"Moin!" "Moin!" "Ei gut?" "Ei bestens, ei bestens."
Wer mit Andreas Kuhlmann in Bremen einen Lieblingsort sucht, hat Glück. Zu jeder Ecke kennt der ehemalige Verkäufer der "Zeitschrift der Straße" eine Geschichte. Besonders gut kennt er sich in der kleinen Bremer Altstadt, dem Schnoor aus. Hier hat er lange im Geschichten Haus gearbeitet. Einem Museum, in dem Langzeitarbeitslose in die Rolle einer historischen Persönlichkeit Bremens schlüpfen und als diese Figur die Geschichte der Stadt erzählen. Seine Paraderolle:
"Der Heini Holtenben ist ein anerkannter Stadtstreicher gewesen in Bremen. Der 1835 geboren ist und 1909 gestorben sein soll."
So anerkannt, dass ihm ein Denkmal gebaut wurde. Seine Statue steht am Rande des Schnoors. Ein Viertel mit engen Gassen und bunten Häusern – ich fühle mich wie in einer Stadt aus begehbaren Puppenhäusern zu sein.
Seele des Schnoors
Was mir wie ein malerischer Ferienort erscheint, bedeutet Andreas Kuhlmann viel mehr. Die Obdachlosenzeitung, das Geschichten Haus und nicht zuletzt der Überlebenskünstler Heini Holtenben haben ihn aus dem Drogensumpf gerettet.
"Heini war der Sohn eines Schuhmachermeisters. Und ist in seiner Lehrzeit mal aus dem vierten Stock gefallen. Und dabei hat er, sagen die Leute, so einen kleinen an die Omme bekommen. Ist so ein bisschen brenklöderich geworden, wie wir Bremer sagen."
Und weil er außerdem nach dem Sturz humpelte, dachten alle, er hätte ein Holzbein – Holtenben eben. Aber Heini wusste sich zu helfen und schlug geschickt Kapital aus dem Mitleid der Bremer. Bis er auf seine Weise zur Bremer Elite gehörte:
"Für die reichen Kaufleute, war es schon auch in Mode sich mit Heini sehen zu lassen. Er hatte schon auch Manieren."
Seitdem Andreas Kuhlmann Heini Holtenben gespielt hat, kommt er immer wieder zu seinem Denkmal zurück:
"Ich will auch gar nicht verschweigen, dass es Tage gab, wo ich keine Zeitschriften hatte, sondern auch einfach so mal den ein oder anderen um bisschen Knete angehauen ab, das passte auch so zu der Figur von Heini, oder so. Aber irgendwie hat sie mir immer noch ein bisschen Halt gegeben, diese Figur."
Shabby-Schick und Lofts für die junge Wirtschaft
Von hier aus, zehn Minuten mit dem Fahrrad die Weser hoch, treffe ich Sandra Lachmann in der Überseestadt. Ein Quartier, das im Umbruch ist:
"Also im hinteren Teil hat man die alten Industriegebäude und ganz viel Rost und ganz viel Shabby-Schick, das ist noch so ein bisschen der Geist der alten Zeit und des Arbeitens, und vorne ist dieser schickere Charakter von Lofts und innovativen Unternehmen und das knallt auf sehr spannende Weise aufeinander."
Sandra ist eine Bloggerin aus Bremen. Wahlbremerin, wie sie sagt. In ihrem Blog "Wortkonfetti" schreibt sie über Bremen und über das Leben als Unternehmerin und Mutter.
Die Sonne steht schon tief, als wir uns auf den Weg zu ihrem Lieblingsort aufmachen, ganz am Ende der Überseestadt. Hier geht es einen Kiesweg entlang, rechts und links glitzert das Wasser, bis am Ende des Damms ein kleiner zwölf Meter hoher Leuchtturm mit einer grünen Spitze auftaucht. Der Molenturm.
"Es gibt keine Sitzgelegenheiten. Man kann sich in die Fenster, oder in die Mauer des Turms lehnen. Es gibt ein Geländer, da kann man gut sitzen. Meistens, wenn ich da bin, sitzt auch ein Angler dort und hält seine Angel ins Wasser. Verliebte Pärchen sieht man auch hier und da. Und Radtouristen, die das als Ausflugsziel nutzen. Aber man ist da auch ganz häufig ganz alleine."
Wasser und Weite
Ich verstehe sofort, warum dieser Ort Sandras Lieblingsort ist.
"Es tut einfach immer gut, auf das Wasser und in die Weite zu gucken. Ich radel da auch vom Büro in der Innenstadt in zehn Minuten raus und bin in einer ganz anderen Welt, die auch den Kopf so ein bisschen frei macht."
Das machen Sandra und ich jetzt auch, wir schauen ins Licht und in die Weite.
Vom Molenturm, 20 Kilometer weiter in den Nordwesten nach Vegesack, bringt mich mein zweites Treffen mit Andreas Kuhlmann. Er ist in Vegesack geboren und hat hier seine Jugend verbracht. Sein Lieblingsort hier: der Utkiek.
"Denn der Utkiek ist ein prägender Ort hier in Vegesack. Das ist ein Ort, wo sich früher immer sehr viele Leute getroffen haben, junge Leute getroffen haben. Einfach der Treffer für Jedermann. Also da war auch jede Gruppierung von Leuten. Sowohl die sogenannten Freaks, sag ich mal, wie auch der Otto-Normal-Verbraucher."
Der Utkiek ist ein mit Bänken und Bäumen gesäumter halbrunder Platz. Zwischen Weser und Gaststätten steht ein riesiger Walfischkiefer aus Bronze. Er erinnert an die Zeit, in der die Walfischer von hier aus Richtung Meer segelten.
Glasklar, warum dieser Ort "Utkiek", also Ausschau, heißt. Man konnte hier früher bestens die ein- und ausfahrenden Schiffe beobachten. Jetzt ist im alten Hafen von Vegesack kaum noch Schiffverkehr.
"Wenn ich jetzt so mit dir lang gehe hier, dann kommt auch so ein bisschen Wehmut hoch, weil wir haben hier früher doch ordentlich Raubbau getrieben und ordentlich Partys gefeiert, das kann man echt so sagen. Das war schon recht lustig hier."
Auf ein Bierchen bei Onkel und Tante Hans
Manchmal hat Andreas sogar sein Schlagzeug mitten auf den Platz gestellt und Musik gemacht. Und die Gaststätten und Kioske hier, erzählt er, hatten Kultstatus:
"Da früher, da war ein Imbiss drin, der hieß Onkel Hans. Nachher haben wir es umgetauft in Tante Hans, weil der männliche Part verstorben war und sie hat das noch weiter geführt und dann haben wir sie immer Tante Hans genannt. Wenn ich da jetzt so die Augen zumache und dran denk, das war schon echt irre! Wo geht’s hin? Zum Utkiek! Was machen wir? Ja, erstmal zu Tante Hans, Bierchen holen!"
An diesem Tag lebt die wilde Zeit nur in Andreas Kuhlmanns Geschichten wieder auf. Es ist ziemlich ruhig am Utkiek. Trotzdem ist es schön und so bleiben auch wir beide noch eine Weile sitzen, schauen den kreuzenden Fähren zu, bis wir wieder in unseren Alltag zurückkehren.