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Sondierungsgespräche
"Wir sind noch nicht bei Koalitionsverhandlungen"

Bei den laufenden Sondierungsgesprächen gehe es nicht darum, konkrete Ergebnisse zu präsentieren, sagte der Politikwissenschaftler Uwe Jun im Dlf. Ziel sei es vielmehr, Vertrauen unter den möglichen Koalitionspartnern aufzubauen, gleichzeitig aber auch "die Grenzen der anderen auszutesten".

Uwe Jun im Gespräch mit Philipp May |
    Porträtfoto des Politikwissenschaftlers Uwe Jun
    Der Politikwissenschaftler Uwe Jun hält Neuwahlen in Deutschland für unwahrscheinlich. (dpa /Birgit Reichert)
    Philipp May: Von der Hoffnung, da könne sich ein richtungsweisendes Zukunftsprojekt formieren, reden derzeit nur noch wenige in Berlin. CDU, CSU, FDP und Grüne sondieren seit zwei Wochen, ob eine gemeinsame Koalition möglich ist, und in allen wichtigen Feldern sind vor allem die Unterschiede zwischen den Parteien bisher deutlich geworden. Wird das noch was mit Jamaika? In einer Stunde wollen die Verhandlungsführer die erste offizielle Zwischenbilanz ziehen.
    Mitgehört hat Uwe Jun, Politikwissenschaftler an der Universität Trier. Schönen guten Tag!
    Uwe Jun: Guten Tag, Herr May!
    May: Herr Jun, haben Sie noch Lust auf Jamaika?
    Jun: Die Frage stellt sich nicht, ob ich Lust darauf habe, sondern ob die beteiligten Parteien und die Akteure noch Lust darauf haben. Und mein Eindruck ist: Ja, noch ist das Ganze nicht zerschnitten, das Tischtuch. Noch können beide in Koalitionsverhandlungen oder alle Partner in Koalitionsverhandlungen eintreten.
    "Man hat den Eindruck, als müssten die Grünen sich am meisten bewegen"
    May: Aber sie müssen sich bewegen, die Partner. Wer muss sich wo bewegen beziehungsweise wer vor allen Dingen?
    Jun: Man hat den Eindruck, als müssten die Grünen sich am meisten bewegen. Aber das war von vornherein klar, denn wir haben hier eine Konstellation, dass die Grünen am weitesten entfernt sind in vielen Politikfeldern von den anderen Parteien und dass da die Dissonanzen und die Kontroversen am stärksten ausgeprägt sind.
    May: Sind die starken Wortmeldungen und die ständigen roten Linien, die auf allen Seiten gezogen werden, tatsächlich ein ernsthaftes Zeichen dafür, dass eine Koalitionsbildung schwer wird, oder ist das doch eher nur ein großes Schauspiel für die Basis?
    Jun: Sowohl als auch. Wir müssen uns ja über eins im Klaren werden: Wo stehen wir gerade? Wir sind bei Sondierungsgesprächen. Das muss man immer wieder klar sagen. Wir sind noch nicht bei Koalitionsverhandlungen. Und bei Sondierungsgesprächen geht es auch wesentlich darum, die Grenzen der anderen auszutesten, die eigenen Positionen zu markieren und zu gucken, wo könnten möglicherweise Kompromisslinien liegen. Es ist also noch nicht die Zeit des Kompromisses und des Konsenses. Das ist dann die Zeit der Koalitionsverhandlungen. Insofern bin ich auch nach wie vor optimistisch, trotz aller hervortretenden Differenzen.
    "Wo liegen die Grenzen der anderen, wie belastbar sind mögliche Positionen?"
    May: Aber man hat ja den Eindruck, wenn man so den Sondierern zuhört in ihren Verlautbarungen, es gibt gar keine Kompromisslinien.
    Jun: Das stimmt nicht. Man hat in vielen Bereichen Kompromisslinien gefunden, in einzelnen Bereichen noch nicht. Aber wie gesagt: Das ist auch nicht die Aufgabe von Sondierungsgesprächen.
    Man will jetzt erst mal sehen: Wo liegen die Grenzen der anderen, wie belastbar sind mögliche Positionen? All das muss jetzt austariert werden und dann müssen die Grünen, die Parteitagsdelegierten auf der Bundesdelegiertenkonferenz entscheiden, ob ihnen das ausreicht für Koalitionsverhandlungen.
    May: Insbesondere der FDP-Chef Christian Lindner – wir haben es auch gerade im Beitrag gehört -, der kokettiert ja immer damit, dass man nicht auf Gedeih und Verderb diese Koalition braucht und dass man auch in die Opposition gehen könne. Das würde dann ja auf Neuwahlen hinauslaufen. Würde irgendjemand der Sondierer davon profitieren?
    Jun: Das ist im Moment nicht zu erkennen. In der Tat ist das wahrscheinlich auch ein wesentlicher Grund, warum diese Koalition von den Akteuren nach wie vor angestrebt wird.
    Neuwahlen sind nicht unbedingt das, was nun von der CDU, den Grünen oder der FDP und schon gar nicht der CSU gewünscht wird, und von daher ist es so, dass hier auch das Interesse der Akteure nach wie vor recht stark ist, diese Konstellation zusammenzubringen.
    May: Das heißt, letztendlich sind die Parteien zum Erfolg verdammt?
    Jun: Soweit gehe ich eben nicht. Es gibt bestimmte Punkte, wo ich sagen würde, wenn die Existenzfrage sich stellt – und das ist bei der FDP ja immer noch im Hintergrund aufgrund der Ereignisse von 2013; das ist auch bei der CSU der Fall, insofern zwar nicht die reine Existenz, aber die Mehrheitsfähigkeit in Bayern, die der CSU sehr wichtig ist, und am Ende natürlich immer eine Existenzfrage ist diese Konstellation für die Grünen, weil sie am Ende hier nicht als der große Verlierer aus dieser Koalition herausgehen wollen, um dann vielleicht in 2021 ein desaströses Wahlergebnis einzufahren.
    May: Das gleiche Schicksal wie die FDP dann am Ende.
    Jun: So etwas könnte ihnen passieren und daher ist es klar, dass die Grünen hier ihre Grenzen auch klar markiert haben in diesen Gesprächen, auch ihre Forderungen noch mal klar aufgestellt haben, um genau dieses zu verhindern.
    May: Wenn das Ganze denn jetzt klappt, was kann Jamaika unter diesen Voraussetzungen überhaupt bewirken?
    Jun: Das ist jetzt die Frage, was wir uns von einer Regierung versprechen. Es werden durchaus viele Bereiche möglich, wo man auch etwas verändern kann und eine Trendwende, wie es Christian Lindner ja immer nennt, erreichen könnte.
    Das wird sicherlich immer mit Kompromissen dann am Ende einhergehen. Aber denken Sie an den Kohleausstieg, denken Sie an Klimawandel, denken Sie an Finanzpolitik, denken Sie an Bildungspolitik, denken Sie an Digitalisierung – all da ist überall was möglich. Da sind Veränderungen denkbar.
    Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass auch in der Großen Koalition manches ausgeklammert werden musste, manche Kompromisse auch mehr auf den Status quo hinausliefen.
    May: Und die Große Koalition, die wurde ja ganz klar abgewählt. Da gibt es ja, glaube ich, keine zwei Meinungen. – Besteht nicht die Gefahr, dass genau das wieder passiert, weil das eine Koalition auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ohne den großen Wurf dann am Ende wird?
    Jun: Da müssten die Koalitionsparteien noch schauen, ob sie da nicht doch noch etwas mehr herausholen können. In dieser Woche kam etwa auch in Ihrem Bericht zum Ausdruck Digitalisierung. Man könnte Bildung nehmen. Es gäbe verschiedene Bereiche, wo man durchaus mehr nach vorne blicken kann, um eine Art gemeinsames Projekt, gemeinsame Linie zu erkennen. Das müsste sicherlich noch gegeben werden, das fehlt im Moment noch.
    May: Die Sorge, dass es möglicherweise eine bessere geschäftsführende Regierung am Ende wird, die sich vier Jahre irgendwie durchwurstelt, die teilen Sie nicht, noch nicht?
    Jun: Da müssen wir abwarten, was dann tatsächlich konkret in den Koalitionsgesprächen rauskommt. Natürlich besteht die Gefahr, dass es so ist, wie Sie es gerade andeuten. Aber die Koalitionäre haben es noch selbst in der Hand, auch mehr daraus zu machen. Nur dazu müssten Sie – und dann sind wir noch bei einem wichtigen Punkt, den ich hier noch unbedingt erwähnen will – Vertrauen aufbauen. Man zerstört Vertrauen eher, wenn man zu früh medial kommuniziert. Wir haben ja derzeit auch gesehen, dass frühe mediale Kommunikation nicht unbedingt dazu beiträgt, Vertrauen aufzubauen. Insofern verhält sich die Kanzlerin strategisch geschickt, weil sie weiß, dass man Vertrauen nur aufbaut hinter verschlossenen Türen und dass man gemeinsame Positionen nicht dadurch wieder kaputt machen sollte, indem man dann in den Medien etwas anderes verkündet als in den Gesprächen vorher.
    "Auch diese notwendige Ehe braucht ein Mindestmaß an Vertrauen"
    May: Dieser Balkon, das ist schon mal ein großer Fehler, kann man sagen?
    Jun: Vertrauen ist ganz wichtig, und Herr Kubicki, der stellvertretende Parteivorsitzende der FDP, hat das ja vor Kurzem auch gesagt. Für die Koalitionäre ist Vertrauen wichtig. Und wenn Herr Kretschmann dann von einer notwendigen Ehe spricht - auch diese notwendige Ehe braucht ein Mindestmaß an Vertrauen. Da ist es wenig hilfreich, dann in den Medien die Differenzen aus den Gesprächen wiederum nach außen zu kehren.
    May: Das ist ein guter Punkt, den Sie ansprechen. Gerade die Kanzlerin, die hat sich heute ja im Prinzip überhaupt zum ersten Mal geäußert während der ganzen Sondierungsverhandlungen. Man hatte schon fast den Eindruck, die macht da gar nicht mit bei den Sondierungsverhandlungen. Die spielt da jetzt gerade die ganz entscheidende Rolle im Hintergrund und die könnte auch der integrierende Faktor am Ende werden?
    Jun: Exakt so ist es. So, wie Sie es sagen. Deswegen ist es auch taktisch klug, oder auch selbst strategisch nicht ungeschickt, das so zu machen, sich zurückzuhalten, zu moderieren und am Ende hier die Entscheidungen dann erst zu kommunizieren, wenn sie tatsächlich gefallen sind, also nicht zum jetzigen Zeitpunkt Differenzen in den Medien zu kommunizieren.
    May: Auf der anderen Seite solche Hardliner wie Andreas Scheuer für die CSU oder Jürgen Trittin bei den Grünen, die braucht man dann auch, aber eher als Zeichen nach innen für die Basis? Jeder spielt da seine Rolle?
    Jun: Richtig. Das ist natürlich wichtig. Sie haben das schon gesagt. Am Ende müssen ja die beiden Parteien insgesamt mitmachen, und Trittin verkörpert einen Flügel, oder er repräsentiert einen Flügel in der Partei der Grünen, und Herr Scheuer ist auch jemand, der bestimmte Positionen, die von den anderen jetzt in der Migrationspolitik etwas weiter entfernt sind, und da muss am Ende die CSU genauso wie die Grünen mitmachen, und zwar möglichst komplett, und daher erfüllen diese auch ihre Rolle in den Sondierungsgesprächen. Allerdings müssen auch beide natürlich dann in den Koalitionsverhandlungen die Kompromissbereitschaft zeigen und die Grünen müssen ebenso wie die CSU erkennen, dass sie nur einen Teil dieser Koalition ausmachen.
    May: Die Jamaika-Sondierer wollen heute eine Zwischenbilanz ihrer Gespräche ziehen. Einschätzungen dazu haben Sie gehört von Uwe Jun, Politologe an der Universität Trier. – Herr Jun, Sie sind nicht in Jamaika gerade, sondern Sie sind tatsächlich in Berlin?
    Jun: In der Tat finden Sie mich hier in der Hauptstadt.
    May: Weil die Telefonleitung so schlecht ist. – Es ist schon Festnetz?
    Jun: Ja, es ist so. Aber offenkundig ist das hier von Köln nach Berlin nicht ganz leicht.
    May: Wir halten fest: Digitalisierung bleibt ein ganz großes Thema für diese Legislaturperiode. Vielen Dank, Herr Jun.
    Jun: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.