Der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Nye ging in seiner Soft Power‑Theorie (2004 zusammengefasst in „Soft Power. The means to success in world politics”) von einer veränderten Interpretation von Macht aus. Neben Befehl und Gehorsam, so seine These, zeigt sich Macht vor allem in den Möglichkeiten, das Verhalten und die Ziele der Gegenseite durch nicht-militärische Mittel zu beeinflussen. Diese Mittel, andere Staaten dazu zu bringen, die eigenen Ziele und Werte zu teilen, reichen von Verhandlungsgeschick über die Verführungskraft ökonomischer Erfolgsmodelle bis hin zu kulturellen Angeboten zwischen Traum- und Ideologiefabrikation. Die Hoffnungen sind mit dem russischen Krieg jedoch in die Krise geraten. Die Dialektik von Soft und Hard Power scheint Konflikte nur verzögern, nicht endgültig abwehren zu können.
Ende August 2022 in Venedig. Francesco Rutelli, ehemals Bürgermeister von Rom und Kulturminister Italiens, hat zu einer besonderen Veranstaltung geladen: zur „Soft Power Conference“. Man diskutiert, wie sich Regierungen und Gesellschaften auf sanfte Weise beeinfllussen lassen. Organisiert vom „Soft Power Club“, einem Think Tank aus zivilgesellschaftlicher, wissenschaftlicher und journalistischer Expertise. Sein Ziel:
„Das Interesse der Nationen an multilateralem Dialog und an Zusammenarbeit zu fördern.“
Von früheren Institutionen mit ähnlichen Zielen unterscheidet sich der Soft Power Club durch seine betont nicht-militärische Ausrichtung. Das Konzept ist noch relativ jung.
Zwei Jahrzehnte früher, beim Weltwirtschaftsforum 2003 im schweizerischen Davos: Auf dem Podium sitzt der Erzbischof von Canterbury, George Carey. Er stellt dem amerikanischen Außenminister Colin Powell eine grundsätzliche Frage: Warum drohen die Vereinigten Staaten von Amerika bei ihrer Außenpolitik stets mit drastischen militärischen Maßnahmen, anstatt die eigenen Interessen mit sanfteren Mitteln durchzusetzen? Mit „Soft Power“ eben. Nach kurzem Überlegen antwortet Colin Powell:
„Die USA brauchten Hard Power, um den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Aber was folgte darauf? Erhoben die USA etwa Ansprüche auf eine Machtübernahme in irgendeinem europäischen Land? Wollte man etwa Besatzungsmacht bleiben? Nein, man wandte Mittel der Soft Power an, etwa mit dem Marshallplan, um die amerikanische Sichtweise durchzusetzen. Und genauso sind wir im asiatischen Raum verfahren. Nach dem Sieg über Japan wurden nur Mittel der Soft Power angewandt.“
Im Publikum sitzt in diesem Jahr 2003 ein amerikanischer Politikwissenschaftler namens Joseph Nye. Er nimmt für sich in Anspruch, den Begriff Soft Power, der in diesem Gespräch so beiläufig auftaucht, vor Jahren geprägt zu haben. Später erklärt Joseph Nye auf einem von der amerikanischen Militärführung mitorganisierten Kongress sein Konzept: Soft Power sei ein „nicht-militärisches Mittel der Außenpolitik“. Unter den interessierten Zuhörern ist auch der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Kurze Zeit später fragt ihn ein Journalist, ob er denn bei seinen strategischen Überlegungen den Einsatz von Soft Power mit einbeziehe. Etwas unwirsch ob des Begriffs, der einem harten Kerl wie ihm offensichtlich als Beleidigung erscheinen muss, antwortet Rumsfeld:
„Soft Power? Keine Ahnung, was das bedeuten soll!?“
Und Joseph Nye erkennt:
„Genau das ist Teil des Problems. Einige unserer politischen Führer verstehen einfach nicht die entscheidende Bedeutung von Soft Power in unserer Welt, die nach 9/11 aus ihrer gewohnten Ordnung geworfen wurde.“
Als Reaktion auf diese Erfahrungen veröffentlichte Joseph Nye 2004 sein Buch Soft Power. The means to success in world politics. Dort zitiert er unter anderem die Worte, die Newt Gingrich als Sprecher des Repräsentantenhauses an die Regierung unter George W. Bush richtete:
„Der Schlüssel für eine erfolgreiche Außenpolitik liegt nicht in der Anzahl getöteter Feinde. Der Schlüssel liegt in der Anzahl der Verbündeten, die ich mir schaffe.“
Um es also sehr einfach zu sagen: Wenn das Wesen der Hard Power darin besteht, möglichst viele Feinde zu töten oder wenigstens zu drohen, es bei dramatischen Konfliktlagen tun zu können, dann besteht das Wesen der Soft Power darin, möglichst viele Verbündete zu finden. Joseph Nye sieht Soft Power aus einer strikt US‑amerikanischen Sicht, wenn er schreibt:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika mögen das mächtigste politische Zentrum seit dem römischen Reich der Antike sein. Aber wie das Imperium Romanum sind auch die USA weder unbesiegbar noch unverwundbar. Rom erlag nicht dem Aufstieg eines anderen Imperiums, sondern dem wiederholten Ansturm von Barbaren. Die Barbaren von heute sind moderne, hochgerüstete Terroristen. Während sich die Welt immer mehr in den Krieg gegen den Terrorismus verstrickt, wird deutlich, dass es Vieles gibt, was Amerika gar nicht kontrollieren kann. Die Vereinigten Staaten können nicht jeden mutmaßlichen Al‑Qaida‑Führer bis in sein Versteck am Ende der Welt verfolgen. Amerika kann auch nicht überall einen Krieg beginnen, mit dem Ziel, einen neuen Frieden zu schaffen, wenn andere Länder die Zusammenarbeit verweigern.“
Joseph Nyes Konzept der Soft Power steht also ganz im Zeichen des Krieges gegen den Terror. Und nicht zuletzt steht es im Zeichen einer US-amerikanischen Vormachtstellung in der Welt. Seine Wurzeln reichen drei Jahrzehnte zurück. Im Buch Bound to lead aus dem Jahr 1990 verwendet Nye den Begriff „Soft Power“ zum ersten Mal, wenn auch eher am Rande. Hier stellt er sich gegen alle, die diese Vormachtstellung von rechts oder von links in Frage stellen. Und erklärt selbstbewusst:
„Die amerikanische Nation ist nicht nur auf dem militärischen und ökonomischen Sektor führend, sondern auch auf einem dritten Feld, das ich ‚Soft power‘ nennen möchte.“
Damals, 1990, belässt er es bei allgemeinen Hinweisen auf die Attraktivität von Kultur, Pop und Lebensstil. Erst im neuen Jahrtausend ändert sich die Lage durch den Krieg gegen den Terror und den Irak-Krieg 2003 geradezu dramatisch. George W. Bush wartet weder einen UN-Beschluss ab, noch hört er auf die Ratschläge der Verbündeten. Nun wird es wichtig, Konzepte zu entwickeln, um verlorene Allianzen zurück zu gewinnen und brüchig gewordene zu stabilisieren. Soft Power sollte, nach den Worten Joseph Nyes, den USA dabei helfen, ...
„... nach dem Krieg auch den Frieden zu gewinnen.“
Um aus Soft Power einen allgemeinen Grundsatz für die Außenpolitik in einer instabilen Welt zu machen, muss das Konzept also erst einmal aus dem Zusammenhang mit dem anderen Konzept, nämlich der absoluten Vormachtstellung Amerikas in der Welt, gelöst werden.
Oder, mit den Worten von Joseph Nye:
„Es ist die Fähigkeit, das, was man will, durchzusetzen, und zwar durch Attraktivität anstatt durch Zwang oder Bezahlung.“
So besehen ist Soft Power etwas, das wir nicht nur in der Politik kennen, sondern als ziemlich gebräuchliches Mittel der Beeinflussung in Büros, Fabriken, Vereinen, Kaufhäusern, Kulturveranstaltungen und nicht zuletzt in den Familien. Es ist das...
„Guck mal wie toll das ist, wenn man es so macht“,
das an die Stelle tritt von...
„Wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, dann setzt es aber was.“
Die verführerische Kraft des guten und erfolgreichen Beispiels ist allemal besser als die Androhung von verbaler oder gar körperlicher Gewalt. Sie ist als ein gewaltiger Fortschritt in der Vorstellung von Erziehung und Kommunikation anerkannt, jedenfalls in Gesellschaften wie der unseren. Das kann doch als Mittel der Politik im Allgemeinen, der Außenpolitik im Besonderen nicht ganz falsch sein, oder?
Bei näherem Hinsehen wird die Sache natürlich etwas komplizierter. Denn Soft Power ist ja immer noch Power, also Macht, die eine Regierung über eine andere, ein Staat über einen anderen, ein System über ein anderes erringen will oder gar glaubt, erringen zu müssen. Wo Macht im Spiel ist, gibt es immer einen Gewinner, der sie ausübt, und einen Verlierer, der sie erduldet. Wo es gleichberechtigte und ehrliche Partnerschaften gibt, braucht es überhaupt gar keine Macht, weder harte noch weiche. Dennoch reicht eine solch’ weniger martialische Form der Macht schon aus, um jemanden wie Donald Rumsfeld zu einer kategorischen Aussage zu bringen:
„Wer soft ist, der lädt den Feind zum Zuschlagen ein!“
Dagegen hält der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages:
„Soft Power ist die Fähigkeit eines Akteurs, andere für sich einzunehmen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung zu bewegen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anzuwenden.“
Nehmen wir als Ausgangspunkt also erst einmal an: Soft Power ist kein Trick einer überlegenen Macht, um die eigenen Interessen ohne kostspieligen und auffälligen Einsatz militärischer Kraft durchzusetzen. Sondern ein ernsthafter Versuch, Politik im allgemeinen, Außenpolitik im Besonderen friedvoller, menschlicher und demokratischer zu gestalten. Das erste nicht-militärische Mittel der Außenpolitik sind natürlich Verhandlungen. Ihr Ziel ist es, Verträge abzuschließen. Auf der Basis solcher Verträge kommt es zu einer Definition der Beziehungen: Wo arbeiten wir zusammen? Was garantieren wir einander? Wie und wo achten wir die jeweilige Souveränität? Welche Formen von Austausch gibt es? Wie verhalten wir uns im Konfliktfall gegenüber dritten? All’ das hat mit Gleichgewicht oder eben Ungleichgewicht der Macht und mit Interessen zu tun.
Für die Praxis werden daher Interessenvertretungen im jeweils anderen Land eingerichtet, die man Botschaften nennt. Sie sorgen mit diplomatischem Geschick – manchmal auch ohne – dafür, dass sich die Verträge, Abmachungen und Regelungen, die öffentlich oder auch geheim geschlossen werden, auch im richtigen Leben zwischen Politik und Alltag durchsetzen. Diese offenen Mittel der Außenpolitik werden von zwei verdeckten begleitet, die weniger sympathisch sind und vielleicht gerade deswegen unsere Fantasie anregen: Das eine ist das Wirken von Geheimdiensten, Agenten, Spionen, im Zweifelsfall gar Saboteuren oder Terroristen in staatlichem Auftrag. Das andere ist die schlichte Korruption, das Kaufen von Menschen, von Institutionen oder auch von Abmachungen. Das alles ist zwar nicht militärisch, aber besonders soft ist es auch nicht.
Wollten wir also eine idealistische Definition von Soft Power, dann müssten wohl zwei Kategorien erfüllt werden:
Zum einen sollte es sich bei Soft Power nicht einfach um Begleitmaßnahmen oder gar Vorbereitungen, Verstärkungen oder Maskierungen von Hard Power handeln, sondern um wirkliche Alternativen.
Zum anderen sollte Soft Power nicht auf Reklame, Propaganda oder Fehlinformation, sondern auf wirkliches Vertrauen hinauslaufen. Wer Soft Power anwendet, muss sowohl Vertrauen in die eigene Stärke haben als auch entschlossen sein, das Vertrauen der anderen Seite nicht zu enttäuschen.
Das wäre die idealistische Definition. Leider ist in der politischen Praxis kaum ein belastbares erfolgreiches Beispiel dafür zu finden. Nicht obwohl, sondern gerade weil die Europäische Union sich zugute hält, ein Musterbeispiel für die Anwendung von Soft Power zu sein.
Die Methoden der Soft Power scheinen zunächst einfach, wie es im Europa-Lexikon von Große Hüttmann und Wehling heißt:
„Zu den Mitteln der Soft Power zählen im Unterschied zu ‚harter Macht‘ die Vorbildfunktion, Attraktivität und die Vermittlung eigener Normen und Werte. Das Spektrum ist dabei weit gefasst, es reicht von der Anziehungskraft des ‚American Way of Life‘ (Coca Cola und Hollywoodfilme) bis zu westlichen Werten wie Demokratie und Menschenrechten, die als Maßstab und Vorbild dienen und zu einer nichtmilitärischen Konfliktlösung in den internationalen Beziehungen beitragen.“
So sollte schließlich Europa werden. Erstens durch das Vorbild der erfolgreichen Ökonomien in seiner Mitte, nicht zuletzt des Exportweltmeisters Deutschland. Zweitens durch die Attraktivität des liberalen Lebensstiles und drittens durch die Vermittlung der Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und individueller Freiheit. Als Mittel dienten kultureller und medialer Austausch, die Freizügigkeit des Reisens, die Verwirklichung gemeinsamer Projekte, sportliche Ereignisse, die nicht nur nationalem Ehrgeiz dienen, Warenaustausch und eine allmähliche Angleichung der Gesetze. Und dann soll Europa, entstanden durch die Anziehungskraft der Soft Power, weiter ausstrahlen. Fast alles, was da draußen außerhalb der eigenen Grenzen liegt, soll nicht als Feind, sondern als potentieller Verbündeter gesehen werden.
„The Soft Power 30“ heißt eine jährlich Rangliste der Staaten, welche die Mittel der Soft Power nutzen. Zusammengestellt, nach eigenen Worten aus Umfragen und Studien aus aller Welt, von einer Londoner Beratungsfirma für strategische Kommunikation. Auf Platz eins steht im Jahr 2019 Frankreich. Auf Platz zwei das Vereinigte Königreich. Platz drei – wer hätte es gedacht: Deutschland! Leicht zurückgefallen auf Platz fünf dann die USA. Weit abgeschlagen schon damals auf Platz 30: das Schlusslicht - die russische Föderation.
Es gibt noch weitere, ähnliche nationalen Ranglisten der Soft-Power-Anwendungen, wie ernst man sie auch nehmen möchte. Am Ende sagen diese Ranglisten immerhin einiges über die Anwender selbst aus. Wer Mittel der Soft Power nutzen will, muss demnach über attraktive ökonomische, politische, kulturelle und alltägliche Lebensbedingungen verfügen und diese in ebenso attraktive Bilder übertragen. Joseph Nye selbst räumt dem Konzept vielleicht ein bisschen zu direkte Wirkung ein, wenn er behauptet: Weil amerikanische Rechtsanwaltsserien im chinesischen Fernsehen so erfolgreich seien, breiteten sich die Ideen zu Bürger- und Menschenrechten in China aus.
Wer Soft Power nutzen will, muss auch über eine rege kulturelle, mediale und öffentliche Produktion mit Ausstrahlungs- und Anziehungskraft verfügen. Man mag sich an die Wirkung von Rock’n’Roll und abstrakter Kunst im Nachkriegsdeutschland erinnern. Sie wurden ganz gezielt als Mittel der Akzeptanz liberaler Kultur gefördert.
Außerdem muss in Staat und Zivilgesellschaft ein Konsens herrschen, wenn es um Kultur und Kommunikation geht. Mit anderen Worten: Nichts darf im Verdacht stehen, reines Propagandamittel des Staates zu sein.
Ferner muss man diplomatische Beziehungen schaffen können, also Hürden senken, Grenzen öffnen, damit Vorbilder und Werte überhaupt in die Zielgesellschaft finden. Soft Power wirkt immer da, wo aus einer kulturellen Geheimbotschaft eine soziale Praxis und schließlich eine politische Haltung wird. Demnach muss der Anwender von Soft Power mindestens imstande sein, seinem Adressaten einen sicheren Raum zur Verfügung zu stellen.
Ferner muss man überzeugt davon sein, dass die eigene Position richtig ist – und die eigene Gesellschaft muss geschlossen hinter den propagierten Werten stehen. Das ideale Medium für Soft Power ist offensichtlich eine Form des kritischen Selbstbewusstseins. Wenn es etwas gibt, das die Anwendung von Soft Power sabotiert, dann ist es gewiss kulturelle Überheblichkeit. Aber nicht weniger problematisch ist es, eine Botschaft zu senden, an die der Sender selbst nicht glaubt.
Ebenso muss man einen technologischen, organisatorischen und ökonomischen Überschuss aufweisen. Die Anwendung von Soft Power, so trivial das erscheinen mag, kostet Geld, Arbeitskraft und Planung. Der Staat muss sie sich leisten können, und die Gesellschaft muss damit einverstanden sein.
Zu guter Letzt und wieder ganz am Anfang: Man muss über den politischen und sozialen Willen zu all’ dem verfügen.
So wie es Voraussetzungen für die Anwender von Soft Power gibt, so gibt es auch Voraussetzungen bei den Adressaten.
Die Grenzen – reale wie virtuelle – müssen bis zu einem gewissen Grad geöffnet sein.
Die Strahlkraft von Vorbild und Wertevermittlung muss als Ansporn zum Wandel, nicht aber als Beleg der eigenen Unfähigkeit und der eigenen Befangenheit ankommen können. Soft Power, das macht sie in autoritären Kreisen so unbeliebt, bedeutet immer einen Ausgleich und eine Partnerschaft.
Soft Power darf nicht zu neuen Spaltungen führen, etwa dergestalt, dass ein Teil der Gesellschaft für die Vorbilder und Werte empfänglich ist, während der andere Teil das alles als Kränkung oder Bevormundung empfindet.
Die Voraussetzung dafür, dass Soft Power nicht auf dem Stadium von Propaganda oder Reklame stecken bleibt, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat.
Soft Power kann nicht nur vom Anwender, sondern auch vom Empfänger als Täuschungsmanöver verwendet werden.
Soft Power lebt davon, dass sie weder militärische Bedrohung noch ökonomische Erpressung noch kulturelle Hegemonie anstrebt. Es handelt sich, wennzwar mit durchaus politischen Absichten und Interessen, um einen Vorgang von Geben und Nehmen. Daher ist es wahrscheinlich – womit wir wieder beim Beispiel Europa sind - , dass Soft Power am besten zwischen Staaten und Gesellschaften funktioniert, die sich ohnehin aufeinander zu bewegen und sich bereits auf anderen Ebenen angenähert haben. Und am schlechtesten zwischen Staaten und Gesellschaften, die sich gerade durch ihre Gegensätzlichkeit legitimieren. Sogar der Begriff der Soft Power selbst dürfte entscheidend von der politischen Kultur der jeweiligen Länder abhängig sein. Gewiss ist das, was man in Europa, was man in den USA, was man in Russland und was man in China unter Soft Power versteht, ausgesprochen unterschiedlich, sieht man einmal von der kategorischen Unterscheidung vom Militärischen und von blanker ökonomischer Erpressung und Korruption ab.
Zu guter Letzt und wieder ganz am Anfang: Es muss eine Empfänglichkeit für Mittel der Soft Power geben, einen Spielraum, ein Potential der Veränderung, ein Interesse, eine inhaltliche und formale Basis.
Mit diesen Beziehungslinien zwischen Anwendern und Adressaten von Soft Power‑Impulsen lassen sich die Erfolgsaussichten einigermaßen bestimmen. Mehr noch, es lässt sich ersehen, was dabei alles schiefgehen kann, vom diplomatischen Eklat über kulturelle Missverständnisse bis hin zum gegenseitigen Betrugsvorwurf.
Soft Power hat nicht nur die üblichen Hardliner zu Gegnern, die alles ablehnen, was soft erscheint und was die militiärisch-ökonomische Überlegenheit schwächen könnte, sondern auch den Neo-Nationalismus und den Isolationismus. Die USA sind etwas abgesunken im Ranking der Soft Power-Anwendungen, obwohl dieses Land nach wie vor darauf pochen kann, der Soft Power zum Erfolg und nicht zuletzt auch zu einer theoretischen Konzeption verholfen zu haben. Das hat sicher auch mit dem „America First“ der Trump-Regierung zu tun.
Bei allen Widersprüchen: Das Konzept Soft Power funktioniert wohl nur, wenn damit eine Hoffnung auf die Verbesserung der Welt verbunden ist. Oder wenigstens die Hoffnung, nicht zu ihrer Verschlechterung beizutragen. Es findet auch deswegen mehr Zustimmung bei der kosmopolitisch-liberalen als bei der konservativ-nationalen Fraktion.
Nimmt man all’ dies zusammen, so hat man eine Illustration des Satzes von John Arquilla, dem amerikanischen politischen Analysten und Sicherheitsberater. Er wurde nicht zuletzt dadurch bekannt, dass er das Konzept der Schwarmintelligenz auf das amerikanische Militär übertrug.
„In der Vergangenheit war es klar, welche Partei gewinnt: Die mit der besseren Armee. In der Gegenwart wird es mehr und mehr die Partei sein, die die bessere Geschichte erzählt.“
Soft Power ist also nicht bloß eine etwas kultiviertere und freundlichere Form von Propaganda. Es geht vielmehr darum, einen Wettbewerb um Ideen und nun auch um Geschichten auszutragen. So ist Soft Power also die Fähigkeit, die bessere Geschichte zu erzählen. Jedenfalls diejenige Geschichte, von der man glaubt, sie sei die bessere. Und beim Geschichtenerzähler kommt es eben nicht nur auf Inhalt, Form und Dramaturgie an, sondern auch darauf, wie feurig der Vortrag ist. Es geht also nicht nur um die besseren Geschichten, sondern auch um die besseren Geschichtenerzähler und -erzählerinnen.
Freilich zeigt das auch, wie wenig unsere idealistische Definition von Soft Power mit der politischen und militärischen Wirklichkeit übereinstimmt. Die Kriege, die wir derzeit erleben, scheinen nämlich zweierlei zu belegen:
Sie waren offenbar durch den Einsatz von Mitteln der Soft Power, durch alle Versuche, Frieden durch ökonomische und kulturelle Angebote zu bewahren, nicht zu verhindern.
Und die schreckliche Anwendung der Hard Power löst die Mittel der Soft Power nicht ab, im Gegenteil. Inmitten der Kriege der Armeen tobt der Krieg der Geschichten weiter. Und wenn am Ende nicht die bessere Armee, sondern die bessere Geschichte gewinnt, heißt das nicht, das damit das Leiden der Menschen und die Vernichtung von Kultur und Natur vermieden worden wäre.
Man kann also prinzipiell, und nicht erst seit dem Angriff der russischen Armee auf den ukrainischen Nachbarstaat, von einer ernüchternden Bilanz des Konzepts sprechen. Aber dieses Konzept wurde, zumindest was Politik und Militär anbelangt, schon vorher dramatisch verändert.
„In der wissenschaftlichen Debatte zu Soft Power herrschte lange Zeit die Vorstellung vor, dass Militär gleich Hard Power ist und Kultur und Werte gleich Soft Power. In den letzten Jahren hat sich dieses feste Schema aufgelöst, und es gibt Autoren, die das Militär auch als mögliche Ressource von Soft Power ansehen.“
Schreibt der Politikwissenschaftler Jan Kersten in seiner Untersuchung über „Soft Power und Militär“ am Beispiel des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Selbst im Bereich des Militärischen gibt Joseph Nye also jenen zentralen Begriff nicht auf, mit dem er die Soft Power bestimmt: die Attraktion, die an die Stelle der Bedrohung tritt. Sie könnte allerdings die Funktion der Soft Power verändern, zum Beispiel, wenn es darum geht, auch in dieser Situation das Angebot von Vorbild und Wert nicht zu vergessen.
So wäre das nächste, leider nicht mehr pazifistische Ideal, Hard und Soft Power zu vereinigen. Oder die bessere Armee zu schaffen, die zugleich die bessere Geschichte erzählt. Wie weit wir selbst von diesem Ideal entfernt sind, belegt die Geschichte der militärischen Skandale der letzten Jahrzehnte. Noch einmal Jan Kersten:
„Vertritt ein Land weltweit geschätzte Werte wie Demokratie, die Einhaltung von Menschenrechten, den Einsatz für Frieden usw. aktiv in seiner sichtbaren Politik nach innen und außen und arbeitet in Kooperation mit anderen, etwa auf der Ebene internationaler Institutionen, an der Durchsetzung solcher universellen Wertvorstellungen, so kann auch hierin eine starke Quelle von Soft Power liegen.“
Bei der Lektüre von Joseph Nye treffen wir auf die manchmal bestürzende Naivität, mit der er ohne kritische Reflexion alles Amerikanische mit Attraktivität und Wert gleichsetzt. Doch auch ein bisschen skeptischere Europäer haben die Grundüberzeugung, dass unsere Werte weltweit geschätzt seien. Dabei bekämen wir schon in der eigenen Gesellschaft keine verlässlichen Mehrheiten dafür, die Demokratie, die Einhaltung von Menschenrechten, den Einsatz für Frieden als Wesensmerkmale jener besseren Geschichte anzusehen, die es weltweit zu erzählen gilt.
Mit anderen Worten: Die Anwendung von Soft Power als politisches Mittel ist gebunden an die Überzeugung, die eigenen Werte seien diejenigen, die es in der richtigen Geschichte der ganzen Welt mitzuteilen gälte, und selbstverständnlich wären die richtigen Werte auch die attraktivsten Werte.
Darin steckt nun womöglich die dritte große Ernüchterung. Soft Power konnte nie von nationalen und volkswirtschaftlichen Interessen, nie vom Egoismus der Gruppen, der Mächte und der Institutionen losgelöst werden. Soft Power konnte sich nicht als friedensstiftende und stabilisierende Kraft entwickeln, sondern verband sich immer wieder direkt oder indirekt mit den Mitteln der Hard Power. Und schließlich kann sich Soft Power sozusagen schon rein grammatisch nicht von einer Position moralischer und kultureller Überlegenheit lösen.
Sind wir damit am Ende einer Geschichte, am Ende eines Konzepts?
Blicken wir wieder auf die dritte Soft Power Conference 2022 in Venedig. Die verkündet programmatisch: Es geht um nichts Geringeres als eine...
„... ökologisch-nachhaltige Veränderung der Weltordnung mit Hilfe der Kultur.“
Was man an Attraktion und Werten zu vermitteln hat, ist nicht mehr an Nationen oder Blöcke gebunden, soll keine kulturelle Vorherrschaft und keinen Wettbewerb der Attraktionen und der Werte mehr in Gang setzen, sondern globale Konzepte für das gemeinsame ökologische Handeln entfalten.
Hier, so scheint es, kommt die große Bewährungsprobe für das Konzept. Hier geht es nicht mehr darum, dass eine Nation der anderen mit möglichst gewaltlosen und attraktiven Mitteln den eigenen Willen aufdrängt, sondern darum, das Überleben der Menschen auf einem Planeten am Rande des ökologischen Kollaps zu sichern.
Der eine Teil der Menschheit muss den anderen Teil mit mehr oder weniger sanften Mitteln davon überzeugen, dass es notwendig und sinnvoll ist, auf immer mehr Wachstum, immer mehr Produktion und Konsum, immer mehr Verkehr und immer mehr Luxus zu verzichten. Und er kann dies nicht aus einer Position der moralischen und wissenschaftlichen Überlegenheit tun, sondern im Gegenteil aus einer Position der Schuld heraus.
Soft Power heißt in diesem Zusammenhang, dass sich der Anwender noch viel mehr und viel radikaler ändern muss als der Adressat. Die Attraktion und der Wert, um die es bei diesem Kampf um die bessere Geschichte geht, müssen erst entwickelt werden. Jede Bindung an die Hard Power, ökonomische Erpressung, Kriegsdrohung, Korruption muss sich dabei als zerstörerisch erweisen. Hier ist Soft Power keine Option unter anderem, kein Hybrid zwischen Militär, Ökonomie, Kultur und Diplomatie, sondern ganz einfach die einzige Möglichkeit. Folgerichtig hat es sich die Konferenz in Venedig auch zur Aufgabe gemacht, eine neue Grundlage, einen neuen Code für die Anwendung von Soft Power zu erstellen. Noch einmal muss sich die Grammatik dieses Konzepts fundamental verändern.
Man muss sowohl die Ausgangspositionen als auch die Mittel von Soft Power immer wieder kritisch hinterfragen und nicht zuletzt die Grenzen ihrer Anwendung bestimmen. Aber selbst dann bleibt sie eine der letzten Hoffnungen auf eine etwas friedlichere und etwas ökologischere Welt. Das Konzept ist gescheitert, korrumpiert, verächtlich gemacht. Gewiss. Aber die großen Ernüchterungen können auch als Ansporn dazu dienen, es immer wieder kritisch und neu zu denken. So lange, bis Soft Power vielleicht nicht als sanfte Macht, sondern als Macht der Sanftmut doch noch die Welt rettet. Und die bessere Geschichte doch noch gefunden wird.