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Sonderstab Musik - Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-41

Michael H. Kater: Die mißbrauchte Muse - Musiker im Dritten Reich Deutsch von Maurus Pacher Europa Verlag, 1998, 576 Seiten, Preis: 58 Mark

Johannes Kaiser |
    Willem de Vries: Sonderstab Musik - Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-41 Deutsch von Antje Olivier Dittrich Verlag, 1998, 380 Seiten, 67 Abb., Preis: 49 Mark

    "Die Musik war den Nationalsozialisten auf eine ganz spezielle Art und Weise wichtig, nämlich die ernste Musik", so Michael Kater. "Wagner hat einmal gesagt, und Goebbels hat das gern zitiert: Der Meister der Musik ist ein Deutscher. In anderen Worten das heißt kein anderer als ein Deutscher kann wirkliche Musik machen. Das wurde verabsolutiert und diese Tendenz hat es natürlich längst vor den Nationalsozialisten gegeben. Alles, was nicht deutsche Musik war, war Mist eigentlich, auch zum Beispiel italienische und französische Musik, vom Jazz gar nicht zu reden. Das war natürlich Gift."

    Und vor solchem Gift sollte das deutsche Volk bewahrt bleiben. Die Nationalsozialisten ließen jedenfalls nichts unversucht, das deutsche Musikleben gleichzuschalten, 'volksfremde' Einflüsse zu eliminieren, wie der kanadische Historiker Michael Kater jetzt in seinem Buch "Die mißbrauchte Muse - Musiker im Dritten Reich", so detailreich und anschaulich wie niemand zuvor beschreibt. Seine gründliche und umfassende Untersuchung belegt, daß vieles von dem, was nach 1933 geschah, einer fatalen Tradition folgte. Zahlreiche deutsche Musiker hegten bereits in den zwanziger Jahren eine nationalistische Gesinnung, die der der Nazis sehr nahekam. Viele von ihnen verachteten die deutsche Republik, hielten von Demokratie wenig, vom Führerprinzip viel. Musiker sind es eben gewohnt, sich ohne große Diskussionen einem Dirigenten unterzuordnen. Die sogenannte ernste Musik war ein Hort konservativer Autoritätsgläubiger. Man muckte nicht auf, sondern machte mit: "Was ich versuche, ist eigentlich keinem große Schuld zuzuweisen, auch niemanden richtig reinzuwaschen", so Kater. "Das ist für mich alles grau in grau und eigentlich insofern sehr menschlich. Ich weiß nicht, ob ich den Künstlern da in jedem Fall gerecht geworden bin, aber ich glaube, daß es da wirklich Schattierungen gegeben hat, daß so jemand wie Karajan in großem Maße politisch opportunistisch gewesen ist: zweimal in die Partei eingetreten und dann aber in Ungnade fiel, weil Furtwängler ihn nicht ausstehen konnte. Es hat ihm nichts genutzt. Ja, bei Richard Strauß sieht es ein bißchen anders aus. Richard Strauß hat viele der Ideale der Nationalsozialisten für gut befunden, aber nicht weil er Nazi war, sondern weil er aus einer antidemokratischen Tradition kam und ihm dieses Zensurmäßige - als Prinzip jedenfalls - sehr lag, nur er selber konnte es gar nicht akzeptieren, er war viel zu sehr gewöhnt an die individuellen Freiheiten eines Künstlers. Er war entsetzt zum Beispiel, als er vernahm, schon als Präsident der Reichsmusikkammer, daß Mahler irgendwo verboten werden solle, weil er Jude war. Das fand er unmöglich."

    Es ist schockierend nachzulesen, wie sich die großen Komponisten, Solisten, Dirigenten andienten, kompromitierten, Funktionen im NS-Staat übernahmen, um sich Macht und Einfluß und Karriere in der Musikszene zu sichern, bedenkenlos vor SS-Divisionen und in besetzten Gebieten auftraten. Viele haben für die NS-Diktatur weitaus mehr getan, als notwendig war. Nur sehr wenige haben sich verweigert. In der ernsten Musik regte sich kein ernsthafter Widerstand, als die Nazis begannen, das Musikleben vom 'verderblichen jüdischen Einfluß’ zu säubern. Dennoch fiel es ihnen nicht ganz leicht. Doch das lag im ideologischen Unsinn selbst begründet, so Michael Kater: "Jüdische Musik an sich hat's ja gar nicht gegeben. Das haben die Nazis auch irgendwie zugegeben, zugeben müssen, daß das ja Humbug ist. Mendelssohn, Mahler und Meyerbeer, die haben doch genauso komponiert wie Carl Maria von Weber oder Marschner oder Larzing. Wo ist die jüdische Qualität? Das haben natürlich die Nazis auch gewußt. Deswegen haben sie Konstruktionen aufgebaut, daß die jüdische Musik eine gewisse Eigenart besitzt, die der nichtjüdischen oder 'arischen' Musik nicht anhaftet. Um eines der berühmtesten Beispiele zu nennen: das Süßliche an der Mendelssohnschen Musik. Bei Mahler haben sie gesagt: Ja, da hört man richtig das Gebrochene raus, das Zerborstene im inneren Ich des Herrn Mahler, der immer nur mit sich selbst ringt und nicht zu sich findet. Konstruktionen! Schönberg war dann nur noch atonal und destruktiv und so weiter, wobei man gleich anmerken muß, daß der Begriff atonal natürlich dann auch für alles benutzt wurde, was die Nazis an der Musik nicht mochten, auch den Jazz, den sie nie verstanden haben. Wenn sie irgend etwas nicht verstanden haben, haben sie’s einfach atonal genannt."

    So schwer es fiel, das besondere Jüdische in der Musik nachzuweisen, so einfach war es, die zu Ganz-, Halb- oder Vierteljuden erklärten Musiker aus dem Musikleben zu entfernen. Zwar gelang es bekannten Dirigenten, einzelne jüdische Mitglieder ihrer Orchester teilweise jahrelang zu schützen, aber spätestens mit der sogenannten Reichskristallnacht im November 1938 endete jegliche Duldung. Unterschlupf bot vielen nach ‘33 entlassenen jüdischen Musikern der von den Nazis tolerierte Jüdische Kulturbund, der Konzerte veranstalten durfte. Als der am 11. September 1941 von der Gestapo aufgelöst wurde, war es jedoch endgültig aus mit dem jüdischen Musikleben. Wer bis dahin nicht emigriert war, wurde abgeholt und in die Konzentrationslager deportiert.

    Nach Kriegsbeginn wurde die Judenverfolgung auch auf die besetzten Ländern ausgedehnt. Viele mußten Hals über Kopf vor den deutschen Truppen fliehen. Auf ihr zurückgelassenes Hab und Gut hatte es vor allem der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg abgesehen. Reichsleiter Rosenberg, 'Beauftragter für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDAP’, sah den Krieg als Chance, für seine geplante Hohe Schule, eine Art monumentaler Kultur- und Bildungsstätte des Nationalsozialismus, in den besetzten Ländern alles an Kunst- und Kulturgegenständen einzusammeln, was ihm dafür geeignet schien. Er gründete den Einsatzstab Rosenberg, der wiederum Sonderstäbe zu verschiedenen Kulturbereichen ins Leben rief, unter anderem auch einen Sonderstab Musik unter Leitung des Musikwissenschaftlers Herbert Gerigk.

    Auf dieses bislang wenig bekannte Sonderkommando stieß der holländische Musikwissenschaftler Willem de Vries zufällig bei seinen Recherchen über den französischen Komponisten Darius Milhaud, der als Jude bei Kriegsbeginn mit seiner Frau in die USA geflohen war. Als er zurückkam, hatten die Nazis seinen gesamten Hausrat mitsamt wertvoller Musikbibliothek, Noten, Partituren, Schallplatten abtransportiert. Der holländische Forscher, neugierig geworden, entdeckte, daß Milhaud kein Einzelfall war, der Sonderstab Musik vielmehr systematisch und gezielt alle Musikbesitztümer geflohener Juden in Frankreich, Holland und Belgien aufgespürt und nach Deutschland verschleppt hatte. 1942 wurden diese Plünderungen dann im Rahmen der 'Endlösung' auf sämtliche Juden in den besetzten Gebieten ausgedehnt. "Dann hat Hitler zu Rosenberg gesagt: Jetzt haben Sie alle Möglichkeiten, den ganz jüdischen Besitz in den besetzten Gebieten auszusondern, mitzunehmen, zu verteilen", so Willem de Vries. "Das war das berüchtigte M für Möbel Aktion. Wenn man sich vor Augen führt, daß es in Holland, Belgien und Frankreich 70 000 jüdische Haushalte gab, die alle nach Deutschland geschafft wurden inklusive Musikmaterial, Klavier, Flügel, Geigen, Musikbücher, Schallplatten, dann kann man sich vorstellen, was für eine Menge von Musik aus den besetzten Gebieten nach Deutschland gebracht worden ist."

    Die damals aufgelösten 70 000 Haushalte füllten allein 669 Güterzüge und beanspruchten einen Laderaum von über 1 Million Kubikmeter. Nur Weniges davon ist nach dem Krieg zurückgegeben worden. Vieles wurde bei den Bombenangriffen in den Sammellagern zerstört, manches nach Kriegsende zum Beispiel nach Rußland verschleppt, einiges stillschweigend privat unterschlagen. Wie Willem des Vries bei seinen Recherchen feststellte, vergriffen sich die NS-Musikwissenschaftler aber nicht nur an jüdischem Besitz. Man war der Ansicht, daß alles, was zur deutschen Musikgeschichte gerechnet werden konnte, auch in deutschen Besitz überzugehen habe. De Vries: "Aus Dokumenten ist ersichtlich, daß der Sonderstab Musik und seine Mitarbeiter in allen Bibliotheken in Brüssel und Amsterdam, in Paris deutsche Handschriften aufgesucht haben, und davon ist sehr viel verschwunden und nicht zurückgekommen, und es ist auch nicht deutlich, was es war. Zum Beispiel in der Bibliotheque du Conservatoire in Paris gab's keinen Katalog, also man konnte nach dem Krieg nicht sagen: Ja, das gab's vor dem Krieg, und das ist gestohlen, aber die Notizen von Gerigk, die sprechen von ungeheuren Mengen von Manuskripten von Wagner, Marschner, Lorzing, Meyerbeer, Beethoven, Bach. Das meiste wurde mitgenommen, nicht offiziell, denn Frankreich war ein kollaborierendes Land. Es gab die Vichy-Regierung, die arbeitete mit den Deutschen zusammen, und es war nicht so freundlich, den Nationalbesitz mitzunehmen."

    Bisweilen fanden die Mitarbeiter des Sonderstabes Musik willige Helfershelfer, Kollaborateure, die ihnen für ihre Raubzüge Tür und Tor öffneten. Selten gab es mal eine Beschwerde. Die übersahen die Besatzungsmächte dann beflissentlich. De Vries Dokumentation 'Sonderstab Musik - organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45' ist mit ihren zahlreichen Wiederholungen, ihren endlosen Namens- und Zahlenlisten bisweilen beschwerlich zu lesen, bietet jedoch erstmals einen Einblick in ein Kapitel deutscher Musikgeschichte, das bislang verschlossen blieb. Seine Arbeit ist insofern brisant, als sie zeigt, daß zahlreiche prominente deutsche Musikwissenschaftler in der einen oder anderen Form mitgemacht haben. Was bereits Michael Kater in seiner Studie über Musiker im Dritten Reich festgestellt hat, kann Willem de Vries nur bestätigen. "Natürlich waren sie alle mitschuldig und damit schützt man sich auch ein bißchen und hat das auch ein bißchen unter Kontrolle. Alle waren beteiligt, und es war niemand, der sagen konnte: die anderen haben das alles getan, ich nicht. Jeder war da mitbeteiligt."