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So klug als wie zuvor

Die ganze erste Hälfte des Dramas findet auf einem kleinen Streifen am vorderen Bühnenrand statt. Die Zueignung und der Prolog im Himmel sind gestrichen. Es gibt keinen Pudel, keine Studierstube, keinen Osterspaziergang. Nur Worte vor einer hohen schwarzen Wand, die sich gleich hinter Faust langsam dreht, die ganze erste Hälfte lang. Leichten Schwindel erzeugt Thalheimer immer mit einfachen Mitteln. Die Reduktion ist Hauptmerkmal auch diesen Stücks, es ist provokant unsinnlich, denn sehr viel mehr als Worte wird es nicht geben, nur später, wenn sich das hohe schwarze Rund endlich öffnet, ein weißes Bett aus Stahlrohr, dahinter ein kleines Kreuz, das sich signifikant verschieben wird, und noch später Blut.

Von Karin Fischer |
    Bühnenbildner Olaf Altmann hat für diesen Faust, der gefühlsmäßig außerhalb der lebendigen Welt steht, ein starkes Bild gefunden, und Regisseur Thalheimers Programm der wenigen aufgeladenen Gesten und Zeichen kongenial unterstützt. Und: Thalheimer erweist sich hier wieder als Meister des Rhythmus und des Abstands. Ein paar Beispiele: Wenn Faust am Schluss versucht, Gretchen zu retten, bleibt er lange ganz weit weg von ihr stehen. Ihre Frage "Wie hältsts dus mit der Religion?!" beantwortet er fast unverständlich in den Bühnenhintergrund hinein; und dieser Dialog wird dann noch fünf Mal wiederholt, und Faust, der in der Liebe zu Gretchen fast authentisch war, jedenfalls "bei sich", spaltet sich wieder auf in Rollen, und es wird klar, dass, wenn dieser Charakter auf eine so deutliche Forderung der Gesellschaft stößt, nichts anderes entsteht, als ein neues fundamentalistisches Ego.

    Es gibt wenig Musik diesmal, nur einmal, nach dem Pakt mit dem Teufel, den Song "Child in Time" von Deep Purple; Faust tanzt ein bisschen, die Musik dient seiner Initiation, und man erlebt, wie er ein anderer Mensch wird, auch ohne Auerbachs Keller oder Hexenküche. Das ist nicht das geschwätzige Seelendrama eines unbefriedigten Geistes oder Tatmenschen, und schon gar nicht jene Tragödie, die als Schullektüre den Goetheschen Gedankenhorizont abzuschreiten versuchte, indem sie ihn zwangsläufig verkleinerte. Thalheimer hat auch diesen Text stark reduziert, aber im Gegensatz zu Kleists "Familie Schroffenstein", die er zuletzt für Köln inszenierte, ihm keine Gewalt angetan.

    Thalheimer hat den Individualisierungsgedanken Goethes weiter zugespitzt und gibt diesem Faust die Gesten der Egomanen unserer Tage. So dass Ingo Hülsmann das ganze Register ziehen kann, von monotoner Verzweiflung und Weltekel über die große Geste des Popstars bis hin zur Sprache einer nicht ganz unbekannten deutschen Führerfigur, die hier anklingt:

    "Du Erdgeist bist mir näher...."

    Dieser Mann leidet weniger an der Welt als er aus sich heraus eine Welt erschafft. Von lähmender Verzweiflung bis zum Größenwahn ist es die narzisstische Grunddisposition, die hier zuerst als Hybris, dann als Wille zur Macht erscheint. Dazu passt auch, dass Mephisto nicht der schlaue Schmeichler ist, sondern mit Sven Lehmann ein eher derber Kraftmensch, der Faust umpolt, indem er ihm eine Hand an die Stirn legt. Das ist, was Faust berührt.
    Das Gretchen ist der Schwachpunkt dieser Inszenierung, das manierierte Thalheimersche Sprechen wirkt bei ihr aufgesagt, Menschen unter Druck haben es damit leichter als eine naive Unschuld. Am Schluss ist sie eindeutiges Opfer, und Faust und Mephisto das männerbündlerische Gespann, das ungerührt über sie hinweggeht. Das ist der Preis der Freiheit.

    Ganz am Ende stehen einige Zeilen aus "Faust II", ein hoffnungsfrohes Glühen, das noch offen lässt, ob die Fackel des Lebens zum alles vernichtenden Feuer wird. Mit diesem Schluss hat Thalheimer noch einmal seine Sicht auf den Faust unterstrichen und gleichzeitig auf den zweiten Teil, den er im nächsten Jahr inszenieren wird, verwiesen. Der Text aus "Anmutige Gegend" und diese zwei Männer, Faust und Mephisto, gestützt auf ein blutverschmiertes Gretchen, machen das Stück aber auch zu einer Parabel über den Herrschaftsanspruch des Menschen mit unbekanntem Ausgang. Und damit ist dieser Faust nicht mehr so deutsch, aber ziemlich zeitgemäß.