"Ich habe meine Meinung geändert", schreibt Hannah Arendt in einem Briefwechsel. "Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie."
Das Böse sei hingegen banal. Mit dieser Aussage vollzieht Hanna Arendt eine Kehrtwende zu ihren ursprünglichen Reflexionen über das Böse, die sie in ihrer Totalitarismus-Studie "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" entwickelt. Angesichts der schier unvorstellbaren Gräueltaten, die sich in den nationalsozialistischen und stalinistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern abspielten, spricht sie vom sogenannten radikalen Bösen. Doch in ihrer Rolle als Beobachterin der Gerichtsverhandlung um den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann muss sie feststellen, dass der Verantwortliche für die Deportation von Millionen Juden kein böser Dämon war, sondern ein ganz "durchschnittlicher, ‚normaler’ Mensch."
Eichmann war schlichtweg unfähig dazu, sein Handeln zu reflektieren und es tiefgründig zu hinterfragen. Für Arendt wird das Böse somit zu einem Oberflächenphänomen. Es ist banal, weil es nicht im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes radikal an die Wurzel, die radix, gehe:
"Wir widerstehen ihm [dem Bösen], indem wir uns nicht von der Oberfläche der Dinge mitreißen lassen, indem wir innehalten und anfangen, zu denken. [...] Anders gesagt, je oberflächlicher jemand ist, umso wahrscheinlicher wird er dem Bösen erliegen."
Die Unfähigkeit, selbst zu denken
Martin Legros bemerkt in seinem Essay über Hannah Arendt zu Recht, dass diese Oberflächlichkeit auch heute noch ein gravierendes Problem darstellt und macht damit deutlich, wie zeitgemäß ihre Reflexionen sind. Besonders Diskurse im Internet und den sozialen Medien werden oftmals stark vereinfacht und polemisch geführt. Die Fähigkeit zu einem besonnenen Urteilsvermögen seiner selbst und der Meinungen und Lebensentwürfe seiner Mitmenschen ist vorwiegend einer affektgesteuerten Irrationalität gewichen.
Vor der Unfähigkeit, selbst zu denken, warnt auch die Philosophin Susan Neiman im Gespräch mit Herausgeberin Catherine Newmark. Sie diagnostiziert ein in der Politik weit verbreitetes Freund-Feind-Schema, das einem dualistischen Weltbild zugrunde liegt, einem Denken in Gut und Böse. Vereinfachungen und Verallgemeinerungen seien ein Resultat dieses Denkens, dass durch eine "kleinteilige, konkrete Analyse von partikularen Situationen, Taten und Handlungen" ersetzt werden muss. Dass die Fähigkeit zur Reflexion allerdings nicht genuin gut ist und Böses per se abwendet, legt das Interview mit der Philosophin Bettina Stangneth nahe, die eine Ethik des Denkens einfordert:
"Die Hoffnung, dass ein Mensch, nur weil er reflektiert, immer schon auf dem richtigen Weg ist, kann man bestenfalls als Kurzschluss bezeichnen."
Schließlich kann sich auch das Böse als Gutes wähnen, zum Beispiel in Form totalitärer Ideologien, die den Massenmord an anderen Menschen als Notwendigkeit für den Erhalt des Volkskörpers legitimieren, den Klassenkampf damit rechtfertigen oder den Willen eines allmächtigen Gottes, der auf Erden um jeden Preis umzusetzen ist. Daher argumentiert Julian Baggini in seiner lesenswerten Typologie des Bösen, das Böses in den seltensten Fällen das Produkt sadistischer Menschen und ihrer Triebe sei, sondern oftmals aus der Intention hervorginge, vermeintlich Gutes zu tun:
"Diese Überlegung zeigt auch, dass die meisten Formen des Bösen da angesiedelt sind, wo weder gute noch üble Absichten vorherrschen."
Das absichtslose Böse
Ein absichtsloses Böses, das sich nicht nur in blutrünstigen Zusammenhängen manifestiert, sondern beispielsweise auch in ganz alltäglichen Dingen offenbart. Plastik galt einst als fortschrittliche Erfindung. Heutzutage weiß man, dass Kunststoffe ein schwerwiegendes Problem für die Umwelt darstellen. Absichtslos ist auch das sogenannte Naturböse: Katastrophen, Krankheiten und tödliche Unfälle fallen etwa in diese Kategorie. Überhaupt wird bei der Lektüre dieser Sonderausgabe immer wieder deutlich, dass das Böse nicht als etwas Übersinnliches oder Unerklärliches gedacht wird. Die Essays streben an, es seiner Mystik zu berauben. Darin liegt keineswegs die Gefahr einer Normalisierung des Bösen, wie es die Kriminalpsychologin Julia Shaw im Interview erklärt:
"Nur weil wir die Nazis erklären können, heißt es auf keinen Fall, dass wir sie entschuldigen. […] Wer nur das Etikett Böse draufklebt und damit die Diskussion beendet, der befasst sich nicht wirklich mit der Sache und riskiert im schlimmsten Fall, dass sich Ähnliches wiederholt."
Der Wunsch nach Katharsis
Natürlich erfahren auch die Bösewichte aus Literatur und Film eine Würdigung. Krimi-Bestsellerautor Sebastian Fitzek wird gefragt, woher die anhaltende Faszination für Kriminalfälle und psychologische Verbrecher käme. Der Schriftsteller spricht von einer Katharsis, dem Wunsch nach einem "intensiven Durchleben von Emotionen, die man im Alltag nicht haben will." Der Erkenntnisgewinn hält sich hier in Grenzen. Interessanter wäre der Gedanke gewesen, ob es das fiktionale Böse überhaupt noch braucht, wenn es heutzutage problemlos möglich ist, mit wenigen Klicks allerlei reale Grausamkeiten im Internet abzurufen. Überhaupt kommt der Einfluss der Datenautobahn auf die Rezeption des Bösen viel zu kurz. Wie verändert das World Wide Web unsere Wahrnehmung des Bösen? Und welche philosophischen Herausforderungen gehen damit einher?
Von der Unmöglichkeit, das Böse zu überwinden
Die Sonderausgabe schließt mit Überlegungen zu der Frage, ob es möglich sei, das Böse zu überwinden. Ist es erstrebenswert in einer Gesellschaft zu leben, in der es nur noch Gutes gibt und menschliche Niedertracht und Amoralität der Vergangenheit angehören? Der Philosoph Jörg Nöller hält das für keine kluge Idee:
"Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner großen Ideologien lehrt uns ziemlich eindeutig, dass gesellschaftliche Verbesserungsprojekte nie in perfekte, sondern regelmäßig in unfreie Gesellschaften gemündet sind."
Es gehört zur freien Entfaltung des Menschen, sich auch bewusst für das Böse entscheiden zu können. Es gilt, diese Ambivalenz auszuhalten und zu akzeptieren, dass ein vom Bösen befreites Leben immer eine Utopie bleiben wird. Schließlich ist das Böse, um den französischen Philosophen Emil Cioran zu zitieren, auch viel eifriger als das Gute, "will sich übertragen und erreicht es, denn es besitzt das zweifache Privilegium, faszinierend und ansteckend zu sein." Das trifft auch auf diese Sonderausgabe zu, nach deren Lektüre man noch mehr über das Böse erfahren möchte.
Philosophie-Magazin Sonderausgabe: "Das Böse"
Philomagazin Verlag, Berlin. 98 Seiten, 9,90 Euro.
Philomagazin Verlag, Berlin. 98 Seiten, 9,90 Euro.