Musik: "Walk in circles"
"Some people refuse to be enlightened" - "einige Leute wollen einfach nicht aufgeklärt werden", singt Grant-Lee Phillips im dem Song "Walk in circles" auf dem 2018er-Album "Widdershins". Die Songs sind kurz nach der letzten Präsidentschafts-Wahl in den USA entstanden und Phillips fragt sich darin, in welche Richtung sich das Land und die Menschen wohl entwickeln werden. Mehr Verantwortung? Oder werden sie auf alte Ideen und Verhaltensweisen zurückfallen? Jetzt – im Herbst 2020 – kurz vor der nächsten Präsidentschafts-Wahl ist das Land und der politische Diskurs extrem gespalten. Und so wirkt Phillips‘ neues Album "Lightning, show us your stuff" ein bisschen wie ein Aufruf zur Versöhnung. Der Musiker betont Gemeinsamkeiten und wendet sich Themen zu, die alle Menschen betreffen.
"Nun, Politik und Privatleben sind ja nicht komplett getrennte Bereiche. Die Entscheidungen der Regierung haben auch Auswirkungen auf uns. Aber es geht auf dem Album mehr um meine eigenen Gefühle und eher zeitlose Fragen. Regierungen kommen und gehen, aber sie können in kurzer Zeit viel Schaden anrichten."
Musik: "Gather up"
Grant-Lee Phillips wird 1963 in der nordkalifornischen Stadt Stockton als Bryan G. Phillips geboren. Seine Mutter und Großmutter singen leidentschaftlich gerne, sein Urgroßvater Grant spielte Geige. Mit 13 beginnt Phillips Gitarre zu spielen und verbringt jede freie Minute mit dem Instrument. Schon damals schreibt er Songs, liebt Elton John, die Beatles und Queen.
"Es gab so viel gute Musik damals: Ich konnte jeden Elton John-Song auswendig, habe David Bowie entdeckt und mir alle Queen-Alben gekauft. Und ich habe alles mit einem englischen Akzent gesungen. Meine Eltern haben viel Country gehört, Künstler wie Johnny Cash und Willie Nelson. Die habe ich später, vor allem aus Sicht eines Songwriters, sehr zu schätzen gelernt."
Album des Jahres
Bevor Phillips sich für eine Karriere als Musiker entscheidet, probiert er sich in anderen Künsten aus. Er malt, tritt als Zauberer und im Theater auf, mit 19 zieht er nach Los Angeles, um Film zu studieren. Zusammen mit dem Sänger Jeff Clark gründet er dort die Band Shiva Burlesque, macht Musik zwischen Postpunk und Folkrock. Doch nach zwei Alben ist direkt wieder Schluss und Phillips startet ein neues Projekt: Grant Lee Buffalo, in dem er die Country-Einflüsse seiner Kindheit mit der Punk-Attitüde der frühen 80er verbinden will. Die Band startet vielversprechend: das erste Album "Fuzzy" wird von R.E.M.-Sänger Michael Stipe als das beste Album des Jahres 1993 gelobt.
Musik: Grant Lee Buffalo – "Fuzzy"
Anders als R.E.M. ist Grant Lee Buffalo der große kommerzielle Erfolg aber nicht vergönnt. Gegen die wütenden Grunge-Gitarren der frühen 1990er waren Buffalo mit ihren oft semi-akustischen Songs einfach nicht laut genug. Ihre Stücke eigneten sich auch nicht für die damals beliebten Telefontestverfahren, in denen 20 Sekunden pro Song ausreichen sollten, um über dessen Hitpotenzial zu entscheiden. Nach drei weiteren Alben löst Phillips die Band auf. Schon wenige Monate später erscheint sein erstes Soloalbum "Ladies' love oracle".
"Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mal wieder Lust, etwas anderes zu machen, als mit der Band. Das war so Ende 99, Anfang 2000. Mein Freund John Bryan hatte ein Kellerstudio. Er hat mir den Schlüssel und und ein paar Guinness in die Hand gedrückt und gesagt: mach doch ein Album. Das habe ich dann selbst herausgebracht."
Musik: "Folding"
Der Songwriter als Spion
Der 57-Jährige ist einer der Songwriter, denen es nie an Ideen zu mangeln scheint. Im Schnitt alle zwei Jahre veröffentlicht er eine neue Platte, zehn sind es bislang.
"Die ungefähre Gestalt eines Songs findet sich sehr schnell, denn diese Form gibt es ja schon lange. Es fällt mir meistens leicht, einen Song zu schreiben. Man muss auch kein großer Gitarrenvirtuose sein, viele gute Songwriter benutzen nur eine Handvoll Akkorde. Aber sie haben viel zu sagen, sie sind Beobachter. Das ist sehr wichtig: als Songwriter ist man wie ein Spion, ein Geheimagent. Wenn das Leben um einen herum passiert, macht man sich Notizen."
Mitunter verlässt sich Phillips aber auch mal auf die Inspiration anderer, zum Beispiel auf seinem Coveralbum "Nineteeneighties", auf dem er, wie der Name schon verrät, Songs aus den 80ern neu interpretiert.
Musik: "Under the milky way"
Grant-Lee Phillips mit einer Coverversion des Songs "Under the milky way", dem größten und auch einzigen Hit der australischen Band The Church. Der Song hätte gut zu Phillips’ Rolle als Town Troubadour in der Erfolgsserie "Gilmore Girls" gepasst. In 19 Folgen spielte er den Straßensänger an der Ecke in der fiktiven Kleinstadt Stars Hollow und performte neben Coverversionen auch eigene Stücke, wie dieses hier: Mona Lisa vom 2004er-Album "Virginia Creeper".
Musik: "Mona Lisa"
Musik: "Tennessee rain"
Der Song "Tennessee Rain" von Grant-Lee Phillips’ achtem Studioalbum "The Narrows" aus dem Jahr 2016. In der Vergangenheit klangen in seinen Americana-Songs schon mal T.Rex-Referenzen oder Bruce Springsteen an und vor allem das letzte Album "Widdershins" wartete mit einigen für seine Verhältnisse lautstarken Rocknummern auf. Auf dem neuen, im September erschienenen, Album "Lightning, show us your stuff" dominieren Akustik-Gitarre und ein locker gebürstetes Schlagzeug, das Tempo ist gemächlich. Der etwas merkwürdig anmutende Titel ist von Phillips’ Tochter inspiriert.
"Vor ein paar Jahren sind wir von Kalifornien nach Nashville gezogen und waren gerade dabei, im Garten unsere Sachen zu packen. Meine Tochter war damals fünf und plötzlich hebt sie einen Stock hoch und ruft: "Come on lightning, show us your stuff!" Kurz darauf donnerte und blitzte es. Wenn ich eine Platte mache, ist das so ähnlich. Ich hoffe, dass mich die Inspiration trifft wie ein Blitz."
Ich bin noch nicht fertig!
Und diese Hoffnung hat sich ein weiteres mal erfüllt. Er widmet sich Themen wie dem Älterwerden und der Zerbrechlichkeit des Lebens, gleich im ersten Song proklamiert der Sänger: "Ain't done yet" - Ich bin noch nicht fertig.
"Es gibt eine Textzeile in dem Song, in der ich sage, dass man die Leiter schon halb raufgestiegen ist. Und wenn man die Leiter halb rauf ist, zählt man die Sprossen unter einem nicht mehr, denn es ist vermutlich ein längerer Weg nach unten als bis zur Spitze der Leiter. Aber wir wissen es nicht, niemand weiß das."
Musik: "Ain’t done yet"
Auch der Song "Mourning Dove" befasst sich mit dem Thema Altern und Sterblichkeit, beides Dinge, die man nicht vermeiden kann. Aber in diesem Song ist es eher Akzeptanz und Würde, genau so wie in dem Stück "Coming to". Diese Themen tauchen auf dem Album immer wieder auf. Denn damit beschäftigt man sich, wenn man ein Künstler in meinem Alter ist.
Musik: "Mourning Dove"
Hat Phillips zu Beginn seiner Solokarriere noch alle Instrumente auf seinen Alben selbst gespielt, nimmt er jetzt gerne die Dienste von Kollegen in Anspruch, wie die von Drummer Jay Bellerose und Bassistin Jennifer Condos. Ob stoischer Countryblues oder entspannter Folkrock - Phillips und seine Mitmusiker schütteln die kernigen Riffs und ohrschmeichelnden Melodien nur so aus dem Ärmel. Aufgenommen haben sie das Album innerhalb weniger Tage in einem Studio in Los Angeles.
"Ich habe meistens ein paar grobe Songentwürfe dabei und zeige sie der Band, damit sie ungefähr wissen, wie es klingen soll. Aber es ist wichtig, auch Raum für Improvisation zu lassen, es soll sich ja nicht anhören wie vom Blatt runtergespielt. Ich mag die Lebendigkeit und Spannung, wenn Musiker etwas zum ersten Mal spielen."
Musik: "Lowest low"
Großes Unbehagen
Im Mittelpunkt der Songs auf "Lightning, show us your stuff" steht - wie immer - Grant-Lee Phillips' ausdrucksvolle Crooner-Stimme, die von Gitarre, herzzerreißend wehmütiger Pedal-Steel und satten Blechbläsern begleitet wird. Die funkelnden Stücke besitzen trotz ihres insgesamt zurückhaltenden Tonfalls eine besondere Dringlichkeit – oder auch: gerade deswegen! Denn unter der gemütlichen Oberfläche schwingt auch ein großes Unbehagen mit.
"Manchmal, spät in der Nacht, trifft mich die Angst, die Ungewissheit, wo wir morgen sein werden, als Land, als Familie. Das ist keine politische Platte, aber natürlich spiegelt sie auch das Trauma wieder, das wir unter diesem Präsidenten erfahren haben. Und die Aussicht, dass das noch weitergeht...macht mir große Sorgen. Darum geht es im letzten Song "Walking in my sleep", so ein Traumzustand, aber kein schöner, eher eine Albtraumzustand."
Ob im Gespräch oder in seinen Songs: Phillips' Stärke ist es, Vertrautheit herzustellen und mit wenigen Worten eine Stimmung einzufangen. Er vermeidet Klischees, braucht aber auch keine rätselhaften Metaphern, um atmosphärische Bilder zu malen. Und das gelingt ihm ein ums andere mal wieder, was sicher auch daran liegt, dass er immer mit Herz und Seele dabei ist.
Musik: "Walkin in my sleep"