Wer in diesen Zeiten über Solidarität spricht, muss natürlich über Corona sprechen. Die Gabenzäune für Hilfsbedürftige, die Einkaufshilfen für Ältere, die Notwendigkeit einschränkender Maßnahmen! Selten, so schien es, hat sich das Solidarische in unserer Gesellschaft so direkt und allumfassend gezeigt, waren Hilfsbereitschaft, Rücksicht und Anteilnahme so deutlich spürbar gewesen. Doch selbst in dieser Phase des sichtbaren Für- und Miteinanders offenbarte die Solidarität auch ihr Konfliktpotenzial, analysiert der Soziologe Jürgen Prott in seinem neuen Buch.
"Wer unverschuldet in Not gerät, der soll sich in unserer Gesellschaft auf großzügige Barmherzigkeit verlassen können. Solidarität aber, so belehren uns manche Politiker, ist noch einmal etwas anderes. Die gibt es nämlich nicht umsonst. Sie ist auch keine Einbahnstraße. Man muss sich Solidarität durch normgerechtes Sozialverhalten verdienen […] Solidarität, das lehrt dieses Beispiel, erschöpft sich nicht im selbstverständlichen Einvernehmen. Sie ist ein Konfliktfall."
"Vorwärts, nicht vergessen…"
Konfliktgeladen war die Solidarität bereits in den frühen Jahren der Arbeiterbewegung. Die vielbeschworene Solidarität der Gleichgesinnten, die nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten, brauchte einen Gegner - das Kapital, den Klassenfeind, die Unterdrücker. Solidarität galt als Stärke, als konstituierend für die Gemeinschaft und als geradezu euphorisierend im revolutionären Kampf, wie im "Solidaritätslied" von Bertolt Brecht und Hanns Eisler aus dem Jahr 1932 deutlich zu hören ist.
In liberalen Gesellschaften westlichen Zuschnitts, so Prott, habe sich jedoch der Grundsatz der Freiwilligkeit in den Vordergrund gedrängt. Wenn der verinnerlichte Zwang sozialer Gemeinschaften zum kollektiven Handeln durch freiwillige Zugehörigkeiten durchsetzt wird, werde Solidarität als "durchaus zerbrechlich" empfunden. Deshalb habe sich im Arbeitermilieu und bei manchen Gewerkschaftern eine gewisse "Lagermentalität" herausgebildet.
"Mitgliedschaften als Resultat freier Entscheidungen des Einzelnen sind vielen traditionalistischen Gewerkschaftern bis heute ein Dorn im Auge. Wer nicht dazugehört, kann keine guten Gründe haben. Er ist ein ‚Trittbrettfahrer‘, also prinzipiell unsolidarisch. […] Vielleicht ist hier eine Art Urangst der Arbeiterbewegung vor dem Liberalismus am Werk."
Die veränderte Rolle der Gewerkschaften
Als Gewerkschaftssoziologe legt Jürgen Prott den Schwerpunkt seines Buches auf Arbeitnehmersolidarität. Anhand von anschaulichen, selbst erlebten und fiktiven Beispielen beschreibt er Kollegialität und soziales Miteinander am Arbeitsplatz. Mithilfe von Interviews und Gesprächen, die er mit Beschäftigten und Betriebsräten geführt hat, zeigt er, wie sich in modernen Gesellschaften die Rolle der Gewerkschaften verändert hat. Die stets kampfbereiten Arbeitnehmervertreter haben sich zu institutionalisierten Konfliktpartnern entwickelt, die in Krisenzeiten auch mal das Wohl des großen Ganzen über ihre Gruppeninteressen stellen. Eine früher undenkbare "Entgrenzung des Solidarischen", stellt Jürgen Prott fest.
"Wir erkennen an diesem Beispiel veränderter Konfliktkonstellationen in der Arbeitswelt, dass es zu kurz greift, Solidarität als gelebte Zwischenmenschlichkeit in den Grenzen des vormodern Gemeinschaftlichen gefangen zu sehen. […] Die Solidarität, so sagte es ein Teilnehmer eines Gesprächs unter Gewerkschaftern, ‚ist eher ein Auslaufmodell.‘"
Wo es an Solidarität fehlt
Als Beispiel für bröckelnde Solidarität dienen Jürgen Prott die "Fridays for Future"-Proteste, die sich gegen den weiteren Abbau von Braunkohle richten. Wer solidarisiert sich angesichts der berechtigten Forderungen junger Menschen nach einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes mit den Braunkohlebeschäftigten? Immerhin 30.000 Menschen, Angestellte in der Energiewirtschaft und Sympathisanten, konnten die Gewerkschaften im Herbst 2019 mobilisieren, um für die Zukunft ihrer Arbeitsplätze zu demonstrieren. Doch der Protest fiel im Vergleich zu den "Fridays for Future"-Demos einigermaßen uninspiriert aus. Die Demonstranten waren in gecharterten Bussen gut versorgt mit Lunchpaketen wie zu einem Ausflug zur Kundgebung gekarrt worden. Danach war von "gekaufter Solidarität" die Rede. Das Fazit von Jürgen Prott:
"Solidarität, wenn sie als kämpferisches Füreinandereinstehen herausgefordert ist, lässt sich nicht so einfach einschalten und abschalten wie einen Lichtschalter. Jedenfalls dann nicht, wenn der Gegner nicht in der vertrauten Gestalt des tarifpolitischen Kontrahenten daherkommt, sondern als buntes Konglomerat von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich vom Rückenwind der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung kräftig beflügelt sehen."
Auch wenn Jürgen Protts Fokus auf Arbeitnehmersolidarität auf Dauer etwas eng wirkt und seine beispielhaften Erzählungen oft zu episch geraten, sind seine Ausführungen über solidarisches Handeln gestern und heute äußerst anregend. Das liegt vor allem daran, dass er den Begriff des Solidarischen schärft, indem er die damit verbundenen Handlungsdispositionen als konfliktgeladen betrachtet. Solidarität, so Prott, sei nun mal der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Insofern ist es wichtig, genau hinzuschauen, wenn der Zusammenhalt in Zeiten zunehmender Individualisierung brüchig zu werden droht.
Jürgen Prott: "Konfliktfall Solidarität. Geschichten und Analysen aus einer erschöpften Lebenswelt",
Steidl Verlag, 368 Seiten, 24 Euro.
Steidl Verlag, 368 Seiten, 24 Euro.