Die Anschläge vom 11. September haben die amerikanische Dokumentarfilmerin Laura Poitras zu einer Filmtrilogie motiviert, in der sie untersucht, wie der von der Regierung gestartete "war on terror" ihr Land verändert. In "My Country my country" hat sie die Situation im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins beobachtet, in "The Oath" ging es um Guantanamo, und danach arbeitete sie gerade am dritten Teil über die Praxis der Massenüberwachung durch Geheimdienste, als sie eine E-Mail von "Citizenfour" alias Edward Snowden erreichte, so zumindest stellt sie es im gleichnamigen Film dar. Laura Poitras lebt seit zwei Jahren in Berlin.
Wochenlang gab es in den Medien immer nur dieses eine Porträtfoto von Edward Snowden mit dem graublauen Hemdkragen zu sehen. In der Dokumentation "Citizenfour" von Laura Poitras wird dieses Foto lebendig. Sie hat ihn getroffen und gefilmt im Hotelzimmer in Hongkong letztes Jahr im Sommer, dahin war der Computerexperte und Whistleblower gerade aus den USA geflüchtet, nachdem er bei seiner Arbeit für die US-Nachrichtendienste Belege für die Massenüberwachungen durch die NSA und andere Geheimdienste downgeloadet hat, die er etwas später den Medien zuspielen sollte. Poitras war eine seiner ersten Kontaktpersonen.
Inzwischen kennen wir Teile der Snowden-Dokumente und wissen, wie es mit ihm weiter ging, was also soll der Film dem also noch hinzufügen? Und kommt der nicht viel zu spät ins Kino? Gestern war uns Laura Poitras aus Berlin zugeschaltet, und ich habe sie zuerst gefragt, warum sie glaubt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für die Veröffentlichung ist.
"Wir haben wirklich hart gearbeitet"
Sigrid Fischer: Laura Poitras, das berühmte Treffen mit Edward Snowden in einem Hotelzimmer in Hongkong ist jetzt über ein Jahr her, warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, den Film darüber ins Kino zu bringen und nicht zum Beispiel letzten Herbst?
Laura Poitras: Als ich zurückkam aus Hongkong, wo wir die Begegnung im Hotelzimmer gefilmt haben, da habe ich mich sofort mit den Dokumenten und der Berichterstattung beschäftigt. Ich habe mich zum Beispiel mit Reportern vom Spiegel getroffen. Das war erst mal das Dringendste. In Berlin arbeite ich mit einem tollen Team zusammen. Also, ich habe den Film nicht zurückgehalten. Aber wir mussten erst mal über die Dokumente berichten und wir wollten auch verstehen, welche Auswirkungen die Enthüllungen haben. Das dauerte einige Zeit. Wir haben wirklich hart gearbeitet. Niemand aus dem Team von uns hat Urlaub genommen, wir waren also nicht langsam, und wir wollten den Film genauso machen, wie er jetzt ist und nicht nur auf aktuelle Debatten Bezug nehmen. Denn mit Dokumentarfilmen sollte man etwas schaffen, das Bestand hat - ein Jahr, zwei Jahre, zehn Jahre. Und das braucht eben Zeit, so, wie wenn man ein Buch schreibt.
Fischer: Die Medien werden oft dafür kritisiert, dass sie Politik und Geschichte immer personalisieren. Dass sie auf Personen fokussieren, weil das ablenkt von dem, um was es eigentlich geht. Und Edward Snowden sagt ja auch im Film: Ich bin hier nicht die Story. Haben Sie nicht Sorge, dass die Leute mehr an ihm interessiert sind, mal sehen wollen, wie der so ist, dieser Snowden, anstatt an den Informationen, die er uns gegeben hat?
Poitras: Mich interessiert vor allem eine Sache: Ich dokumentierte die amerikanische Politik nach dem 11. September seit inzwischen mehr als zehn Jahren. Und ich beobachte in meinem Heimatland ein Auseinanderdriften von Grundsätzen unseres Rechtsstaates. Ich denke, Edward Snowden und andere Whistleblower - William Binney oder Chelsea Manning zum Beispiel - das sind Leute, die einfach sagen, was falsch läuft in der Regierung und die bereit sind, ein persönliches Risiko auf sich zu nehmen, um das zu äußern. Das heißt, Sie haben recht: Es ist das Porträt eines Mannes und seiner Entscheidung. Aber es geht auch um das große Ganze, es geht auch darum, wohin sich die amerikanische Politik entwickelt.
"Unter der Oberfläche verändert sich einiges"
Fischer: Das ist schon klar, aber Fakt ist, dass wir so weitermachen, als wäre nichts passiert. Daran musste ich denken, als ich Ihren Film schaute - da opfert sich jemand gewissermaßen für unser Wohl, und wir machen so weiter. Das muss Sie doch sehr frustrieren?
Poitras: Ich glaube eigentlich doch, dass sich Vieles verändert hat. Ich glaube, dass sich weltweit das Bewusstsein der Menschen verändert hat - was Überwachung angeht, und was Regierungen unternehmen. Auch die Technologieunternehmen sind wachsamer. Die Menschen nutzen häufiger Verschlüsselungen. Als Journalistin weiß ich, dass viele meiner Kollegen, die über die NSA berichten, ihre Kommunikation verschlüsseln. Und inzwischen bekomme ich fast jeden Tag E-Mails von Leuten, die das zum ersten Mal gemacht haben. Unter der Oberfläche verändert sich einiges. Und trotzdem gebe ich Ihnen recht: Ich bin enttäuscht davon, wie die anderen Regierungen reagieren. Die könnten mehr unternehmen. Ich denke aber, dass wir schon Veränderungen sehen können. Und der NSA-Untersuchungsausschuss, auch wenn mehr passieren könnte, ist ein guter Schritt.
Fischer: Die Leute sagen: Ich habe nichts zu verbergen, was uns auch zeigen kann, wie sicher und frei sie sich fühlen in der westlichen Welt?
Poitras: Aber das stimmt natürlich nicht. Wenn Sie die gleichen Leute nach ihrem E-Mail-Passwort fragen oder die Kamera auf ihren Computer richten, dann sehen sie es sofort als Persönlichkeitsverletzung. Das ist kein ernsthafter Standpunkt.
Fischer: Wir können ja die Tatsache, überwacht zu werden, leicht verdrängen, weil wir das ja nicht sehen. Aber Sie, Laura Poitras, spüren deutlich, dass Sie überwacht werden, Sie stehen auf der Watch List mit Terrorismusverdächtigen, sind über 40 Mal an Flughäfen festgehalten worden, Sie mussten Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, um Ihr Filmmaterial zu sichern. Wie leben Sie damit?
Poitras: In einigen Berufen kennt man sich ja damit aus. Als Journalistin ist es meine Pflicht, meine Quellen zu schützen. Da bin ich mir der Gefahren dessen, was Regierungen tun, um an Daten zu kommen, natürlich sehr bewusst. Ich treffe Vorsichtsmaßnahmen, vielleicht mehr als andere Leute das tun müssen. Aber ich denke, der Wunsch nach Privatsphäre ist ein Grundrecht und ein menschliches Bedürfnis.
"Deutschland ist ein sehr guter Ort für mich"
Fischer: Sie leben seit zwei Jahren in Berlin, Warum glauben Sie eigentlich, dass Deutschland ein guter und sicherer Ort für Sie ist? Der BND kooperiert doch mit der NSA?
Poitras: Das stimmt. Aber dennoch: Ich denke es hat mit der deutschen Geschichte zu tun. Aufgrund der Nazi- und der Stasi-Vergangenheit haben die Menschen bestimmte Erfahrungen und auch ein historisches Gedächtnis. Und deshalb sind irgendwann Gesetze erlassen worden, um die Privatsphäre der Menschen zu schützen. Deshalb ist das hier ein sehr guter Ort für mich zum Arbeiten. Die Gesetze sind gut. Und es gibt gerade hier auch eine große Community, die sich mit diesen Themen beschäftigt: Der Chaos Computer Club zum Beispiel setzt sich für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte ein. Es gibt viele Aktivisten hier, die das Menschenrecht auf Privatheit schützen wollen.
Fischer: Ja, aber sieht unsere Regierung Sie nicht als eine Art Komplizin von Edward Snowden und wird Sie schon deshalb überwachen?
Poitras: Wenn wir von Journalisten als Komplizen sprechen, dann begeben wir uns auf schwieriges Terrain, was die Pressefreiheit angeht. Aber was meine Rolle angeht: Ich bin natürlich eine Journalistin.
Fischer: Das, worüber wir hier reden, ist eine Folge der Terroranschläge vom 11. September, die haben sich vor 13 Jahren ereignet. Ihre Filmtrilogie beschäftigt sich mit diesen Folgen - Irakkrieg, Guantanamo, Edward Snowden, glauben Sie, dass Amerika diese Traumata jemals überwinden wird und zu einem - wie soll ich es nennen - etwas rationaleren Verhalten zurückfindet?
Poitras: Manchmal ist es schon sehr deprimierend zu sehen, was mit der amerikanischen Außenpolitik passiert, 13 Jahre dauert dieser endlos scheinende "war on terror" jetzt schon, und er scheint sich noch auszuweiten. Aber ich muss hoffen, dass sich etwas ändern kann, und Deutschland ist mit seiner Geschichte ein gutes Beispiel dafür. Ich wünsche mir natürlich, dass die europäischen Regierungen mehr Druck auf die USA machen und darauf, wie sie international agieren. Denn ich glaube nicht, dass das irgendjemandem von uns mehr Sicherheit bringt.
"Die Kamera war das Letzte, worüber er sich Sorgen gemacht hat"
Fischer: Laura Poitras, als ich den Film schaute, hatte ich schon den Eindruck, dass er sehr wahrhaftig ist, frage mich aber, wie authentisch ein Filmdokument überhaupt sein kann, denn die Anwesenheit einer Kamera beeinflusst das Verhalten von Menschen.
Poitras: Was man da sieht im Hotelzimmer, ist, dass wir da zweifelsohne jemanden treffen, Edward Snowden, der große persönliche Opfer bringt, um sich mit Journalisten zu treffen. Und das hält der Film fest. Und Sie müssen sich vorstellen, er dachte, dass jeden Moment jemand die Tür eintreten und ihn festnehmen könnte. Und unter solchen Umständen war die Kamera, glaube ich, das Letzte, worüber er sich Sorgen gemacht hat.
Fischer: Aber was ist Ihr Verständnis von dokumentarischem Filmen? Viele Zuschauer sind der Meinung, Dokumentarfilme müssten objektiv sein. Ist das Ihr Anspruch? Ich denke, Filme können grundsätzlich nicht objektiv sein.
Poitras: In diesem Fall bin ich ja Teil des Films, Teil dessen, was passiert, insofern ist der Film von einer subjektiven Warte aus erzählt. Aber grundsätzlich interessiert mich bei meiner Arbeit immer, wie man größere Zusammenhänge anhand von Einzelpersonen und ihren Entscheidungen begreifen kann. Hier hat mich zum Beispiel interessiert, warum ein so junger Mann von 29 Jahren, der einen guten Job und eine Freundin hat, warum der das alles hinter sich lässt, um diese Informationen offen zu legen. Ich finde, das sagt etwas über die Zeit aus, in der wir leben.
"Ich verstehe mich als Journalistin und Künstlerin"
Fischer: Sie sagen immer, Sie wollten keine politischen Aussagen treffen mit Ihren Filmen, aber in Ihrer 9/11-Trilogie kann ich nichts anderes erkennen als politische Standpunkte. Sie treffen ja auch Entscheidungen durch den Schnitt, durch Fragen, die Sie Edward Snowden stellen und die Sie nicht stellen.
Poitras: Was ich gesagt habe ist, dass ich keine Anwältin bin, ich verstehe mich als Journalistin und als Künstlerin, und als solche befinde ich mich in besonderen historischen Umständen, die ich anderen mitteilen möchte. Ich möchte den Menschen erzählen, was in meiner Heimat, den USA passiert. Wir sind dabei, gegen Grundprinzipien zu verstoßen. Und ich finde schon, dass es die Aufgabe von Journalisten und Intellektuellen und Bürgern ist, zu sagen: Da läuft etwas ganz falsch. Warum haben wir in Guantanamo ein Gefängnis, in das wir Leute schicken, denen nie ein Prozess gemacht wurde. Warum töten wir Menschen mit Drohnen? Ich finde, da läuft einiges grundsätzlich falsch, und das will ich zum Ausdruck bringen, aber auch in meiner Funktion als Journalistin, indem ich informiere.
Fischer: Ist es auch schon vorgekommen, dass Sie durch die Arbeit an einem Film, durch die Recherche ihren Standpunkt hinterher geändert haben?
Poitras: Absolut. Ich beginne immer mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse, und mit bestimmten Vorstellungen, und die ändern sich bei der Recherche, zum Beispiel, wenn ich Leute treffe wie im Irak. Als Amerikanerin dachte ich, der Irakkrieg ist falsch, und ich bin dahin gefahren mit der Ansicht, dass es ein Widerspruch ist, Demokratie in ein Land zu bringen, indem man es besetzt. Aber dann habe ich dort viel Zeit mit Irakern verbracht und festgestellt, dass sie bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um wählen zu gehen. Und dann musste ich meine Sicht als Außenstehende ändern.
Fischer: Und wie war das im Fall von Edward Snowden? Sind Sie anders aus dem Hotelzimmer in Hongkong gegangen als sie reingegangen sind?
Poitras: Naja, die Informationen, die er vorgelegt hat, beschreiben ein Überwachungssystem, das sich keiner von uns jemals vorgestellt hätte. Nicht mal die Pessimistischsten unter uns. Deshalb ja, Dokumente zu haben, die darlegen, was die NSA tut, hat meine Sicht verändert, klar.
"Mir ist klar, dass ich Teil der Geschichte bin"
Fischer: Laura Poitras, Sie sind eine sehr gefragte Frau geworden mit Ihrem Film Citizenfour, Sie geben viele Interviews, jeder kennt Ihr Gesicht, obwohl Sie ungern im Vordergrund stehen. Das heißt, das Ganze wirkt sich auch auf Ihr Leben aus.
Poitras: Als wir den Film noch geschnitten und montiert haben, war es mir wichtig, das möglichst unbemerkt zu tun, ohne Öffentlichkeit. Aber seit der Film fertig ist, mache ich natürlich mehr Pressearbeit. Aber es geht mir nicht darum, dass ich erkannt werde auf der Straße. Mir ist natürlich schon klar, dass ich Teil der Geschichte bin, dass ich die Journalistin bin, die Edward Snowden kontaktiert hat, die ein Jahr darüber berichtet hat, und ich verstehe, dass es ein Medieninteresse gibt, da habe ich gar keine andere Wahl.
Fischer: Oliver Stone hat ja einen Spielfilm über Edward Snowden angekündigt, halten Sie das für eine gute Idee? Ich meine auch grundsätzlich in so einem Fall?
Poitras: Ich denke, die Geschichte wird bereits erzählt, und es wurde schon in langen Artikeln darüber geschrieben. Grundsätzlich finde ich, dass jeder, der noch weiter darüber arbeitet, mit den Leuten kooperieren sollte, die nah dran sind und die Bescheid wissen. Ich meine, das ist ja auch mein Leben, und man möchte doch nicht, dass das eigene Leben fiktionalisiert wird, ohne zu wissen, in welchem Kontext.