"Klassischerweise ist Gewalt immer dann gerechtfertigt, wenn sie zur Selbstverteidigung angewendet wird. Ob das individuell ist oder für ein Kollektiv gilt, ist eigentlich egal."
Gewalt ist der klassische, physische Ausdruck des Bösen. Um sie aus der Gesellschaft zu verbannen, so der Politikwissenschaftler Christopher Daase, hat sich seit dem Beginn der Neuzeit die Überzeugung durchgesetzt, dass allein der Staat Gewalt anwenden darf. Moderne Staaten besitzen das Gewaltmonopol: Nur Vertreter des Staates dürfen Gewalt ausüben, um das Recht durchzusetzen, im Normalfall die Polizei. Die Bürger des Gemeinwesens müssen Konflikte juristisch austragen.
Wenn ein Staat aber das Gewaltmonopol missbraucht und sich gegen seine Bürger oder einen Teil seiner Bürger wendet, steht ihnen das Recht zu, sich zu wehren. Sie dürfen das Böse mit Bösem bekämpfen. Daase, Professor an der Universität Frankfurt am Main, erinnert an die Tradition des Widerstands "die uralt ist, in die Antike zurückreicht und argumentiert, dass dort, wo eine Herrschaftsstruktur als ungerecht identifiziert wird, so etwas wie Widerstand möglich und vielleicht sogar notwendig und geboten ist."
Eine weithin akzeptierte Form des Widerstands ist der Tyrannenmord - wenn der Verursacher des Bösen klar zu identifizieren und Leid und Unrecht damit zu beenden ist. Ein solcher, offensichtlicher Fall wäre die Beseitigung Hitlers gewesen, sagt der Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Thamer:
"Er hat sowohl in der Philosophie als auch in der Publizistik, der Geschichtswissenschaft immer als die Inkarnation des Bösen gedient und das ist völlig unbestritten, eine solche Figur von einem so abgrundtiefen Hass und Zerstörungswillen, die ist schon ziemlich selten."
Wann ist ein Krieg "gerecht"?
Wie aber, wenn es mit dem Tod eines Einzelnen nicht getan ist? Wenn ein Staat so viel Unheil in die Welt bringt, dass sich ihm andere Staaten mit Gewalt entgegenstellen müssen, weil alle anderen Mittel versagt haben?
Ein Krieg löst noch mehr Grauen, noch mehr Unrecht aus, an Schuldigen wie Unschuldigen: Lässt sich das rechtfertigen? Für dieses Dilemma haben Philosophen in gut 2000 Jahren eine differenzierte Lehre vom "Bellum Iustum" entwickelt, wie es traditionell auf Latein heißt. Das Recht, einen "gerechten Krieg" zu führen, ruht auf drei Säulen. Ludwig Siep, Professor für Philosophie an der Universität Münster, erläutert:
"Unterschieden wird zwischen der Rechtfertigung zum Krieg:" Das "Recht zum Krieg" benennt den Kriegsgrund, in erster Linie also die Selbstverteidigung.
"Gerechtfertigten Handlungen im Krieg:" Durch das "Recht im Krieg" müssen der Schutz Unbeteiligter und die Verhältnismäßigkeit der Gewaltmittel definiert werden.
"Und der rechtmäßigen Beendigung eines Krieges:" Gemäß dem "Recht nach dem Krieg" sind vorab die Möglichkeiten für einen dauerhaften Frieden zu prüfen.
Der Krieg gegen Hitlerdeutschland
Diese drei Gesichtspunkte kommen nicht aus dem philosophischen Elfenbeinturm. Sie sind alles andere als wirklichkeitsferne Theoreme. Das lässt sich an einem gründlich erforschten historischen Beispiel nachvollziehen: dem "gerechten Krieg" gegen Hitlerdeutschland.
Dass Frankreich und Großbritannien, beide noch vom Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise geschwächt, das Recht zur Selbstverteidigung in Anspruch nehmen konnten, steht außer Frage. Noch existenzieller war die Bedrohung für die Sowjetunion: Gegen sie führte die Deutsche Wehrmacht einen Vernichtungskrieg. Was aber trieb die Regierung der USA an, in den Krieg einzutreten? Ihr Heimatland war nicht ernstlich bedroht. Professor Thamer:
"Sie haben vor allem nach der Gefährdung auch der englischen Macht den Eindruck gewonnen, dass hier eine Weltordnung zusammenbrechen könnte. Die ihnen ja bis dahin auch eine Reihe materieller Vorteile brachte."
Die Politik der USA war nach dem Ersten Weltkrieg von einer isolationistischen Haltung geprägt, doch amerikanische Unternehmen hatten massiv in Europa investiert. Die ökonomische Vernunft gebot also, Großbritannien zu unterstützen. Die ethische Rechtfertigung sah man darin, dass das Vereinigte Königreich die letzte demokratische Großmacht war. Die totalitären Mächte drohten eine Errungenschaft zu zerstören, für die sich die US-Regierung schon im Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte: Eine Weltordnung, die am Selbstbestimmungsrecht der Völker, den Menschenrechten und demokratischen Prinzipien orientiert war.
"Nur wenn da noch irgendwelche Spuren von Recht herrschen, ist das die Chance, daraus eine künftige Ordnung zu schaffen. Das ist die amerikanische Vorstellung, das sind die Vereinten Nationen und die Bindung an bestimmte Rechtsordnungen in der Kriegführung."
Im August 1941, noch bevor die USA in den Krieg eintraten, legte Präsident Roosevelt mit dem britischen Premierminister Churchill in der Atlantikcharta Prinzipien fest, die dann 1945 in den Gründungsvertrag der Vereinten Nationen eingingen. Roosevelt und sein Außenministerium argumentierten also vor allem mit der dritten Kategorie für eine Rechtfertigung der Gewalt: der Hoffnung auf eine rechtmäßige spätere Friedensordnung.
Umstritten ist bis heute, ob die Gewaltmittel der Alliierten immer angemessen waren oder den Verhaltensregeln in einem "gerechten Krieg" widersprachen: Vor allem die Massenbombardements, die sich nur gegen die unbeteiligte Zivilbevölkerung richteten. Hans-Ulrich Thamer:
"Insofern ist der Bombenkrieg auch dadurch gerechtfertigt, dass es hier gegen eine zutiefst amoralische, verbrecherische Macht geht und dass man dafür dann eben auch inkauf nehmen muss, dass zur Wiederherstellung von Menschenrechten und dergleichen auch Unschuldige wie die Zivilbevölkerung große Opfer bringen mussten."
Ludwig Siep dagegen erkennt eine Verletzung des Ius in Bello, des "Rechts im Krieg":
"Es war ganz gezielt gegen Zivilisten, man hat die Häuser erst oben aufgesprengt und dann Brandbomben reinfallen lassen, also ich neige dazu, das Ius in Bello für verletzt zu halten, auch beim Atombomben-Abwurf in Japan, aber der Krieg als solcher war ein gerechtfertigter."
Im Krieg werden Regeln immer wieder gebrochen, Zivilisten getötet, sogar Massaker verübt. Trotzdem sind diese Regeln keineswegs überflüssig, betont der Politikwissenschaftler Christopher Daase. Ihre Funktion ist:
"Das bisschen Ordnung, das bisschen Recht, das es im Krieg dann noch gibt, aufrechtzuerhalten. Und deswegen darf man diese Regeln auf keinen Fall kleinreden. Und muss ihre Aufrechterhaltung, wo es nur geht, stärken."
Was leistet der Weltsicherheitsrat?
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Politiker weltweit bemüht, den Krieg grundsätzlich zu ächten. Nach dem Völkerrecht ist er nur noch zur Selbstverteidigung erlaubt. Aber die Grenze zwischen Selbstverteidigung und Angriffskrieg ist nicht leicht zu ziehen.
Daher kann nur eine überstaatliche Autorität die Entscheidung über den "Bellum Iustum" fällen, wie schon der römische Philosoph Cicero befand, der vor 2000 Jahren die ersten, systematischen Grundbegriffe zur Theorie des "gerechten Kriegs" definierte. Das Kernproblem jedoch bleibt bis heute ungelöst: Wie schafft man eine Instanz über den souveränen Staaten, die von allen anerkannt wird? Eine Instanz, die ein Gewaltmonopol gegenüber Staaten hat? Ende des 18. Jahrhunderts, in der Glanzzeit der deutschen Aufklärung, bezog auch Immanuel Kant dazu Stellung. Ludwig Siep fasst zusammen:
"Zunächst mal sagt er, die Vernunft verlangt, dass es keine Kriege gibt, die Vernunft verlangt, dass alle Konflikte durch Rechtsverhältnisse beigelegt werden. Wie im einzelnen Staat, so auch zwischen den Staaten."
Dieser Forderung der "Reinen Vernunft" kommt aber auch bei Kant die empirische Erfahrung in die Quere: Er zweifelte daran, dass ein Weltstaat mit einer Völker-Friedensordnung funktionieren könnte.
"So will Kant am Ende also keinen Weltstaat, sondern einen Ersatz dafür, ein Surrogat, wie er selbst sagt, einen Völkerbund mit einigen Sanktionsfähigkeiten, aber den man jederzeit verlassen kann."
Im Grunde ist das eine Kapitulation, denn Kant wusste sehr wohl: Um "zum Ewigen Frieden" zu gelangen – wie eine seiner bekanntesten Schriften heißt -, reicht diese Lösung nicht aus.
Übrigens klingt bei Kant auch eine andere Sichtweise an, die mindestens so alt ist wie das Konzept des "gerechten Kriegs": Dass sich nur im Chaos der Schlacht Tugenden wie Tapferkeit und Opferbereitschaft voll entfalten könnten. Deutlicher äußerte das sein Zeitgenosse Hegel: Er sprach dem Krieg eine unverzichtbare sittliche Bedeutung zu, weil er den Gemeinsinn der Menschen fördere. In der Philosophie blieb diese Tradition bis weit ins 20. Jahrhundert lebendig.
Der Konflikt um den Kosovo 1999
Im Völkerrecht hat man inzwischen die übergeordnete Autorität festgelegt, die über einen gerechtfertigten Verteidigungskrieg zu entscheiden hat. Der 1920 geschaffene Völkerbund war dieser Aufgabe allerdings nicht gewachsen, so dass sie 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen an den Weltsicherheitsrat übergegangen ist. Das Problem besteht jedoch weiter: Wenn ihre eigenen Interessen betroffen sind, können Staaten eine Entscheidung des Sicherheitsrates verhindern. So etwa 1999, im Konflikt um den Kosovo: Westliche Regierungen fürchteten, dass serbisch-jugoslawische Truppen einen Völkermord an albanisch-stämmigen Kosovaren begehen könnten. Doch Russland, Serbiens engster Verbündeter, blockierte das UNO-Mandat zu einem Militäreinsatz. Der Politikwissenschaftler Christopher Daase kommentiert:
"Der Kosovo-Krieg ist für diese ganze Entwicklung des Kriegsvölkerrechts ausgesprochen wichtig. Weil er eine Situation war, in der es kein UNO-Mandat gab für ein Eingreifen und trotzdem die NATO sich entschlossen hat, einen Krieg zu führen. Und die Frage ist, auf Grundlage welcher Argumentation das möglicherweise rechtens oder moralisch vertretbar gewesen ist."
Legal war der NATO-Einsatz nicht, denn er widersprach dem Völkerrecht. Als legitim kann man ihn aber betrachten:
"Das kann man mit der Lehre des "gerechten Krieges" tun, indem man sagt: Es gibt jenseits des Völkerrechts Kriterien, die höher zu bewerten sind als das Recht, nämlich moralische Kriterien."
Ein solches Kriterium kann es sein, dass eine massive Verletzung der Menschenrechte wie ein Völkermord verhindert werden muss. Zu diesem Ergebnis kam im Nachhinein auch eine Untersuchung für die Vereinten Nationen.
Ethische Gründe sind höher zu bewerten als juristische, weil die Ethik die Grundlage des Rechts ist: Es wird zur gerechten Ordnung des Zusammenlebens geschaffen, also aus ethischer Absicht. Und es wird aus ethischen Überlegungen immer wieder verändert, an neue Anforderungen und Einsichten angepasst. Der Konflikt zwischen Ethik und Recht gehört also zur gesellschaftlichen Entwicklung – bedeutet aber immer ein Dilemma: Einerseits muss die Theorie vom gerechten Krieg in juristisch greifbare, praxistaugliche Regeln umgesetzt werden. Andererseits kann sie manchmal dazu dienen, das definierte Recht wieder infrage zu stellen.
In diesen Fällen kann nur eine breite, kritische Debatte in einer offenen Gesellschaft zu einer angemessenen Lösung führen:
"Ich glaube, dass so eine Debatte gesellschaftlich, in der Wissenschaft, in der Politik geführt werden muss - jedes Mal, und auch kontrovers geführt werden muss. Aber es muss dann am Ende auch eine Entscheidung gefällt werden - die dann auch akzeptiert werden muss, durchgezogen werden muss, natürlich weiter kritisiert werden muss – aber es ist wichtig, dass jedes Mal solche Situationen auch vor dem Hintergrund der individuellen Bedingungen debattiert werden."
Das bestehende Recht gilt, betont Christopher Daase, es ist die Basis des Zusammenlebens. In diesem Rahmen hilft die Lehre vom "gerechten Krieg", wenn zu prüfen ist, ob sich allein durch das Übel der Gewaltanwendung ein größeres Unheil verhindern ließe. Nur in einem Ausnahmefall dürfe sie herangezogen werden, um gegen das Recht zu argumentieren.