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Söldner für den Dschihad

DerDer Krieg in Syrien zerstört auch Familien in Tunesien, dem Mutterland der Revolution. Jede Woche sollen sich Dutzende junge Tunesier auf den Weg nach Syrien machen, um gegen das Assad-Regime zu kämpfen, berichten tunesische Medien. Viele kommen nicht mehr zurück.

Von Alexander Göbel |
    Auf der Avenue Bourguiba in Tunis demonstrieren Anhänger von Syriens Präsident Assad. Sie schwenken syrische Fahnen, halten riesige Poster des Staatschefs in den blauen Himmel, rufen: "Es lebe Syrien, es lebe Assad!". Etwas abseits, auf der anderen Straßenseite, steht Ikbel Ben Rjeb. Auch er demonstriert – er trauert - alleine, still, mit einem großen Pappschild: darauf eine Karte von Nordafrika und dem Nahen Osten, ein dicker roter Pfeil weist von Tunesien hinüber nach Syrien. Unter der Karte klebt ein Foto – es zeigt einen jungen Mann in einer Moschee: kahl geschorener Kopf, langer schwarzer Bart, blütenweißes Gewand, verhalten lächelt er in die Kamera. Es ist Hamza, Ikbels Bruder, 24 Jahre alt. Wegen einer seltenen Muskelkrankheit sitzt Hamza seit Jahren im Rollstuhl. Seit ein paar Tagen ist er verschwunden. Er sei dem roten Pfeil gefolgt, sagt Ikbel.

    "Nach der Revolution wurde mein Bruder sehr still, er zog sich immer mehr zurück – ich weiß auch nicht, was mit ihm passiert ist. Ich weiß nur, dass er auf einmal viel Zeit mit diesen Leuten verbracht hat. Einige waren damals schon bekannt, als religiöse Extremisten, die unter Präsident Ben Ali im Gefängnis gesessen hatten. Sie haben meinem Bruder vom Dschihad vorgeschwärmt, vom Kampf des 'wahren Islam'. Nur – wenn sie ihn doch eigentlich in den Tod schicken wollten – von was für einem Islam reden die da überhaupt?"

    Ikbel fürchtet, dass Hamza sich in der Moschee radikalisiert hat. Bärtige Männer hätten ihn eines Tages mitgenommen. Einmal habe Hamza noch angerufen und gesagt, ab sofort werde er auf den Spuren der Märtyrer wandeln. Hamza studiere Informatik, erzählt Ikbel, und die Männer hätten ihm versprochen, er könne trotz seiner Behinderung etwas Besonderes werden und in den Heiligen Krieg ziehen: als Logistiker für den "jihad informatique" in Syrien. Doch an das Gerede von einem solchen "E-Dschihad" kann Ikbel nicht glauben.

    "Was werden sie wohl mit meinem Bruder machen? Sie werden ihm einen Sprengstoffgürtel umbinden, dann wird er sich in die Luft jagen. Es ist eine Schande, dass sie sogar Behinderte benutzen, um ihren Krieg zu führen."

    Ikbel versteht das alles nicht – sein Bruder sei doch ein friedlicher Mensch, einer, der früher sogar Katzenbabys von der Straße aufgelesen hat, um sie zu Hause zu beschützen. Passanten fragen Ikbel nach dem verschollenen Bruder, schütteln ratlos den Kopf, versuchen, den einsamen Demonstranten zu trösten: "Gott schütze Dich und Deine Familie!" Ikbel ahnt, dass sein Bruder nur einer von mehreren Tausend jungen Tunesiern sein könnte, die sich dem Kampf gegen das Assad-Regime verschrieben haben. Wenn es stimmt, was tunesische Medien berichten, dann machen sich jede Woche Dutzende auf den Weg nach Syrien – viele kommen nicht mehr zurück. Aber zu Hause haben sie oft nichts mehr zu verlieren, sagt Ikbel.

    "Unsere Regierung spielt den Salafisten doch in die Karte. Die Politik schafft es einfach nicht, diese Leute davon abzuhalten, unsere Jugend zu vergiften. Vielleicht will sie es ja auch gar nicht? Unsere Regierung ist unfähig. Ja, wir haben sie gewählt. Aber wenn sich für die jungen Menschen nichts verbessert – dann sagen wir den Politikern das, was wir schon Ben Ali gesagt haben: Haut endlich ab!"

    Viele junge Männer werden in Vierteln wie Ezzouhour vermisst: in den tristen, heruntergekommenen Wohnsilos für Tausende Menschen am Rande der großen Städte. Hier vor den Toren von Tunis bröckelt der Putz von den Graffiti-verschmierten Fassaden, aus dem löchrigen Asphalt sprießt das Unkraut. Eine alte, verrostete Schaukel ist von Büschen zugewachsen. Aus Ezzouhour kamen damals viele Märtyrer, die in der Revolution gegen den Ex-Präsidenten Ben Ali ihr Leben verloren – belohnt worden sei Ezzouhour dafür nicht, erzählt eine alte Frau.

    "Jetzt, nach der Revolution, schreien alle herum und sagen ihre Meinung – die Menschen haben keine Angst mehr vor irgendwelchen Diktatoren. Das ist aber auch das Einzige, was sich verbessert hat. Was die Wirtschaft angeht, ist alles schlechter geworden. Es gibt keine Arbeit. Für die Kinder gibt es hier nichts, keine Spielplätze, nichts. Ich mache mir große Sorgen um die junge Generation."

    "Sie haben die Menschen in den Gettos einfach vergessen. Und sie haben unterschätzt, dass es über die Jahre immer mehr Baracken geworden sind, in denen immer mehr Menschen leben müssen. Es gibt keine Infrastruktur. Hier hält keine Straßenbahn, es gibt keine Industriegebiete, wo man vielleicht Arbeit finden könnte."

    Kamel Thamlaoui ist Ende 30, früher ein bekannter Rap-Musiker. Er war damals bei den Straßenschlachten gegen Ben Alis Schergen dabei. Heute lebt er zurückgezogen in Ezzouhour, ohne richtigen Job – so wie die allermeisten hier. Nachdenklich sitzt Kamel mit seinen Freunden in einem Café an der Hauptstraße auf verschmierten weißen Plastikstühlen. Kamel rührt in seinem Minztee und schaut auf die spielenden Kinder – allen sagt er eine kriminelle Karriere voraus. Feststeht: Viele beginnen schon als Teenager mit Diebstahl, Drogenhandel und Schlägereien.

    "Warum gibt es hier keinen Fußballplatz? Warum keine Boxhalle oder irgendetwas? Anderswo kommen die echten Champions aus den Gettos. Das könnte hier auch so sein - aber diese Regierung hier, die züchtet nur Kriminelle heran!"

    Neben Kamel sitzt sein Freund Mourad, 23 Jahre alt. Seine Baseball-Kappe trägt er schräg auf dem Kopf, dazu weite Jeans, weiße Turnschuhe. Auf seinem blauen T-Shirt steht: "Revolution Spirit". Tatsächlich hatte ihn der Arabische Frühling begeistert – er glaubte an die junge tunesische Generation, wollte unbedingt einen Uni-Abschluss in Verwaltungswissenschaften. Doch die Vorlesungen besucht er längst nicht mehr. Es gebe einfach keine Arbeit, außerdem komme er eben aus Ezzouhour – und einen schlechteren Ruf habe kaum ein Stadtteil von Tunis. Mourads Familie muss von der kleinen Rente des Vaters leben.

    "Es gibt keine Hoffnung – auch nicht für diejenigen, die studieren gehen. Sie wissen genau, dass es nichts bringt, jeden Tag aufzustehen und für ein Diplom zu büffeln. Ich habe aufgehört mit dem Studium. Es bringt nichts – meine Schwestern haben studiert und sie finden keinen Job. Ich habe den Mut verloren – es gibt keine Lösung."

    Tunesien sei ein Friedhof für junge Nachwuchstalente geworden, sagt Mourad. Dabei gebe es echte Genies hier, antwortet Kamel. Und er fragt: Warum gibt es hier keine Ärzte oder so etwas? Oder siehst Du hier welche?

    "Es muss dringend mehr für die jungen Leute getan werden. Vor allem für die, die keinen Schulabschluss haben. Aber stattdessen steckt man sie ins Gefängnis. Wenn sie in den Knast gehen, sind sie meistens Drogenhändler, Diebe. Und wenn sie rauskommen, sind sie radikale Salafisten."

    Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildungschancen, Kriminalität – sie bereiten den idealen Nährboden für radikale Hassprediger und Gehirnwäscher.

    "Wenn ich Dich frage – was hast Du in Deinem Leben erreicht? Mal angenommen, Du bist nichts als ein kleiner tunesischer Drogenhändler oder Du bist verzweifelt und arbeitslos, Du willst heiraten und brauchst Geld, und ich erzähle Dir dann vom Dschihad in Syrien, davon, dass Deine Familie viel Geld bekommt: Dann wirst Du froh sein, dass Du eine Chance hast, überhaupt noch irgendwas mit Deinem Leben anzustellen – auch wenn es das Letzte ist: Immerhin kommst Du ins Paradies."

    Vor dem vermeintlichen Paradies aber liegt die Hölle.

    Alltag in Syrien – Assads brutales Regime und die aufständischen Rebellen liefern sich einen mörderischen Krieg. Einen Krieg, der unzählige Menschenleben fordert und das Terrornetzwerk Al Kaida stärkt. Für Al-Nusra, den syrischen Arm von Al Kaida, sollen derzeit 15.000 Mujaheddin kämpfen - ein Drittel davon sollen ausländische Dschihadisten sein, auch aus Marokko und Tunesien. Faysal Cherif, Historiker und Terrorexperte an der Universität Manouba in Tunis:

    "Syrien kann wegen des Kriegs seine Grenzen nicht mehr richtig kontrollieren – wer aus der Türkei nach Syrien will, kann mehr oder weniger problemlos einreisen. Und theoretisch auch unbemerkt wieder raus – denn im Pass wird dann natürlich kein Visa-Stempel aus Syrien drin sein."

    In Syrien sei die Al-Kaida-Filiale Al-Nusra inzwischen die führende Kraft unter den Assad-Gegnern. So Faysal Cherif - die überwältigende Mehrheit der Rebellen kämpfe offenbar längst nicht mehr für Demokratie. Selbst weite Teile der angeblich gemäßigten "Freien Syrischen Armee" wollten ein "islamisches Kalifat". Eine Diktatur religiöser Fanatiker. Ein Echo findet dieser Fanatismus auch in Tunesien – bei Imamen wie diesem, in einer Moschee in Tunis.

    "Ein Feind wie Assad, der mit schweren Waffen kämpft, der Frauen vergewaltigt und Kinder tötet, der muss bekämpft werden. Tunesiens Brüder müssen wie ein Mann hinter den Kameraden in Syrien stehen."

    Das sei das Hauptargument der radikalen Prediger, um in Tunesien junge Männer zu rekrutieren, so Faysal Cherif: Man sage ihnen, sie seien zur Solidarität verpflichtet – dabei würden sie als Kanonenfutter verheizt.

    "Die radikalen Ideen sind simpel – sie bestehen nur aus wenigen Sätzen, und die werden den jungen Männern dann eingehämmert, sie werden ständig wiederholt – tagelang, wochenlang. Am Ende hat man dann einen Menschen, der zu allem bereit ist. Einen Kämpfer, der sterben will und bereit ist, sich zu opfern."

    Einige Männer würden angeworben, ohne zu wissen, dass sie in den Krieg gehen. Manche glaubten, es ginge um ein Koran-Studium, und dann landeten sie an der Front.

    "Man sagt den jungen Leuten, dass Tunesien die Perle der arabischen Revolution sei, und dass sie eine moralische Verantwortung hätten und mit gutem Beispiel vorangehen müssten. Die religiösen Fanatiker beanspruchen die Essenz der tunesischen Revolution für sich und deuten sie um. Ihren Anhängern sagen sie: 'Wir haben die Revolution gemacht, die Islamisten sind in Tunesien an der Macht. Nun seid Ihr an der Reihe – nun müsst Ihr der muslimischen Welt beweisen, dass Ihr würdige Revolutionäre und heilige Krieger seid. Helft Euren Brüdern in den arabischen Nachbarländern!'"

    Über 4000 US-Dollar koste ein tunesischer Söldner, der größte Teil der Summe sei gewissermaßen als zynische Entschädigung für die Familien gedacht. Dazu kämen Reisekosten für den Weg über Libyen und die Türkei, erklärt Terrorexperte Faysal Cherif. Dass Tunesiens radikale Islamisten von den Golfstaaten unterstützt würden, sei ein offenes Geheimnis.

    "Ganz klar: Katar hilft den Dschihadisten, Katar gibt besonders viel Geld. Dazu kommen reiche Geschäftsleute aus Syrien und Saudi-Arabien, dort sind die Wahhabiten besonders radikal."

    Pressekonferenz im Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Es geht um 40 junge Tunesier, die in Syrien von Regierungstruppen verhaftet wurden. Nun sitzen sie in Damaskus im Gefängnis. Ihre Eltern wollen sie zurückholen, doch Tunesiens Regierung verhandelt nicht mit Assads Regime. Religionsminister Noureddine El Khadmi von der islamistischen Regierungspartei Ennahdha beschwichtigt.

    "Wir werden alles unternehmen, damit sich Tunesiens Kinder nicht in Gefahr begeben."

    Doch genau derselbe Minister hat vor Kurzem in einer Moschee erklärt, für gläubige Moslems sei es eine Pflicht, die Rebellen in Syrien zu unterstützen.

    Tunesische Medien hegen schon lange den Verdacht, dass die tunesische Regierung am Dschihad-Export - am Handel mit jungen Männern - beteiligt ist. Und dass es auch tunesische Mädchen gibt, die sich den syrischen Dschihadisten anbieten - als sogenannte Ehefrauen auf Zeit, sanktioniert durch die Fatwa eines saudischen Imams. Offen schreiben oder ansprechen dürfen das die Journalisten nicht. Aber: Eine Mitteilung des Ennahda-Chefs Rachid Ghannouchi interpretieren sie als Eingeständnis der Regierung, weder die Praxis zu beenden noch die an dem Handel beteiligten Personen festzunehmen. Ghannouchi hatte gesagt:

    "… dass wir jungen Leute nicht nahelegen, das Land zu verlassen, aber nicht das Recht haben, sie daran zu hindern."

    "Die Mobilisierung läuft über die extremistischen Parteien, die wir in Tunesien kennen. Aber sie läuft auch über Hassprediger in bestimmten Moscheen. Und die meisten dieser Moscheen werden vom Staat nicht kontrolliert. Der Minister für religiöse Angelegenheiten hat das selbst eingeräumt. Wenn sich in, sagen wir, fünftausend Moscheen jeweils nur ein junger Mann radikalisiert, dann sind wir schon bei fünftausend! Das Ganze läuft sehr diskret ab, und deshalb fliegt das System auch nicht auf. Natürlich sind es vor allem die jungen Männer aus sozial schwachen Familien, die Ungebildeten, die sich anwerben lassen. Aber ich kenne auch brillante, gut situierte Studenten, die von heute auf morgen nach Syrien gegangen sind – im Namen des Dschihad! Das ist die Kraft der religiösen Gehirnwäsche: Dort geht es um Emotion, nicht um Vernunft."

    In Tunesien steht die Apfelernte kurz bevor, Adelhafidh Ghozlani und seine Familie fahren hinaus aufs Land, zu ihrer Obstplantage. Früher hat ihnen ihr ältester Sohn Malik geholfen, doch der ist seit Monaten verschwunden – er kämpft nun in Syrien. Der Vater ist verzweifelt und hat keine Kraft, seine Frau zu trösten.

    "Ich habe keine Freude mehr am Leben, für mich macht das alles keinen Sinn mehr."

    Große Pläne hatte Malik gehabt, der älteste Sohn der Familie: Als ausgebildeter Ingenieur wollte er nach Kanada auswandern. Seine Mutter war sehr stolz auf ihn. Doch dann veränderte sich der 26-Jährige binnen kürzester Zeit.

    "In nur zwei Monaten wurde aus Malik ein ganz anderer Mensch. Früher hat ihm die Religion nicht viel bedeutet, doch nun ging er ständig in diese Moschee. Dort ist er wohl indoktriniert worden. Es war schrecklich. Er hat uns angerufen und gesagt: 'Ich mache jetzt beim Dschihad mit, beim Heiligen Krieg gegen Assad - ich möchte als Märtyrer sterben.' Von der türkisch-syrischen Grenze hat er mit mir telefoniert und gesagt, ich solle für ihn beten. Das war ein Schock für mich, ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen."

    Als die Eltern nachfragen wollten, brach die Leitung ab. Von ihrem Sohn haben sie vor einem Monat zum letzten Mal gehört. Vater Adelhafidh verspürt ohnmächtige Wut – Wut auf Politiker, Islamisten, Terroristen, die in Syrien alle ihre Interessen verfolgen. Seinen Sohn Malik sieht er als Opfer. Doch sein zweiter Sohn Bilal widerspricht: Malik wisse genau, was er tue.

    "Dann gehst Du wohl auch", fragt der Vater.
    "Ja, warum eigentlich nicht", antwortet der Sohn: "Ich glaube, der Heilige Krieg ist für alle Moslems eine Pflicht. Wir müssen unseren Glaubensbrüdern in Syrien helfen."

    Der Krieg in Syrien - er zerstört auch die Familien in Tunesien, dem Mutterland der Revolution, die doch ganz anders gedacht war. Die Verblendung wirkt – nicht nur bei jungen Menschen, sondern auch bei manchen Eltern. Fatima sitzt in ihrem Wohnzimmer in einem ärmlichen Vorort von Tunis. Gerade hat sie live über das syrische Fernsehen erfahren: Ihr Sohn Marwan ist erschossen worden – von syrischen Regierungstruppen, im Kampf um die Stadt Homs. Marwan wurde nur 25 Jahre alt. Fatima wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt ist sie Mutter eines Märtyrers.

    "Ich bin stolz auf meinen Sohn. Die ganze Familie freut sich für mich. Ich sage Dir: Wenn ich noch einen zweiten Sohn hätte – ich würde ihn auch in den Dschihad schicken."