Sabine Adler: Herr Steinmeier, vor einem Jahr war ihr Sommer eindeutig anstrengender als dieser Sommer. Können Sie es ein bisschen genießen, mehr Zeit zu haben?
Steinmeier: Es war ein ganz anderer Sommer - hoch spannend. Also, ich freue mich durchaus, dass ich seit langer Zeit - wenn ich zurückdenke, seit jenen Ereignissen am Schwielowsee, die ja nicht nur für die SPD, sondern auch darüber hinaus eine gewisse öffentliche Bedeutung hatten, jetzt zum ersten Mal wieder zwei Wochen am Stück hatte. Das hat gut getan.
Adler: Mögen Sie die Rolle in der Opposition inzwischen für sich selbst auch?
Steinmeier: Nun, es ist nicht die Rolle, für die ich mich beworben habe. Ich habe über 20 Jahre Regierungspolitik zunächst in einem Bundesland und dann im Bund gerne gemacht, weil ich gerne die Dinge versuche, von vorne zu gestalten und nicht über die Oppositionsrolle ausschließlich nachträglich Einfluss zu nehmen versuche. Aber der Wähler hat entschieden und da gibt es kein Nachkarten und kein Betrauern einer Wahlentscheidung vom vergangenen September. Es ist nicht die Entscheidung, die ich wollte, nicht die Entscheidung, für die ich unterwegs gewesen bin landauf, landab - aber natürlich eine Wahlentscheidung, die ich und die wir zu akzeptieren haben.
Adler: Die Zeit in der Opposition ist immer auch eine Zeit, in der die Partei eine neue Standortbestimmung vornehmen kann, wo sie gucken kann, welche Positionen stimmen noch, wo muss man was neu machen. Im September ist ein Parteitag geplant, da wird unter anderem auch die Rente mit 67 eine Rolle spielen. Erwarten Sie da eine erste Positionsveränderung?
Steinmeier: Ich glaube, das ist jetzt ein bisschen zu kurz gegriffen in der Frage. Wenn Sie die Zeit seit dem 27. September vergangenen Jahres beobachten und sich in Erinnerung rufen, dann sehen Sie doch, dass Sigmar Gabriel und ich gemeinsam im Verein mit vielen, die sich darum bemühen, versuchen, die Partei und die Fraktion neu aufzustellen, auch so zu positionieren, dass wir bei einer nächsten Wahlentscheidung 2013 nicht nur auf Augenhöhe mit der Union agieren, sondern auch wieder als Regierungskraft in Betracht kommen. Die gegenwärtigen Umfragen sprechen sogar dafür, dass sich die Mehrheit der Deutschen das wünschen.
Und zu dieser Neuaufstellung gehört in der Tat auch, dass man Positionen der Vergangenheit überdenkt und kontrolliert, ob das, was man als Regierung angestoßen hat, sämtlich in die richtige Richtung gelaufen ist. Der nächste Parteitag der SPD jetzt Ende September wird sich nicht im Kern mit Rentenfragen beschäftigen, sondern mit der Zukunft der Wirtschaftspolitik in diesem Lande. Darunter werden aber demografische Fragen und die Rentenfragen eine Rolle spielen, ja.
Adler: Sie haben die Umfragewerte angesprochen. Was, glauben Sie, ist jetzt in der Partei anders geworden, dass sie wieder positiver wahrgenommen wird?
Steinmeier: Das, was sich deutlich verändert hat, und das bekomme ich rückgespiegelt - nicht nur bei Diskussionen innerhalb der SPD, die wir natürlich viele haben und hatten, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit - wohltuend wird inzwischen wahrgenommen, dass die SPD in der Lage ist, Botschaften wirklich profiliert zu senden. Wir hatten in der Vergangenheit vielleicht zu häufig das Problem, dass Regierungsposition und Oppositionsposition beide auch aus der SPD gesendet worden sind. Das ist gegenwärtig nicht der Fall.
Das, was wir hingekriegt haben - Sigmar Gabriel als Parteivorsitzender und ich als Fraktionsvorsitzender -, dass wir uns zu den wichtigen Fragen eng abstimmen und gemeinsame Positionen der SPD auch nach außen hin deutlich machen. Wir werden besser verstanden als das in der Vergangenheit offenbar in einigen Fällen der Fall war.
Adler: Kommen wir noch mal zur Rente mit 67. Die Rente mit 67 ist eine Forderung, die SPD-Mitgliedern, aber auch in der Bevölkerung richtig weh getan hat, die sie gerne rückgängig machen wollten. Kann es überhaupt angesichts des Fachkräftemangels, der der Wirtschaft droht, angesichts auch jetzt freibleibender Lehrstellen, die das Handwerk beklagt - kann man angesichts dieses absehbaren Arbeitskräfte-, zumindest nicht mehr -überschusses, davon ausgehen, dass wir jemals wieder kürzer arbeiten?
Steinmeier: Die Rente mit 67 oder die Entscheidung dafür ist eine, die nicht überall Gefallen gefunden hat. Entscheidender aber noch ist, dass wir in den fünfziger Jahren Rentenbezugszeiten von acht Jahren hatten. Heute sind es im Durchschnitt 18 Jahre. Deshalb wird es notwendig sein, dass wir insgesamt länger arbeiten. Die Frage, und das ist die, die Sie meinen, ist: Müssen wir über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten? Ich denke, daran wird im Ergebnis kein Weg vorbeigehen.
Adler: Ihr Parteifreund Peer Steinbrück hat es als einen "Tabubruch" bezeichnet, als seinen größten politischen Fehler, die Rentengarantie mit zu verabschieden, im Kabinett ihr zuzustimmen. Wie sehen Sie das, ist das tatsächlich eine Ungerechtigkeit an der jüngeren Generation, die man rückgängig machen muss?
Steinmeier: Was Peer Steinbrück meint, ist die Frage, ob man eine rechtliche Garantie des Inhalts schaffen sollte, dass es für die gegenwärtigen Rentner nicht nur Nullrunden gibt, wie wir sie in der Vergangenheit häufiger und manchmal auch in mehreren Jahren aufeinander hatten, sondern auch Negativentwicklungen, sprich Senkungen der Rente. Da bin ich allerdings der Meinung, das haben wir in der Rentenformel abgesichert, dass die Rentenentwicklung dann, wenn die Arbeitsmarktergebnisse nicht besonders erfolgreich sind und die Konjunkturentwicklung wie in diesen Phasen der Krise eher negativ ist, dass dann auch Nullerhöhungen, sprich Verzicht auf Rentenerhöhungen möglich sind. Ich glaube, mehr kann man nach der Senkung des Rentenniveaus, die ja Bestandteil der Reformen des letzten Jahrzehntes waren, kaum zumuten.
Adler: Wir haben eine andere Baustelle sozusagen, Hartz IV, die gegenwärtig noch mal in Angriff genommen werden muss. Es müssen transparente Kriterien für die Findung der Sätze für die Hartz-IV-Empfänger aufgestellt werden. Das ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar, die nachträglich der rot-grünen Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Wie wirkt das eigentlich auf Sie, wenn nachgebessert wird, was Sie verabschiedet haben?
Steinmeier: Wissen Sie, ich hab das auch erlebt nach 1998, dass wir mit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts konfrontiert wurden, die Gesetzesentscheidungen der Jahre zuvor aus Mitte der 90er-Jahre korrigierten. Die jetzige Bundesregierung hat jetzt eine Entscheidung umzusetzen, die sich mit einer Gesetzgebung zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts befasst. Also, das ist für eine Bundesregierung nichts Ungewöhnliches, das ist ihr auch abzuverlangen und zu erwarten, dass die das korrekt tut.
Es ist im Augenblick bei der Frage der Hartz-IV-Sätze im Grunde genommen dieselbe Situation wie bei der Wehrpflicht oder bei der Gesundheitsreform. Jeder sagt seine Meinung, es ist bisher keine Linie zu erkennen. Deshalb ist es für die Opposition auch relativ schwer, zu kritisieren, was am Ende da möglicherweise herauskommt. Der eine oder andere in der Regierungskoalition will jetzt schon sehen, dass es zur Erhöhung der Hartz IV-Sätze kommt, andere dementieren das heftig. Das, was ich als Vorsitzender der SPD-Fraktion sagen kann: Die sollen ihre Hausarbeiten machen, die sollen vorlegen, was sie an Zahlenmaterial haben, dann einen Vorschlag ins Kabinett einbringen und mit dem werden wir dann umgehen.
Adler: Das klingt nicht so, dass Sie mit einer Erhöhung der Hartz IV-Sätze rechnen. Sind Sie der Meinung, dass hier Erhöhungen notwendig wären?
Steinmeier: Das Gericht jedenfalls hat den Weg zu Erhöhungen, möglicherweise beschränkt auf den Bereich der Hartz-IV-Sätze für Kinder, jedenfalls gezeigt. Aber ich will die Zahlen der Bundesregierung, die demnächst vorgelegt werden, dazu gerne abwarten und dann meine Haltung dazu einnehmen.
Adler: Das heißt also, Sie rechnen als Fraktionsvorsitzender nicht damit, dass der Betrag erhöht werden muss?
Steinmeier: Das ergibt sich jedenfalls nicht zwingend aus den Ankündigungen unterschiedlicher Teilnehmer und Beteiligter der Bundesregierung.
Adler: Und die SPD hat eine Haltung dazu, erhöhen oder nicht erhöhen?
Steinmeier: Ich glaube, dass man im Bereich der Kinder kaum an einer Erhöhung vorbeikommt.
Adler: Halten Sie es für zwingend nötig, dass, wenn Sie davon ausgehen, dass sich der Beitragssatz für die Kinder erhöht, dass es damit dann gut sein muss? Oder muss der Beitragssatz erhöht werden und müssen Sachleistungen, wie zum Beispiel Nachhilfeunterricht, noch zusätzlich da draufkommen?
Steinmeier: Ja, zunächst schien es ja so, dass die Bundesregierung sich ganz beschränkt nur auf das Angebot von vermehrten Sachleistungen. Inzwischen, habe ich gesehen, haben sich viele auch in den gegenwärtigen Regierungsparteien für eine Erhöhung der monatlichen Zahlungen ausgesprochen. Es würde mich nicht wundern, wenn man am Ende zu einer Kombination von Zahlungen, Zahlungserhöhungen und Sachleistungen kommen wird.
Adler: Das wäre etwas, was die SPD mittragen könnte?
Steinmeier: Das schauen wir uns dann an, wenn es auf dem Tisch liegt.
Adler: Im Herbst, wenn die parlamentarische Sommerpause vorbei ist, geht es mit vielen Gesetzesinitiativen weiter im Parlament, unter anderem mit der Gesundheitsreform, mit der Debatte über die Wehrpflicht, mit der Luftverkehrsabgabe, mit der Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Welches dieser Gebiete wird das sein, in dem die SPD, um mit ihrem Vorsitzenden zu sprechen, "Attacke reitet"?
Steinmeier: Ja, Sie können jedenfalls sicher sein, wir werden uns bei keinem dieser Themenfelder raushalten. Was ich gegenwärtig beobachte jetzt zur Mitte der Sommerpause, ist, dass es jedenfalls der Bundesregierung nicht gelungen ist, in auch nur einem dieser Themenfelder Beruhigung zu schaffen. So hat sich die Kanzlerin dann selbst in den Urlaub verabschiedet. Der Streit zwischen allen Beteiligten geht weiter, vielleicht am lautesten bei der Gesundheitsreform, aber nicht wesentlich leiser bei den Themen Wehrpflicht, Zukunft der Wehrpflicht und insbesondere Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke.
Wir werden auf allen diesen Feldern präsent sein. Ich weiß nicht, welches das erste Thema sein wird, es könnte durchaus sein, dass wir demnächst schon mit Vorschlägen aus dem Umwelt- oder Wirtschaftsministerium befasst werden, was die Verlängerung der Laufzeiten angeht. Das wird die Debatte sein, in die wir auf jeden Fall einsteigen werden.
Und erlauben Sie mir, als jemand, der damals im Auftrage der rot-grünen Bundesregierung den Atomkonsens verhandelt hat: Vieles an der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der Regierung verstehe ich nicht. Da wird so getan, als brauchten wir jetzt eine Brückentechnologie. Das genau war der Sinn des Atomkonsenses des Jahres 2000, zu den Restlaufzeiten - durchschnittlich 32 Jahre Laufzeit für jedes Kernkraftwerk - sind wir deshalb gekommen, weil auch so eine Brücke zu den erneuerbaren Energien geschaffen werden sollte. Das ist uns im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern sogar ganz gut gelungen. Jetzt das Thema Brückentechnologie wieder aus der Kiste zu holen, um jetzt eine noch malige - 10 Jahre, 15 Jahre, 20 Jahre - Verlängerung der Laufzeit durchzusetzen, halte ich wirklich nicht für seriös.
Adler: Nun klingt das ja sehr verlockend, eine Brennelementesteuer einzuführen und damit die Entwicklung, zum Beispiel von Speicherkapazitäten für erneuerbare Energien auszubauen und zu befördern. Das klingt doch nicht so, als müsste man sich dagegen mit Händen und Füßen wehren?
Steinmeier: Wissen Sie, wir haben in Deutschland ein damals von der Union kritisiertes, heute nicht nur akzeptiertes, sondern sogar beworbenes Förderinstrument auf den Weg gebracht. Das ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Ich habe in meiner Zeit als Außenminister viele, unzählige Gespräche im Ausland geführt, weil sich viele dieses Gesetz zum Vorbild genommen haben. 40 Länder weltweit orientieren sich an diesem deutschen Gesetz. Mit 80 Ländern insgesamt waren wir im Gespräch, weil auch andere Interesse daran gezeigt haben. Deshalb habe ich wenig Respekt vor neuen Begründungen der gegenwärtigen Regierung, die ja im Kern doch nicht auf den stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien hinauslaufen, sondern vor allen Dingen zur Begründung der Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken dienen.
Aber unabhängig davon, wo wird das denn enden? Da gibt es einige in der Union, die sprechen von acht bis 15 Jahren Verlängerung der Laufzeit. Wenn ich Herrn Seehofer richtig in Erinnerung habe, spricht der sich für eine unbefristete Verlängerung der Laufzeit aus. Ich habe das Ergebnis der Sparklausur der Bundesregierung zur Kenntnis genommen. Da hat man sich für die Brennelementesteuer ausgesprochen. Die CSU oder jedenfalls der bayerische Ministerpräsident ist offenbar dagegen.
Also, da herrscht doch viel, viel Konfusion, vor allen Dingen aber eine zentrale Illusion, dass man nämlich am Ende mit einem Vorschlag, wie immer er auch aussehen wird, am Bundesrat vorbei kommt. Und das wird nicht gelingen.
Adler: Werden die Bundesländer einer Brennelementesteuer zustimmen, die SPD-geführten Bundesländer im Bundesrat?
Steinmeier: Nein, die Kernfrage ist ja erst mal, wird man einer Verlängerung der Laufzeiten zustimmen?
Adler: Richtig.
Steinmeier: Und da gibt es einige in der Bundesregierung, die offenbar der Meinung sind, dass das ohne den Bundesrat geht. Ich bin fest davon überzeugt, das werden auch die CDU-regierten Länder nicht mitmachen. Und es hat eine wichtige politische Veränderung gegeben. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen haben wir dort ein rot-grünes Kabinett, das von seinen Möglichkeiten im Bundesrat sicherlich Gebrauch machen wird.
Adler: Noch mal zur Brennelementesteuer. Wird die SPD im Bundestag dieser neuen Steuer zustimmen?
Steinmeier: Also, ich verstehe ja, dass Sie gerne über die Brennelementesteuer reden wollen. Nur ist das nichts Neues. Das ist Teil des Wahlprogramms der SPD gewesen. Die Kernfrage ist doch, kommt es zu einer Verlängerung der Laufzeiten? Wenn ich die Dinge richtig bewerte, wird es jedenfalls irgendeinen Vorschlag der Regierung dahin geben, und dagegen werden wir massiv anstreiten.
Adler: Das heißt, keine Brennelementesteuer mit der SPD?
Steinmeier: Das heißt, keine Verlängerung der Laufzeiten mit der SPD.
Adler: Es gibt eine andere Einnahmequelle, die sich die Bundesregierung erschließen möchte, nämlich über die Luftverkehrsabgabe. Da gibt es erste Äußerungen, dass es da schon wieder Einschränkungen geben soll: Nicht für innerdeutsche Flüge, sagt die FDP. Aber im Prinzip ist das eine Einnahmequelle, die auch von SPD-Seite schon mal erwogen worden ist. Wäre da die Zustimmung zu bekommen?
Steinmeier: Wissen Sie, die Art und Weise, wie die Regierung mit der Luftverkehrsabgabe umgeht, ist fast symbolisch. Ich habe mir die Ergebnisse der Sparklausur der Regierung angesehen. Mein Eindruck ist, da war wenig oder da war nichts vorbereitet. Da sind Zahlenkolonnen untereinandergeschrieben worden, unabhängig davon, welche Vorentscheidungen noch getroffen werden müssen. Und die Luftverkehrsabgabe zeigt doch deutlich, auch ohne Vorbereitung, welche Verwerfungen im Wettbewerb man damit auslöst. Und jetzt, nachdem die Einnahme kalkuliert worden ist, beginnt man mit Überlegungen, wie man die Luftverkehrsabgabe so gestaltet, dass es zu möglichst keiner Wettbewerbsbenachteiligung deutscher Fluggesellschaften im nationalen und internationalen Wettbewerb kommt. Ein bisschen spät, finde ich.
Adler: Und noch mal die Frage: Kann die SPD einer Luftverkehrsabgabe zustimmen?
Steinmeier: Wissen Sie, wir verhalten uns zu Gesetzen, die auf den Weg gebracht worden sind, nicht zu Ideen Einzelner innerhalb der Bundesregierung.
Adler: Eine Idee eines bislang Einzelnen ist die von Herrn zu Guttenberg, die Wehrpflicht auszusetzen. Was sagen Sie zu dieser Idee? Wieder kein Kommentar, weil es die Idee eines Einzelnen ist? Sie wird aber debattiert, unter anderem in der Unionspartei.
Steinmeier: Nein, keine Frage. Was Herr Guttenberg nicht versteht, ist, in welcher Tradition in diesem Lande Außen- und Sicherheitspolitik gemacht wird. Es wird vielfach gelobt - und ich habe als Außenminister auch davon gelebt -, dass es große Kontinuitäten in der Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland gibt seit 1949, unabhängig davon, wer eine Bundesregierung führte, SPD oder Union in der Vergangenheit. Aber diese Kontinuität, die vielfach gelobte, hat Voraussetzungen. Und die Voraussetzung dafür ist und war, dass man in den weichenstellenden Entscheidungen auch frühzeitig den Dialog mit der jeweiligen Opposition gesucht hat.
Ich habe nicht verstanden, warum man sich in der Koalitionsvereinbarung auf eine Formel zur Wehrpflicht verständigt hat, die ja nichts anderes ist als die kalte Abschaffung der Wehrpflicht. Sechs Monate Wehrpflicht kann ich nicht als eine vernünftige Fortentwicklung der Wehrpflicht empfinden. Aber nachdem diese sechs Monate Wehrpflicht gerade ins Gesetzgebungsverfahren eingespeist worden sind, findet eine Sparklausur statt, und Herr Guttenberg als zuständiger Verteidigungsminister schlägt dann plötzlich und unerwartet unter dem Druck der Einsparungszwänge den Wegfall der Wehrpflicht, ersatzlos den Wegfall der Wehrpflicht oder die Aussetzung der Wehrpflicht vor. Das scheint mir nicht das Ergebnis von sicherheits- und verteidigungspolitischen Überlegungen gewesen zu sein, sondern scheint mir eher der einfachste Weg gewesen zu sein, den Sparanforderungen des Finanzministers Rechnung zu tragen.
Ich finde, so macht man keine seriöse Sicherheits- und Verteidigungspolitik und so geht man auch mit der Opposition nicht um, wenn es um die für uns immerhin nach 60 Jahren Geschichte der Bundesrepublik wichtige Frage der Zukunft der Wehrpflicht geht. Ich selbst gehöre eher zu den Befürwortern der Wehrpflicht und tue mich sehr schwer mit den Vorschlägen, sie abzuschaffen.
Aber ich sage Ihnen auch offen: Ich verhehle nicht, dass die Wehrpflicht im letzten Jahrzehnt unter Druck geraten ist. Einerseits aus demografischen Gründen, weil wir immer weniger junge Männer eines Jahrgangs tatsächlich einziehen zum Grundwehrdienst, und zum anderen natürlich auch, vielleicht noch gravierender, weil sich die Aufgaben der Bundeswehr auch durch Auslandseinsätze dramatisch verändert haben.
Ich weiß das, nehme das zur Kenntnis. Ich weiß das auch als Befürworter der Wehrpflicht und werde mich deshalb der Diskussion über die Zukunft der Wehrpflicht auch nicht verweigern. Das setzt aber voraus, dass der Verteidigungsminister sich endlich um ein geordnetes Gespräch mit der Opposition bemüht.
Adler: Sie haben von der dramatischen Entwicklung für die Bundeswehr gesprochen. Sehen Sie die auch im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von zehntausenden Geheimdokumenten auf der Website von WikiLeaks? Kann also, mit anderen Worten, Ihr Nachfolger im Auswärtigen Amt, Guido Westerwelle, jetzt ruhig schlafen?
Steinmeier: Ja, der ruhige Schlaf ist einem als Außenminister nicht immer gegönnt. Das habe ich selbst kennengelernt. Ob es die 90.000 Dokumente sind, die jetzt an die Öffentlichkeit geraten sind, weiß ich nicht. Vieles darin scheint neu, manches habe ich gelesen, manches wird jetzt auch sehr zugespitzt in der öffentlichen Darstellung.
Adler: Die erste Aufmerksamkeit haben Dokumente gefunden, die von gezielten Tötungen von Talibankämpfern berichten, Tötungen, die vor allem der US-Armee erst mal zugeschrieben werden, wo es angeblich auch eine Beschränkung gibt für die Bundeswehr, sich solchen Handlungen zu enthalten. Muss trotzdem vor dem Hintergrund der Mandatsverlängerung im Herbst darüber noch einmal geredet werden?
Steinmeier: Darüber muss geredet werden. Darüber muss immer geredet werden, und nicht nur, weil veröffentlichte Dokumente dazu zwingen, sondern wir haben uns als deutscher Bundestag immer wieder die Frage vorzulegen, ist das verantwortbar, was wir tun in Afghanistan vor dem Hintergrund möglicher Opfer, aber auch vor dem Hintergrund der Risiken für die eigenen Soldatinnen und Soldaten und der vielen zivilen Helfer, die dort eingesetzt werden.
Adler: Mit der Veröffentlichung dieser Geheimdokumente hat sich herausgestellt, dass der Öffentlichkeit Dokumente zugänglich gemacht worden sind, die sie ja nicht sehen soll. Hat sich damit offenbart, dass das Internet nach dringend neuen Regelungen suchen muss im Umgang mit Geheimdokumenten?
Steinmeier: Also, ich würde beides nicht miteinander vermischen wollen. Natürlich braucht das Internet Verkehrsregeln, die wir sicherlich vollumfänglich noch nicht haben. Das merken wir auch an den Diskussionen, die es in Deutschland gegeben hat, etwa am Beispiel Kinderpornografie, Sperren oder Löschen von Seiten. Verkehrsregeln fehlen, wo wir sie in anderen Bereichen, traditionelleren Formen der Kommunikation bereits haben.
Adler: Nun haben wir ja gesehen: Im Zusammenhang mit dem BND-Untersuchungsausschuss sollten Redaktionen dafür belangt werden, dass sie Geheimdokumente veröffentlicht haben. Sie sollten haftbar gemacht werden dafür. Das ist vor Gericht gelandet. Es ist keine Redaktion tatsächlich bestraft worden für diese Veröffentlichung. Nun, im Internet, weiß man noch nicht mal, wen man bestrafen könnte, wo so etwas verhandelt werden könnte. Das sieht doch augenscheinlich danach aus, als bräuchte es solche Regelungen.
Steinmeier: Ich bin ganz sicher, wir werden an den Verkehrsregeln für das Internet noch arbeiten müssen, national wie insbesondere international. Aber die Veröffentlichung dieser 90.000 Dokumente darf jetzt nicht im ersten Schritt den Ruf nach Strafe auslösen, sondern das zwingt uns, auch in der deutschen Politik, nach Aufklärung zu suchen: erstens das, was wirklich neu ist an den Veröffentlichungen, zweitens, was möglicherweise auch die deutsche Bundeswehr und unsere Auslandseinsätze an Vorwürfen trifft.
Adler: Neu oder zumindest mit Aufmerksamkeit diskutiert waren die gezielten Tötungen, die Beteiligung Deutschlands, zum Beispiel an der Namensnennung für ein mögliche Opfer. Es gab auch andere Diskussionen im Zusammenhang mit gezielten Tötungen, nämlich im Zusammenhang mit dem Tankerangriff in Kundus. Ist das etwas, wo Sie sagen, wir als Opposition müssen bei der Mandatsverlängerung im Herbst da noch mal drauf schauen. So etwas darf die Bundeswehr nicht dürfen?
Steinmeier: Natürlich kann uns die Veröffentlichung solcher Dokumente nicht kalt lassen. Natürlich müssen wir sehen, ob uns aus diesen Dokumenten ein Vorwurf trifft. Was ich nur sage ist, wir sollten jetzt nicht einfach aufgrund von Presseveröffentlichungen unterstellen, dass Angehörige der deutschen Bundeswehr an Capture-and-kill-Strategien in irgendeiner Form teilgehabt haben.
Ich kann mich erinnern an meine eigene Zeit als Außenminister und ich weiß, wie schwer wir uns getan haben, überhaupt nur afghanische Aufständische in eigenen Gewahrsam zu nehmen. Der Kern der Bemühungen richtete sich darauf, Personen, die wir als aufständische Gefährder festgestellt haben, sofort in afghanischen Gewahrsam zu übergeben, aber nicht irgendwelchen Killerkommandos zuzuführen.
Adler: Herr Steinmeier, vielen Dank für das Gespräch.
Steinmeier: Danke.
Steinmeier: Es war ein ganz anderer Sommer - hoch spannend. Also, ich freue mich durchaus, dass ich seit langer Zeit - wenn ich zurückdenke, seit jenen Ereignissen am Schwielowsee, die ja nicht nur für die SPD, sondern auch darüber hinaus eine gewisse öffentliche Bedeutung hatten, jetzt zum ersten Mal wieder zwei Wochen am Stück hatte. Das hat gut getan.
Adler: Mögen Sie die Rolle in der Opposition inzwischen für sich selbst auch?
Steinmeier: Nun, es ist nicht die Rolle, für die ich mich beworben habe. Ich habe über 20 Jahre Regierungspolitik zunächst in einem Bundesland und dann im Bund gerne gemacht, weil ich gerne die Dinge versuche, von vorne zu gestalten und nicht über die Oppositionsrolle ausschließlich nachträglich Einfluss zu nehmen versuche. Aber der Wähler hat entschieden und da gibt es kein Nachkarten und kein Betrauern einer Wahlentscheidung vom vergangenen September. Es ist nicht die Entscheidung, die ich wollte, nicht die Entscheidung, für die ich unterwegs gewesen bin landauf, landab - aber natürlich eine Wahlentscheidung, die ich und die wir zu akzeptieren haben.
Adler: Die Zeit in der Opposition ist immer auch eine Zeit, in der die Partei eine neue Standortbestimmung vornehmen kann, wo sie gucken kann, welche Positionen stimmen noch, wo muss man was neu machen. Im September ist ein Parteitag geplant, da wird unter anderem auch die Rente mit 67 eine Rolle spielen. Erwarten Sie da eine erste Positionsveränderung?
Steinmeier: Ich glaube, das ist jetzt ein bisschen zu kurz gegriffen in der Frage. Wenn Sie die Zeit seit dem 27. September vergangenen Jahres beobachten und sich in Erinnerung rufen, dann sehen Sie doch, dass Sigmar Gabriel und ich gemeinsam im Verein mit vielen, die sich darum bemühen, versuchen, die Partei und die Fraktion neu aufzustellen, auch so zu positionieren, dass wir bei einer nächsten Wahlentscheidung 2013 nicht nur auf Augenhöhe mit der Union agieren, sondern auch wieder als Regierungskraft in Betracht kommen. Die gegenwärtigen Umfragen sprechen sogar dafür, dass sich die Mehrheit der Deutschen das wünschen.
Und zu dieser Neuaufstellung gehört in der Tat auch, dass man Positionen der Vergangenheit überdenkt und kontrolliert, ob das, was man als Regierung angestoßen hat, sämtlich in die richtige Richtung gelaufen ist. Der nächste Parteitag der SPD jetzt Ende September wird sich nicht im Kern mit Rentenfragen beschäftigen, sondern mit der Zukunft der Wirtschaftspolitik in diesem Lande. Darunter werden aber demografische Fragen und die Rentenfragen eine Rolle spielen, ja.
Adler: Sie haben die Umfragewerte angesprochen. Was, glauben Sie, ist jetzt in der Partei anders geworden, dass sie wieder positiver wahrgenommen wird?
Steinmeier: Das, was sich deutlich verändert hat, und das bekomme ich rückgespiegelt - nicht nur bei Diskussionen innerhalb der SPD, die wir natürlich viele haben und hatten, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit - wohltuend wird inzwischen wahrgenommen, dass die SPD in der Lage ist, Botschaften wirklich profiliert zu senden. Wir hatten in der Vergangenheit vielleicht zu häufig das Problem, dass Regierungsposition und Oppositionsposition beide auch aus der SPD gesendet worden sind. Das ist gegenwärtig nicht der Fall.
Das, was wir hingekriegt haben - Sigmar Gabriel als Parteivorsitzender und ich als Fraktionsvorsitzender -, dass wir uns zu den wichtigen Fragen eng abstimmen und gemeinsame Positionen der SPD auch nach außen hin deutlich machen. Wir werden besser verstanden als das in der Vergangenheit offenbar in einigen Fällen der Fall war.
Adler: Kommen wir noch mal zur Rente mit 67. Die Rente mit 67 ist eine Forderung, die SPD-Mitgliedern, aber auch in der Bevölkerung richtig weh getan hat, die sie gerne rückgängig machen wollten. Kann es überhaupt angesichts des Fachkräftemangels, der der Wirtschaft droht, angesichts auch jetzt freibleibender Lehrstellen, die das Handwerk beklagt - kann man angesichts dieses absehbaren Arbeitskräfte-, zumindest nicht mehr -überschusses, davon ausgehen, dass wir jemals wieder kürzer arbeiten?
Steinmeier: Die Rente mit 67 oder die Entscheidung dafür ist eine, die nicht überall Gefallen gefunden hat. Entscheidender aber noch ist, dass wir in den fünfziger Jahren Rentenbezugszeiten von acht Jahren hatten. Heute sind es im Durchschnitt 18 Jahre. Deshalb wird es notwendig sein, dass wir insgesamt länger arbeiten. Die Frage, und das ist die, die Sie meinen, ist: Müssen wir über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten? Ich denke, daran wird im Ergebnis kein Weg vorbeigehen.
Adler: Ihr Parteifreund Peer Steinbrück hat es als einen "Tabubruch" bezeichnet, als seinen größten politischen Fehler, die Rentengarantie mit zu verabschieden, im Kabinett ihr zuzustimmen. Wie sehen Sie das, ist das tatsächlich eine Ungerechtigkeit an der jüngeren Generation, die man rückgängig machen muss?
Steinmeier: Was Peer Steinbrück meint, ist die Frage, ob man eine rechtliche Garantie des Inhalts schaffen sollte, dass es für die gegenwärtigen Rentner nicht nur Nullrunden gibt, wie wir sie in der Vergangenheit häufiger und manchmal auch in mehreren Jahren aufeinander hatten, sondern auch Negativentwicklungen, sprich Senkungen der Rente. Da bin ich allerdings der Meinung, das haben wir in der Rentenformel abgesichert, dass die Rentenentwicklung dann, wenn die Arbeitsmarktergebnisse nicht besonders erfolgreich sind und die Konjunkturentwicklung wie in diesen Phasen der Krise eher negativ ist, dass dann auch Nullerhöhungen, sprich Verzicht auf Rentenerhöhungen möglich sind. Ich glaube, mehr kann man nach der Senkung des Rentenniveaus, die ja Bestandteil der Reformen des letzten Jahrzehntes waren, kaum zumuten.
Adler: Wir haben eine andere Baustelle sozusagen, Hartz IV, die gegenwärtig noch mal in Angriff genommen werden muss. Es müssen transparente Kriterien für die Findung der Sätze für die Hartz-IV-Empfänger aufgestellt werden. Das ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar, die nachträglich der rot-grünen Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Wie wirkt das eigentlich auf Sie, wenn nachgebessert wird, was Sie verabschiedet haben?
Steinmeier: Wissen Sie, ich hab das auch erlebt nach 1998, dass wir mit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts konfrontiert wurden, die Gesetzesentscheidungen der Jahre zuvor aus Mitte der 90er-Jahre korrigierten. Die jetzige Bundesregierung hat jetzt eine Entscheidung umzusetzen, die sich mit einer Gesetzgebung zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts befasst. Also, das ist für eine Bundesregierung nichts Ungewöhnliches, das ist ihr auch abzuverlangen und zu erwarten, dass die das korrekt tut.
Es ist im Augenblick bei der Frage der Hartz-IV-Sätze im Grunde genommen dieselbe Situation wie bei der Wehrpflicht oder bei der Gesundheitsreform. Jeder sagt seine Meinung, es ist bisher keine Linie zu erkennen. Deshalb ist es für die Opposition auch relativ schwer, zu kritisieren, was am Ende da möglicherweise herauskommt. Der eine oder andere in der Regierungskoalition will jetzt schon sehen, dass es zur Erhöhung der Hartz IV-Sätze kommt, andere dementieren das heftig. Das, was ich als Vorsitzender der SPD-Fraktion sagen kann: Die sollen ihre Hausarbeiten machen, die sollen vorlegen, was sie an Zahlenmaterial haben, dann einen Vorschlag ins Kabinett einbringen und mit dem werden wir dann umgehen.
Adler: Das klingt nicht so, dass Sie mit einer Erhöhung der Hartz IV-Sätze rechnen. Sind Sie der Meinung, dass hier Erhöhungen notwendig wären?
Steinmeier: Das Gericht jedenfalls hat den Weg zu Erhöhungen, möglicherweise beschränkt auf den Bereich der Hartz-IV-Sätze für Kinder, jedenfalls gezeigt. Aber ich will die Zahlen der Bundesregierung, die demnächst vorgelegt werden, dazu gerne abwarten und dann meine Haltung dazu einnehmen.
Adler: Das heißt also, Sie rechnen als Fraktionsvorsitzender nicht damit, dass der Betrag erhöht werden muss?
Steinmeier: Das ergibt sich jedenfalls nicht zwingend aus den Ankündigungen unterschiedlicher Teilnehmer und Beteiligter der Bundesregierung.
Adler: Und die SPD hat eine Haltung dazu, erhöhen oder nicht erhöhen?
Steinmeier: Ich glaube, dass man im Bereich der Kinder kaum an einer Erhöhung vorbeikommt.
Adler: Halten Sie es für zwingend nötig, dass, wenn Sie davon ausgehen, dass sich der Beitragssatz für die Kinder erhöht, dass es damit dann gut sein muss? Oder muss der Beitragssatz erhöht werden und müssen Sachleistungen, wie zum Beispiel Nachhilfeunterricht, noch zusätzlich da draufkommen?
Steinmeier: Ja, zunächst schien es ja so, dass die Bundesregierung sich ganz beschränkt nur auf das Angebot von vermehrten Sachleistungen. Inzwischen, habe ich gesehen, haben sich viele auch in den gegenwärtigen Regierungsparteien für eine Erhöhung der monatlichen Zahlungen ausgesprochen. Es würde mich nicht wundern, wenn man am Ende zu einer Kombination von Zahlungen, Zahlungserhöhungen und Sachleistungen kommen wird.
Adler: Das wäre etwas, was die SPD mittragen könnte?
Steinmeier: Das schauen wir uns dann an, wenn es auf dem Tisch liegt.
Adler: Im Herbst, wenn die parlamentarische Sommerpause vorbei ist, geht es mit vielen Gesetzesinitiativen weiter im Parlament, unter anderem mit der Gesundheitsreform, mit der Debatte über die Wehrpflicht, mit der Luftverkehrsabgabe, mit der Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Welches dieser Gebiete wird das sein, in dem die SPD, um mit ihrem Vorsitzenden zu sprechen, "Attacke reitet"?
Steinmeier: Ja, Sie können jedenfalls sicher sein, wir werden uns bei keinem dieser Themenfelder raushalten. Was ich gegenwärtig beobachte jetzt zur Mitte der Sommerpause, ist, dass es jedenfalls der Bundesregierung nicht gelungen ist, in auch nur einem dieser Themenfelder Beruhigung zu schaffen. So hat sich die Kanzlerin dann selbst in den Urlaub verabschiedet. Der Streit zwischen allen Beteiligten geht weiter, vielleicht am lautesten bei der Gesundheitsreform, aber nicht wesentlich leiser bei den Themen Wehrpflicht, Zukunft der Wehrpflicht und insbesondere Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke.
Wir werden auf allen diesen Feldern präsent sein. Ich weiß nicht, welches das erste Thema sein wird, es könnte durchaus sein, dass wir demnächst schon mit Vorschlägen aus dem Umwelt- oder Wirtschaftsministerium befasst werden, was die Verlängerung der Laufzeiten angeht. Das wird die Debatte sein, in die wir auf jeden Fall einsteigen werden.
Und erlauben Sie mir, als jemand, der damals im Auftrage der rot-grünen Bundesregierung den Atomkonsens verhandelt hat: Vieles an der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der Regierung verstehe ich nicht. Da wird so getan, als brauchten wir jetzt eine Brückentechnologie. Das genau war der Sinn des Atomkonsenses des Jahres 2000, zu den Restlaufzeiten - durchschnittlich 32 Jahre Laufzeit für jedes Kernkraftwerk - sind wir deshalb gekommen, weil auch so eine Brücke zu den erneuerbaren Energien geschaffen werden sollte. Das ist uns im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern sogar ganz gut gelungen. Jetzt das Thema Brückentechnologie wieder aus der Kiste zu holen, um jetzt eine noch malige - 10 Jahre, 15 Jahre, 20 Jahre - Verlängerung der Laufzeit durchzusetzen, halte ich wirklich nicht für seriös.
Adler: Nun klingt das ja sehr verlockend, eine Brennelementesteuer einzuführen und damit die Entwicklung, zum Beispiel von Speicherkapazitäten für erneuerbare Energien auszubauen und zu befördern. Das klingt doch nicht so, als müsste man sich dagegen mit Händen und Füßen wehren?
Steinmeier: Wissen Sie, wir haben in Deutschland ein damals von der Union kritisiertes, heute nicht nur akzeptiertes, sondern sogar beworbenes Förderinstrument auf den Weg gebracht. Das ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Ich habe in meiner Zeit als Außenminister viele, unzählige Gespräche im Ausland geführt, weil sich viele dieses Gesetz zum Vorbild genommen haben. 40 Länder weltweit orientieren sich an diesem deutschen Gesetz. Mit 80 Ländern insgesamt waren wir im Gespräch, weil auch andere Interesse daran gezeigt haben. Deshalb habe ich wenig Respekt vor neuen Begründungen der gegenwärtigen Regierung, die ja im Kern doch nicht auf den stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien hinauslaufen, sondern vor allen Dingen zur Begründung der Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken dienen.
Aber unabhängig davon, wo wird das denn enden? Da gibt es einige in der Union, die sprechen von acht bis 15 Jahren Verlängerung der Laufzeit. Wenn ich Herrn Seehofer richtig in Erinnerung habe, spricht der sich für eine unbefristete Verlängerung der Laufzeit aus. Ich habe das Ergebnis der Sparklausur der Bundesregierung zur Kenntnis genommen. Da hat man sich für die Brennelementesteuer ausgesprochen. Die CSU oder jedenfalls der bayerische Ministerpräsident ist offenbar dagegen.
Also, da herrscht doch viel, viel Konfusion, vor allen Dingen aber eine zentrale Illusion, dass man nämlich am Ende mit einem Vorschlag, wie immer er auch aussehen wird, am Bundesrat vorbei kommt. Und das wird nicht gelingen.
Adler: Werden die Bundesländer einer Brennelementesteuer zustimmen, die SPD-geführten Bundesländer im Bundesrat?
Steinmeier: Nein, die Kernfrage ist ja erst mal, wird man einer Verlängerung der Laufzeiten zustimmen?
Adler: Richtig.
Steinmeier: Und da gibt es einige in der Bundesregierung, die offenbar der Meinung sind, dass das ohne den Bundesrat geht. Ich bin fest davon überzeugt, das werden auch die CDU-regierten Länder nicht mitmachen. Und es hat eine wichtige politische Veränderung gegeben. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen haben wir dort ein rot-grünes Kabinett, das von seinen Möglichkeiten im Bundesrat sicherlich Gebrauch machen wird.
Adler: Noch mal zur Brennelementesteuer. Wird die SPD im Bundestag dieser neuen Steuer zustimmen?
Steinmeier: Also, ich verstehe ja, dass Sie gerne über die Brennelementesteuer reden wollen. Nur ist das nichts Neues. Das ist Teil des Wahlprogramms der SPD gewesen. Die Kernfrage ist doch, kommt es zu einer Verlängerung der Laufzeiten? Wenn ich die Dinge richtig bewerte, wird es jedenfalls irgendeinen Vorschlag der Regierung dahin geben, und dagegen werden wir massiv anstreiten.
Adler: Das heißt, keine Brennelementesteuer mit der SPD?
Steinmeier: Das heißt, keine Verlängerung der Laufzeiten mit der SPD.
Adler: Es gibt eine andere Einnahmequelle, die sich die Bundesregierung erschließen möchte, nämlich über die Luftverkehrsabgabe. Da gibt es erste Äußerungen, dass es da schon wieder Einschränkungen geben soll: Nicht für innerdeutsche Flüge, sagt die FDP. Aber im Prinzip ist das eine Einnahmequelle, die auch von SPD-Seite schon mal erwogen worden ist. Wäre da die Zustimmung zu bekommen?
Steinmeier: Wissen Sie, die Art und Weise, wie die Regierung mit der Luftverkehrsabgabe umgeht, ist fast symbolisch. Ich habe mir die Ergebnisse der Sparklausur der Regierung angesehen. Mein Eindruck ist, da war wenig oder da war nichts vorbereitet. Da sind Zahlenkolonnen untereinandergeschrieben worden, unabhängig davon, welche Vorentscheidungen noch getroffen werden müssen. Und die Luftverkehrsabgabe zeigt doch deutlich, auch ohne Vorbereitung, welche Verwerfungen im Wettbewerb man damit auslöst. Und jetzt, nachdem die Einnahme kalkuliert worden ist, beginnt man mit Überlegungen, wie man die Luftverkehrsabgabe so gestaltet, dass es zu möglichst keiner Wettbewerbsbenachteiligung deutscher Fluggesellschaften im nationalen und internationalen Wettbewerb kommt. Ein bisschen spät, finde ich.
Adler: Und noch mal die Frage: Kann die SPD einer Luftverkehrsabgabe zustimmen?
Steinmeier: Wissen Sie, wir verhalten uns zu Gesetzen, die auf den Weg gebracht worden sind, nicht zu Ideen Einzelner innerhalb der Bundesregierung.
Adler: Eine Idee eines bislang Einzelnen ist die von Herrn zu Guttenberg, die Wehrpflicht auszusetzen. Was sagen Sie zu dieser Idee? Wieder kein Kommentar, weil es die Idee eines Einzelnen ist? Sie wird aber debattiert, unter anderem in der Unionspartei.
Steinmeier: Nein, keine Frage. Was Herr Guttenberg nicht versteht, ist, in welcher Tradition in diesem Lande Außen- und Sicherheitspolitik gemacht wird. Es wird vielfach gelobt - und ich habe als Außenminister auch davon gelebt -, dass es große Kontinuitäten in der Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland gibt seit 1949, unabhängig davon, wer eine Bundesregierung führte, SPD oder Union in der Vergangenheit. Aber diese Kontinuität, die vielfach gelobte, hat Voraussetzungen. Und die Voraussetzung dafür ist und war, dass man in den weichenstellenden Entscheidungen auch frühzeitig den Dialog mit der jeweiligen Opposition gesucht hat.
Ich habe nicht verstanden, warum man sich in der Koalitionsvereinbarung auf eine Formel zur Wehrpflicht verständigt hat, die ja nichts anderes ist als die kalte Abschaffung der Wehrpflicht. Sechs Monate Wehrpflicht kann ich nicht als eine vernünftige Fortentwicklung der Wehrpflicht empfinden. Aber nachdem diese sechs Monate Wehrpflicht gerade ins Gesetzgebungsverfahren eingespeist worden sind, findet eine Sparklausur statt, und Herr Guttenberg als zuständiger Verteidigungsminister schlägt dann plötzlich und unerwartet unter dem Druck der Einsparungszwänge den Wegfall der Wehrpflicht, ersatzlos den Wegfall der Wehrpflicht oder die Aussetzung der Wehrpflicht vor. Das scheint mir nicht das Ergebnis von sicherheits- und verteidigungspolitischen Überlegungen gewesen zu sein, sondern scheint mir eher der einfachste Weg gewesen zu sein, den Sparanforderungen des Finanzministers Rechnung zu tragen.
Ich finde, so macht man keine seriöse Sicherheits- und Verteidigungspolitik und so geht man auch mit der Opposition nicht um, wenn es um die für uns immerhin nach 60 Jahren Geschichte der Bundesrepublik wichtige Frage der Zukunft der Wehrpflicht geht. Ich selbst gehöre eher zu den Befürwortern der Wehrpflicht und tue mich sehr schwer mit den Vorschlägen, sie abzuschaffen.
Aber ich sage Ihnen auch offen: Ich verhehle nicht, dass die Wehrpflicht im letzten Jahrzehnt unter Druck geraten ist. Einerseits aus demografischen Gründen, weil wir immer weniger junge Männer eines Jahrgangs tatsächlich einziehen zum Grundwehrdienst, und zum anderen natürlich auch, vielleicht noch gravierender, weil sich die Aufgaben der Bundeswehr auch durch Auslandseinsätze dramatisch verändert haben.
Ich weiß das, nehme das zur Kenntnis. Ich weiß das auch als Befürworter der Wehrpflicht und werde mich deshalb der Diskussion über die Zukunft der Wehrpflicht auch nicht verweigern. Das setzt aber voraus, dass der Verteidigungsminister sich endlich um ein geordnetes Gespräch mit der Opposition bemüht.
Adler: Sie haben von der dramatischen Entwicklung für die Bundeswehr gesprochen. Sehen Sie die auch im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von zehntausenden Geheimdokumenten auf der Website von WikiLeaks? Kann also, mit anderen Worten, Ihr Nachfolger im Auswärtigen Amt, Guido Westerwelle, jetzt ruhig schlafen?
Steinmeier: Ja, der ruhige Schlaf ist einem als Außenminister nicht immer gegönnt. Das habe ich selbst kennengelernt. Ob es die 90.000 Dokumente sind, die jetzt an die Öffentlichkeit geraten sind, weiß ich nicht. Vieles darin scheint neu, manches habe ich gelesen, manches wird jetzt auch sehr zugespitzt in der öffentlichen Darstellung.
Adler: Die erste Aufmerksamkeit haben Dokumente gefunden, die von gezielten Tötungen von Talibankämpfern berichten, Tötungen, die vor allem der US-Armee erst mal zugeschrieben werden, wo es angeblich auch eine Beschränkung gibt für die Bundeswehr, sich solchen Handlungen zu enthalten. Muss trotzdem vor dem Hintergrund der Mandatsverlängerung im Herbst darüber noch einmal geredet werden?
Steinmeier: Darüber muss geredet werden. Darüber muss immer geredet werden, und nicht nur, weil veröffentlichte Dokumente dazu zwingen, sondern wir haben uns als deutscher Bundestag immer wieder die Frage vorzulegen, ist das verantwortbar, was wir tun in Afghanistan vor dem Hintergrund möglicher Opfer, aber auch vor dem Hintergrund der Risiken für die eigenen Soldatinnen und Soldaten und der vielen zivilen Helfer, die dort eingesetzt werden.
Adler: Mit der Veröffentlichung dieser Geheimdokumente hat sich herausgestellt, dass der Öffentlichkeit Dokumente zugänglich gemacht worden sind, die sie ja nicht sehen soll. Hat sich damit offenbart, dass das Internet nach dringend neuen Regelungen suchen muss im Umgang mit Geheimdokumenten?
Steinmeier: Also, ich würde beides nicht miteinander vermischen wollen. Natürlich braucht das Internet Verkehrsregeln, die wir sicherlich vollumfänglich noch nicht haben. Das merken wir auch an den Diskussionen, die es in Deutschland gegeben hat, etwa am Beispiel Kinderpornografie, Sperren oder Löschen von Seiten. Verkehrsregeln fehlen, wo wir sie in anderen Bereichen, traditionelleren Formen der Kommunikation bereits haben.
Adler: Nun haben wir ja gesehen: Im Zusammenhang mit dem BND-Untersuchungsausschuss sollten Redaktionen dafür belangt werden, dass sie Geheimdokumente veröffentlicht haben. Sie sollten haftbar gemacht werden dafür. Das ist vor Gericht gelandet. Es ist keine Redaktion tatsächlich bestraft worden für diese Veröffentlichung. Nun, im Internet, weiß man noch nicht mal, wen man bestrafen könnte, wo so etwas verhandelt werden könnte. Das sieht doch augenscheinlich danach aus, als bräuchte es solche Regelungen.
Steinmeier: Ich bin ganz sicher, wir werden an den Verkehrsregeln für das Internet noch arbeiten müssen, national wie insbesondere international. Aber die Veröffentlichung dieser 90.000 Dokumente darf jetzt nicht im ersten Schritt den Ruf nach Strafe auslösen, sondern das zwingt uns, auch in der deutschen Politik, nach Aufklärung zu suchen: erstens das, was wirklich neu ist an den Veröffentlichungen, zweitens, was möglicherweise auch die deutsche Bundeswehr und unsere Auslandseinsätze an Vorwürfen trifft.
Adler: Neu oder zumindest mit Aufmerksamkeit diskutiert waren die gezielten Tötungen, die Beteiligung Deutschlands, zum Beispiel an der Namensnennung für ein mögliche Opfer. Es gab auch andere Diskussionen im Zusammenhang mit gezielten Tötungen, nämlich im Zusammenhang mit dem Tankerangriff in Kundus. Ist das etwas, wo Sie sagen, wir als Opposition müssen bei der Mandatsverlängerung im Herbst da noch mal drauf schauen. So etwas darf die Bundeswehr nicht dürfen?
Steinmeier: Natürlich kann uns die Veröffentlichung solcher Dokumente nicht kalt lassen. Natürlich müssen wir sehen, ob uns aus diesen Dokumenten ein Vorwurf trifft. Was ich nur sage ist, wir sollten jetzt nicht einfach aufgrund von Presseveröffentlichungen unterstellen, dass Angehörige der deutschen Bundeswehr an Capture-and-kill-Strategien in irgendeiner Form teilgehabt haben.
Ich kann mich erinnern an meine eigene Zeit als Außenminister und ich weiß, wie schwer wir uns getan haben, überhaupt nur afghanische Aufständische in eigenen Gewahrsam zu nehmen. Der Kern der Bemühungen richtete sich darauf, Personen, die wir als aufständische Gefährder festgestellt haben, sofort in afghanischen Gewahrsam zu übergeben, aber nicht irgendwelchen Killerkommandos zuzuführen.
Adler: Herr Steinmeier, vielen Dank für das Gespräch.
Steinmeier: Danke.