieder verschiedener islamischer Strömungen im Slum fest, dass sie mehr gemeinsam haben als zunächst angenommen - und sie teilen sich eine Moschee. Auch das Kastensystem ist zumindest für indische Muslime schon längst kein Fremdwort mehr. In der Mehrzahl praktizieren sie es selbst.
"Indische Muslime wachsen ja in einem Umfeld auf, das vom Kastensystem durchdrungen ist. Viele passen sich an. Hinzu kommt, dass einige muslimische Konvertiten aus demselben Milieu stammen - wie die hinduistischen 'Unberührbaren' zum Beispiel. Und sie haben ihre Traditionen in den Islam eingebracht", sagt Raziuddin Aquil.
Ein paar Unterschiede zwischen dem muslimischen und dem hinduistischen Kastenwesen gebe es aber doch:
"Muslime handhaben einiges weniger rigide. Ein Beispiel: Hindus glauben, sie könnten verunreinigt werden, wenn sie aus demselben Brunnen Wasser trinken wie Muslime oder Mitglieder niedriger Kasten. Für Muslime dagegen ist das überhaupt kein Problem."
Religions- und Kastenzugehörigkeit schärfen im Slum das Profil des Einzelnen, binden ihn in seine Religionsgemeinschaft oder Kastengruppe ein und geben ihm damit Rückhalt.
"Die meisten Slumbewohner haben ganz andere Sorgen"
Das hält viele Hindus, Muslime, Christen, Sikhs, Jainas oder Buddhisten aber nicht davon ab, etwa die Feste der anderen mitzufeiern. Was in den größeren Slums auch kaum zu verhindern ist. Denn der Hausaltar des Hindu-Nachbarn, die anglikanische Einraumkirche oder der Gurdwara, die Gebetsstätte der Sikhs, sind nur selten weit entfernt. Es ist also sinnvoll, sich miteinander zu arrangieren. Umso mehr, weil der Einzelne vom Staat nicht viel erwarten kann, wie dieser Slumbewohner sagt:
"Wenn wir am Ende nicht immer wieder zusammen halten würden, gäbe es nicht mal die Wasserleitungen, die wir hier gemeinsam und auf eigene Kosten instand halten. Wenn wir uns nicht selbst helfen würden, wären wir geliefert!"
Doch es gibt auch Spannungen, die eskalieren können: Vor mehr als 20 Jahren kam es im Dharavi-Slum in Mumbai zu Pogromen, angezettelt von rechtsradikalen Hindus. Danach einigte man sich in Dharavi darauf, Hindus und Muslime räumlich zu trennen.
"Unruhen kommen hier und da vor, aber wenn man das Gesamtbild anschaut, sind sie die Ausnahme", sagt Raziuddin Aquil. "Die meisten Slumbewohner haben ganz andere Sorgen - oben zu schwimmen nämlich, ihren bescheidenen, kleinen Platz in dieser Welt behalten zu können und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten."