Das alte Modem piepst, die Verbindung ist schlecht wie in den Anfängen des Internet. Und trotzdem: Als Edward Snowden fast schüchtern von der riesigen Leinwand lächelt, folgt tosender Beifall. Snowden – ein Held, so scheint es. Doch das, so stellt er gleich zu Anfang klar, will er keinesfalls sein.
"Wenn du eine Bedrohung siehst oder ein Problem, mach dir klar: Es gibt keine Helden auf dieser Welt! Nach Helden Ausschau zu halten, heißt, dass du glaubst, dass es besondere Menschen gibt. Es gibt nichts, was dich von ihnen unterscheidet! Ich bin kein Held! Ich bin ein Bürger! Genau wie du!"
In jedem von uns stecke ein potentieller Held, meint Snowden fast verschwörerisch. Was er dabei verschweigt, aber natürlich selbst am besten weiß: Whistleblower zahlen einen hohen Preis für ihren Mut. Vor allem in Deutschland, wo es keine expliziten Whistleblower-Schutzgesetze gibt.
Mobbing, Kündigung, Depressionen, Trennung, Frühverrentung – nicht immer, aber oft verläuft das Leben von Whistleblowern genau in dieser Reihenfolge.
"So wie es jetzt aussieht, speziell für Deutschland, kann ich keine generelle Empfehlung dazu geben, insbesondere externes Whistleblowing zu betreiben. Das ist ein rechtlich extrem hohes Risiko, und ne Garantie dafür, dass ein Missstand abgestellt wird, gibt es nicht", sagt Dr. Nico Herold. Der Jurist hat seine Dissertation an der Uni Bielefeld über das Thema Whistleblowing geschrieben. Und kam nach 28 Interviews zum Ergebnis: Jeder kann theoretisch zum Whistleblower werden.
Missstände vor dem Hintergrund der persönlichen Akzeptanz
Doch es gibt einen bestimmten Persönlichkeitstypen, der dafür prädestiniert ist, aus der schweigenden Masse hervorzutreten: "Der ethisch-proaktive Typ entspricht am ehesten dem Stereotypen eines Whistleblowers: nämlich eines ethisches Dissidenten, der sagt: 'Ich kann das ethisch nicht mit mir vereinbaren, und deshalb muss ich handeln!' Also das ist jemand mit einem hohen ethischen beruflichen Standard, das sind auf jeden Fall die Personen, die einen Missstand auch immer vor dem Hintergrund der persönlichen Akzeptanz sehen."
Je gravierender der Missstand – etwa wenn es um Menschenleben geht - desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitwisser sein Schweigen bricht, sagt Nico Herold.
Rückblende. Sommer 2015. Ein Urlaub am Meer. Immer wieder tauchten Bilder im Kopf des Anästhesisten und Palliativmediziners Dr. Matthias Thöns auf. Es waren Bilder aus seinem Berufsalltag, die ihn verfolgten. Etwa die alte Dame mit der schweren Demenz, die bettlägerig, stuhl- und harninkontinent war und nicht mehr reden konnte.
"Sie entwickelte dann im Rahmen der folgenden Notfallbehandlung nen Herzstillstand, ist dann wiederbelebt worden und ist dann über längere Intensivmedizin eben nicht wieder fit geworden. Sie ist dann in ein Pflegeheim zur Beatmungspflege gekommen, obwohl es einen Patientenwillen gab, dass sie so was nicht will. Und ist dann neun Monate lang praktisch mit so ner Intensivbehandlung behandelt worden. Das war praktisch ein Martyrium über neun Monate, und unter'm Strich waren da mehr als 150.000 Euro, die dieses Intensivpflegeheim damit verdient hat. Und das ist schon nicht richtig."
Ein Mediziner, der nicht länger schweigen konnte
Sein Vorwurf: Patienten werden sogar in solchen Fällen künstlich beatmet oder ernährt, in denen eine Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen ausschließe. 17 Jahre lang beobachtete Matthias Thöns viele dieser Geschichten. Und konnte nun nicht länger schweigen.
"Und am Anfang bin ich dazu übergegangen, dass ich dann den Chefärzten nen Brief geschrieben hab, die Reaktion geht von einem deutlich bösen Schreibens des Klinikvorstandes an mich, dass ich ja nur einen kurzen Einblick in die Materie habe. Ich bin ja nur ein kleiner, niedergelassener Arzt, bin ja nicht mal habilitiert, da zählt meine Meinung nicht allzu viel."
Matthias Thöns versuchte, wo auch immer es ging, auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Ganz typisch, so Nico Herold.
"Die meisten – das ist in Übereinstimmung mit der internationalen Forschung – fangen immer intern an. Das ist so ein natürlicher Fairnessgedanke, und man möchte auch wenig Ärger haben, Man versucht es erst intern, und zwar so lange es irgendwie geht."
Lange Phase des Zögerns
Niemand wird von heute auf morgen zum Whistleblower, weiß der Jurist. Er stieß in allen untersuchten Fällen auf eine lange Phase des Zögerns, der Unsicherheit. Taktieren, Nachforschen, Daten sammeln, Strategien entwerfen und wieder verwerfen. Und Verbündete suchen.
"Ich habe dieses Problem wirklich lange geduldig ertragen. Und ich habe immer wieder mit Kollegen darüber gesprochen und viele Kollegen haben das auch beobachtet, was ich beobachte. Man ist so in dem Frust drin‚ naja, wir können's ja nicht ändern!"
Nico Herold konnte in seiner Dissertation an der Uni Bielefeld den Prozess, den jeder Whistleblower durchlebt – egal, ob extern oder intern - modellhaft aufzeigen. Schritt 1: Den Missstand wahrnehmen. Schritt 2: Versuchen, den Missstand intern abzustellen.
"Die internen Adressaten reagieren aber nicht immer so wie gewünscht. Sondern oft mit Repressionen, weil das Interesse des Verantwortlichen auch nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit dem Interesse der Organisation. Konkret heißt das: Wenn Sie Missstände melden, gerade wovon auch Leute profitieren, dann haben Sie natürlich Interessen, die gegen Ihre laufen. Und das führt nicht zu einem Konsens, sondern dazu, dass repressiv reagiert wird."
Mauer aus Abwehr, Ignoranz und Bagatellisierung
Dass Matthias Thöns überall gegen eine Mauer aus Abwehr, Ignoranz und Bagatellisierung pralle, sei typisch. Das sagt auch Johannes Ludwig. Der emeritierte Professor für Management und stellvertretende Leiter des deutschlandweiten Whistleblower Netzwerks weiß: Für diese fast reflexhafte Abwehr gibt es in der Wissenschaft sogar eine Erklärung:
"Es gibt in der Psychologie und in der Organisationslehre diesen Begriff 'Das Paradoxon der Macht': Dass selbst Menschen tatsächlich noch ein Gefühl für Gerechtigkeit und für Anstand und für Fairness haben, in dem Moment, wo sie aufsteigen und Macht ausüben, geht das ganz schnell verloren, und deswegen üben sie dann auch Macht aus, wenn irgendeiner kommt und sagt, 'Komm, hier läuft irgendwas schief!', weil der Vorgesetzte das sofort auf sich bezieht: da steh ich ganz doof da, und damit ich da keinen Imageschaden erleide, versuche ich den Whistleblower kaltzustellen oder ihn zu entlassen oder sonst irgendwas."
Genau das konnte Nico Herold in seiner Dissertation bestätigen: Schritt 3 der typischer "Whistleblower-Karriere": Repressionen durch Vorgesetzte oder Kollegen. Etwa Mobbing, Versetzung ins fensterlose Kellerbüro, die Beförderung fällt flach, bis hin zur Kündigung.
"Das führt bei den meisten Menschen nicht dazu, dass sie einknicken, sondern dass sie sagen: okay, wenn es jetzt an meine persönlichen Interessen geht, (…) meine Karriere zum Beispiel, dann bleiben die Leute dran. Und lassen erst recht nicht locker und versuchen, Gegendruck aufzubauen: (…) Indem man z.B. sagt: "Ich kann auch an die Presse gehen!" 15‘45" So schaukelt sich das immer mehr hoch, und je mehr Sie den Whistleblower durch diese Repressionen und Vergeltungen in die Ecke drängen, desto höher ist der Druck, nach außen zu gehen."
Und dann passiert genau das, was die Unternehmen und Behörden am meisten fürchten: Die Missstände gelangen an die Öffentlichkeit: Medienberichte, Internetblogs, Leaks, Anzeige bei der Staatsanwaltschaft oder bei Kontrollbehörden. Ein Albtraum für Unternehmen. Und für Regierungen, wie etwa die US-amerikanische:
"Wenn du mit so einer Sache in deinem Land, in deinem Leben konfrontiert bist, reicht es nicht, wenn du feststellst, dass eine Ungerechtigkeit eine Ungerechtigkeit ist. Es gibt Zeiten, in denen wir nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung haben, für etwas einzustehen. Und der Erste zu sein, der sagt: "Ich bin nicht einverstanden!"
"Ich bin nicht einverstanden!" das sagte sich auch der Palliativmediziner Matthias Thöns. Mit Übertherapien am Lebensende, die in seinen Augen ein einziges Ziel verfolgten: nämlich Geld zu machen. Er ging nach langem Zögern an die Öffentlichkeit und schrieb ein Buch mit dem Untertitel "Das Geschäft mit dem Lebensende."
Hinweise von Whistleblowern werden oft sofort abgewehrt
Also nach Herausgabe des Buchs habe ich schon deutliche Angriffe bekommen, das ging dahingehend, dass man klar gesagt hat: Man arbeitet jetzt mit unserem Palliativteam nicht mehr zusammen, (…)" Die Vorwürfe waren "alles gelogen", die Vorwürfen waren, dass ich sage, dass Chemotherapie in den letzten Lebenswochen nicht sinnvoll ist, dass ich das ja nur aus dem Nachgang beurteile, dass man das ja vorher nicht weiß, (…) und ich wurde da sehr zerrissen mit verschiedensten Argumenten."
Es klingt absurd: Hinweise von Whistleblowern werden erst gar nicht auf ihre Berechtigung geprüft, sondern sofort abgewehrt. Man will den eigenen guten Ruf schützen – und bewirkt letztlich das Gegenteil:
"Das Interessante daran ist, dass eigentlich die interne Eskalationsspirale, diese Repressionen, am Ende externes Whistleblowing – was man eigentlich dadurch vermeiden wollte – erst produzieren!"
Unternehmen wollen keine externen Whistleblower und haben deshalb anonyme Hotlines oder internetbasierte Meldesysteme eingerichtet – mit unterschiedlichem Erfolg. Das Gesetz schützt Whistleblower jedenfalls nicht. So dass sich jeder Mitwisser sehr gut überlegen muss, ob er wirklich zum Whistleblower werden will. Bei Matthias Thöns haben sich die Wogen etwas geglättet. Der Palliativmediziner arbeitet nach wie vor in derselben Stadt und im selben Palliativnetzwerk.
"Also mein großer Wunsch ist, dass ich mit dem Buch etwas zu einer besseren Medizin bewegen kann. Wenn ich das Ziel erreiche, dann hätte ich viel erreicht."
Edward Snowden beendet seinen Vortrag mit sehr eindringlichen Worten: "One voice, your voice, can change the world! Thank you." "Eine Stimme, deine Stimme kann die Welt verändern!"