Jasper Barenberg: Einen abermaligen Kurswechsel hin zu neuen Verhandlungen mit der Union sehen viele in der SPD weiter kritisch. Dazu gehört auch die sogenannte Parlamentarischen Linke im Bundestag. Ihr Sprecher ist Matthias Miersch und er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen.
Matthias Miersch: Guten Morgen, Herr Barenberg.
"Neuwahlen oder Große Koalition - es muss noch was dazwischen geben"
Barenberg: Sollte, wenn Sie das kritisch sehen, die SPD bei ihrem klaren Nein zu einer weiteren Großen Koalition bleiben?
Miersch: Nein. Gespräche, Herr Barenberg, sieht niemand kritisch, auch die Parlamentarische Linke nicht. Im Übrigen geht dieser Aspekt leider immer verloren. Wir haben letzten Montag einstimmig im Vorstand gesagt, wir scheuen Neuwahlen nicht. Wir sehen keine Basis für eine Große Koalition. Aber angesichts der Situation sind die Staatsorgane und die Parteien aufgerufen, miteinander zu sprechen, und das genau muss passieren. Aber die öffentliche Debatte, wie wir sie im Moment in weiten Teilen ja auch der Medien erleben, heißt nur Neuwahlen oder Große Koalition, und da sagen wir, nein, es muss noch was dazwischen geben, denn die Argumente gegen eine Große Koalition sind nach wie vor hoch aktuell.
"Zwischen Koalitionen gibt es auch Kooperationen"
Barenberg: Sie sehen da keinen Widerspruch zwischen dem Vorstandsbeschluss auf der einen Seite, ein klares Nein zur Großen Koalition, und der Gesprächsbereitschaft, die Sie jetzt auch signalisieren?
Miersch: Nein. Wer den Vorstandsbeschluss liest, sieht dort diese Passage eindeutig, und wir haben auch am Montag schon darüber geredet. Ich habe auch selbst deutlich gemacht, dass der Artikel 63 Grundgesetz eigentlich wirklich sehr, sehr weitgehend gedacht ist von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes, dass es nämlich jetzt zum Beispiel einen sogenannten vierten Weg, will ich den mal nennen, gibt, den es in Deutschland so noch nicht gegeben hat. Jamaika ist krachend gescheitert, die Große Koalition wollen wir nicht, jedenfalls weite Teile, und Neuwahlen ist auch nicht die Lösung, weil einfach wieder den Ball zu den Wählern zurückspielen ist nicht die Lösung. Deswegen zum Beispiel die Frage einer Minderheitsregierung. Aber es gibt zwischen Koalitionen auch Kooperationen, wo man nicht dieses enge Gerüst, dieses starre Gerüst hat, was letztlich ja zur Politikverdrossenheit beigetragen hat und auch zur Erstarkung von Rändern.
"Augenmerk richten auf die Belebung von Demokratie"
Barenberg: Ich verstehe Sie richtig, Große Koalition, klare Absage heute Morgen hier von Ihnen, und Sie bringen eine Minderheitsregierung ins Spiel, von der ja viele sagen, das ist in der Lage, in der sich Europa im Moment befindet, in der sich die Welt befindet, keine stabile Lösung für dieses Land. Das sehen Sie anders?
Miersch: Ich will noch mal korrigieren. Der vierte Weg ist für mich nicht nur eine Minderheitsregierung, aber auch das ist eine Alternative. Dann gibt es durchaus Formen, wo man sagen kann, Parteien können miteinander zusammenarbeiten. Sie können Verabredungen treffen. Sie können sogar im Kabinett gemeinsam vertreten sein. Aber sie sind nicht so starr immer zum Beispiel an eine Einstimmigkeit in allen Themen gebunden, wie wir das bei Koalitionen kennen. Wir hatten in den letzten zwölf Jahren acht Jahre diese Große Koalition. Alle Gemeinsamkeiten waren ausgepresst. Darüber, wo Sie eben geredet haben, Stichwort Solidarrente, Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, das hatten wir bereits vereinbart und dann hat die Kanzlerin das nicht realisiert. Deswegen: Die ganzen Argumente sind weiter da und wir, glaube ich, haben ein großes Augenmerk jetzt zu richten auf die Belebung auch von Demokratie. Da gibt es zwischen Neuwahlen und Große Koalition Lösungen und über die muss jetzt geredet werden.
"Nicht nur abstrakt über irgendwelche Konstrukte reden"
Barenberg: Wäre denn auch ein gangbarer Weg aus Ihrer Sicht, bei dem Treffen beispielsweise am Donnerstag beim Bundespräsidenten klare Forderungen, wie sie jetzt schon laut werden aus der SPD, mit in dieses Gespräch zu nehmen und erst mal auszutesten, wie weit die Union bereit wäre, da mitzuziehen?
Miersch: Natürlich ist es wichtig, nicht nur abstrakt über irgendwelche Konstrukte zu reden, sondern dazu gehören natürlich Inhalte. Einmal die Inhalte, die wir vereinbart hatten - ich sage das noch mal - in dem Koalitionsvertrag 2013, wo die Kanzlerin letztlich nicht die Forderungen umgesetzt hat. Noch mal: Solidarrente oder das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit. Das ist der erste Punkt, wo man sagen muss, welche vertrauensbildenden Maßnahmen wollt ihr eigentlich jetzt machen, dass wir plötzlich daran glauben, dass ihr das tatsächlich umsetzt.
Zum anderen gehört es natürlich dazu: Soll diese, in irgendeiner Form geartete Arbeit zu irgendwie inhaltlichen Fortschritten in dieser Republik führen – Stichwort Bildung, Pflege, all das, was wir dort haben. Natürlich muss das auch im Zentrum eines solchen Gespräches sein. Aber noch mal: Dann gilt es auch darüber zu gucken, wie können wir vermeiden, dass wieder die Verdrossenheit nach vier Jahren noch größer ist und ein monolithischer Block wahrgenommen wird, wo letztlich dann nur wieder die politischen Extremen profitieren.
"Keinerlei Konstrukt, wo die AfD eine große Rolle spielt"
Barenberg: Das heißt, ich verstehe Sie richtig, Sie setzen darauf oder Sie machen den Fortgang der weiteren Gespräche in der SPD, aber auch mit der Union davon abhängig, welche konkreten politischen Angebote CDU und CSU Ihnen bei diesen Gesprächen machen?
Miersch: Selbstverständlich! Wir können ja nicht einfach nur des Machterhalts wegen eine Tolerierung beziehungsweise eine Zusammenarbeit etc. anbieten, sondern es geht natürlich um Inhalte. Ich sage aber auch: Nicht nur CDU/CSU und SPD sind gefragt. Selbstverständlich sind alle Parteien gefragt. Ich kann mir keinerlei Konstrukte vorstellen, wo die AfD eine große Rolle spielt. Aber alle Parteien können sich nicht in die Büsche schlagen, sondern müssen jetzt mit diesem verfassungsgemäßen Auftrag, den sie nach der Wahl haben, auch umgehen, und zwar konstruktiv.
Europapolitik, Außenpolitik, Haushalt
Barenberg: Ich habe noch nicht ganz verstanden, muss ich gestehen, Herr Miersch, welches konkrete Modell Ihnen vorschwebt, wenn Sie von Tolerierung sprechen, wenn Sie von einer Duldung sprechen. Das hat ja auch die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, ins Spiel gebracht. Aber so ganz klar, wie das aussehen könnte, ist noch nicht geworden.
Miersch: Na ja. Ich werde hier nach acht Tagen Scheitern, wo die wirklich acht Wochen für Jamaika geworben und gelebt haben, jetzt nicht sofort das fertige Konzept von A bis Z präsentieren. Das wäre im Zweifel auch ein Fehler, weil man dann sich wieder daran abarbeitet, weil man nur eine Lösung letztlich präsentiert. Aber ich halte es schlichtweg für möglich, jenseits einer Minderheitsregierung, die nur auf eine Tolerierung aus ist, zum Beispiel bestimmte Komplexe vorher zu vereinbaren, dass man dort gemeinsam agiert. Das wäre der Bereich der Europapolitik, das wäre der Bereich der Außenpolitik, auch im Bereich beispielsweise des Haushalts. Das heißt, dieses Argument, was eben auch Volker Kauder wieder gegen eine Minderheitsregierung aufgebracht hat, dass eine Unsicherheit entsteht, dass bei jedem Gesetz eine Mehrheit gesucht werden müsste, dem kann man ganz, ganz einfach begegnen, und über diese Modelle muss man wenigstens mal in dieser Republik nachdenken. Ich finde diese Fantasielosigkeit, die wir hier augenblicklich haben, dass nur Schwarz oder Weiß, nur Große Koalition oder Neuwahlen geht, einfach dieser Situation nicht angemessen.
"Debatten, wo der Fraktionszwang aufgegeben wurde"
Barenberg: Fantasielosigkeit sagen Sie. Die anderen sagen, wir brauchen eine stabile Vereinbarung in einer Zeit, in der so vieles andere ungewiss ist.
Miersch: Ich sage überhaupt nicht, dass eine Vereinbarung nicht möglich ist. Aber es ist die Frage, wie man zusammenarbeitet. Sehen Sie: Wir haben in der letzten Legislaturperiode erlebt, wie zwei große Parteien immer gemeinsam, weil in jedem Koalitionsvertrag dieser letzte Satz steht, sie vereinbaren, alles gemeinsam zu machen. Das heißt, wir mussten Anträge ablehnen, die von der Opposition gestellt werden, obwohl sie in unserem Wahlprogramm standen, obwohl man um einen besten Weg hätte ringen können. Wir haben die großen Debatten gehabt über Sterbehilfe, aber auch Ehe für alle, wo der Fraktionszwang aufgegeben wurde. Da haben die Medien gesagt, das sind die Sternstunden des Parlaments. Warum können wir nicht jetzt darüber nachdenken, Formen zu finden auch der Zusammenarbeit, wo wir genau dieses öffnen, wo wir genau Demokratie auch an einigen Stellen neu leben können. Das, glaube ich, ist die eigentliche Chance, die auch in dieser schwierigen Situation liegt.
"Dort, wo sich Bund und Länder weiter blockieren"
Barenberg: Sagen Sie vielleicht noch mal zur Erinnerung: Welche inhaltlichen Punkte müssten in einer solchen Vereinbarung, wie immer die dann aussehen würde, festgezurrt werden aus Ihrer Sicht?
Miersch: Wir sehen, dass wir ja die großen Felder unbefriedigend augenblicklich gelöst haben. Beispielsweise das Thema Pflege, wo ich glaube, dass es natürlich ganz massive Fortschritte geben muss. Das große Thema Bildung. Wir haben das Thema Kooperationsverbot dort, wo sich Bund und Länder weiter blockieren beziehungsweise nicht miteinander agieren können, weil in der Verfassung steht, der Bund ist für die allgemeine Bildung nicht zuständig. Wir haben das große Thema prekäre Beschäftigung. Wie ist das mit dem Thema Leiharbeit und Zeitarbeit? Wir sehen, dass die Schere dort immer weiter auseinandergeht. Wie ist das in steuerpolitischen Fragen, wenn es darum geht, große Beträge zu generieren, weil wir in die Infrastruktur dieses Landes investieren müssen? Das sind alles Bereiche, beispielsweise das Thema sozialer Wohnungsbau, wo ich glaube, dass der Staat massiv mit Milliarden dort hineingehen muss, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Da hat sich die CDU in den letzten vier Jahren nicht bewegt, jedenfalls nicht so, wie wir es wollten. Natürlich müssen diese großen Themen dann auch Gegenstand von Gesprächen der Parteien insgesamt sein.
"Ein bisschen mehr Demut wäre aus meiner Sicht angezeigt"
Barenberg: Wenn das erfolgreich sein sollte – wir müssen ja im Konjunktiv reden, Herr Miersch - dann wäre die SPD bereit, die von Angela Merkel gewünschte vierte Amtszeit zu liefern?
Miersch: Wer dann da oben steht und welche Parteien es machen, das, glaube ich, stellt sich im Moment als zweiter Schritt. Aber natürlich will ich das überhaupt nicht ausschließen, dass auch eine Angela Merkel weiter Kanzlerin bleibt. Allerdings: Wenn sie so weiter auftritt, wie sie es jetzt getan hat, wo sie plötzlich am Montag noch von Neuwahlen gesprochen hat und jetzt plötzlich wieder klare Bedingungen formuliert – ein bisschen mehr Demut wäre aus meiner Sicht angezeigt. Sie hat doch die ganzen Wochen auf Jamaika gesetzt und ist mit ihrer Verhandlungsführung krachend gescheitert. Insofern: Alle sollten jetzt mal ein bisschen Luft holen und mal gucken, was möglich ist. Dann kommt, glaube ich, für das Land wirklich was Gutes raus.
Barenberg: … sagt Matthias Miersch von der Parlamentarischen Linken der SPD im Bundestag. Danke für das Gespräch, Herr Miersch.
Miersch: Ich danke Ihnen.
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