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Sonnenfeuer in der Provence

Energie, sicher und unerschöpflich. Das ist die Vision der Fusionsforscher. In riesigen, reifenförmigen Reaktoren wollen sie das nachvollziehen, was im Inneren der Sonne passiert: Dort verschmilzt Wasserstoff zu Helium, wobei eine Menge Energie frei wird: Ein Kilogramm Wasserstoff verschmolzen zu Helium liefert genauso viel Energie, als würde man 10.000 Tonnen Steinkohle verheizen. Das Konzept klingt einfach, doch die Technik ist komplex. Um zu beweisen, dass die Kernfusion als Energiequelle taugt, wollen die Industrienationen gemeinsam einen Versuchsreaktor namens ITER bauen: Eine haushohe Reaktionskammer soll Wasserstoff auf 100 Millionen Grad erhitzten, starke Magnetfelder müssen das heiße Wasserstoffgas im Zaum halten. Dabei soll es sich zu einem lodernden, Energie spendenden Fusionsfeuer entzünden. Jahrelang gab es ein Gerangel um den Standort des Giganten. Nun einigten sich die Partner: Das milliardenteure Experiment wird im südfranzösischen Cadarache gebaut.

Von Frank Grotelüschen |
    Jean Marc Ané stapft durch den Wald. Mitten durchs Unterholz, vorbei an Pinien, Lorbeerbäumen, Eichen. Es ist heiß, es duftet nach Rosmarin und Thymian - nach den Kräutern der Provence.

    Plötzlich raschelt es hinter uns. Wir haben ein Wildschwein aufgeschreckt.

    " Wir müssen vorsichtig sein. Wenn's eine Bache mit Frischlingen ist, könnten wir Probleme kriegen. Also: lieber ruhig verhalten."

    Dann bleibt Jean Marc Ané stehen. Mitten im südfranzösischen Wald ragt ein Fahnenmast in die Höhe. Im Wind flattert die Europaflagge.

    " So, wir sind da. Hier wird einmal ITER stehen. Da vorne, beim Fahnenmast, wird der Mittelpunkt des Reaktors sein. Und wir stehen jetzt dort, wo später einmal das Plasma gezündet wird. Im Moment ist das hier noch ein schöner Wald in der Provence, und es ist ein heißer Tag heute. Aber wenn in ITER erstmal das Plasma brennt, wird das hier noch viel, viel, viel heißer! "

    Der Internationale Thermonukleare Experimentalreaktor - kurz ITER. Das teuerste Wissenschaftsexperiment aller Zeiten. Mit ITER wollen Ané und seine Leute das Sonnenfeuer auf die Erde holen. ITER soll ein 100 Millionen Grad heißes Wasserstoffgas zünden, Plasma genannt. Im Plasma soll dasselbe passieren wie im Inneren der Sonne: Wasserstoff verschmilzt zu Helium, und Unmengen an Energie werden frei. ITER hat eine ganz klare Mission: Er soll die Kernfusion als künftige Energiequelle erschließen. Eine Energiequelle, die sicher sein soll, unerschöpflich und umweltfreundlich.

    " Wir sind denke ich verpflichtet, unsere Energie aus Quellen zu gewinnen, die keine Treibhausgase ausstoßen. Heute kommen 85 Prozent der Energie aus Öl, Erdgas und Kohle. Bis zum Ende des Jahrhunderts sollten es höchstens noch 20 Prozent sein. Eine enorme Herausforderung für die Menschheit. Doch wir müssen es schaffen. Sonst wird sich durch den Treibhauseffekt das globale Klima extrem erwärmen."

    " Die an ITER beteiligten Länder repräsentieren zwei Drittel der Weltbevölkerung. Damit ist es glaube ich das internationalste Projekt, das es je gegeben hat. Es ist extrem wichtig, dass sich die Welt zusammentut, um das globale Problem des Klimawandels zu anzugehen."

    Ein paar Kilometer entfernt von Europaflagge und Wald liegt das Büro von Jean Marc Ané. Wir sind in Cadarache, einem der größten Kernforschungszentren der Welt. Auf dem weitläufigen Gelände arbeiten 4000 Menschen an der Weiterentwicklung der Kernenergie.

    " Cadarache wurde 1958 gegründet. Den Standort hat man damals aus Sicherheitsgründen gewählt. Er ist relativ weit von größeren Städten entfernt. Die nächste Stadt ist Aix-en-provence, 40 Kilometer südlich von hier. Hier in Cadarache entstanden die meisten Experimentalreaktoren der französischen Atomenergiebehörde - unter anderem der Prototyp für Superphenix, den schnellen Brüter. Und hier wurden auch die Nuklearantriebe für die französischen U-Boote und für unseren Flugzeugträger entwickelt. "

    Jean Marc Ané hat prächtige Laune. Denn vor ein paar Tagen fiel die Entscheidung: ITER, der riesige, milliardenteure Fusionsreaktor, wird in Cadarache gebaut, in dem Wald direkt neben dem Forschungszentrum.

    " Darauf haben wir Jahre gewartet. Ich hatte extra eine Flasche Champagner aufgehoben - wissen Sie, so eine große, eine Magnum. Jahrelang hat sie im Kühlschrank gestanden. Als dann vor ein paar Tagen der Standort bekannt gegeben wurde, haben wir sie endlich aufgemacht. Wir sind sehr, sehr glücklich über diese Entscheidung."

    Der Bau von ITER, womöglich markiert er den Durchbruch für die Fusionsforscher. Jahrzehntelang haben sie versucht, das Sonnenfeuer zu zähmen - bislang vergeblich. Die ersten Anfänge finden sich, wie nicht selten, bei den Militärs, im Wettrüsten des kalten Krieges.

    Die Wasserstoffbombe erscheint am Horizont der Öffentlichkeit als wahrscheinlich erreichbares Ziel. Ist sie erfolgreich, so bringt sie die radioaktive Verseuchung der Atmosphäre.

    Februar 1950. Im amerikanischen Fernsehen wendet sich Albert Einstein gegen die Entscheidung von Präsident Truman, die Wasserstoffbombe zu bauen. In ihr verschmelzen Wasserstoffkerne unkontrolliert und explosionsartig zu Helium. Die Sprengkraft ist 1000mal größer als die einer Atombombe.

    " Am Ende winkt immer deutlicher die allgemeine Vernichtung."

    Einsteins Mahnungen sind vergebens. Am 1. November 1952 explodiert auf den Marshall-Inseln die erste Wasserstoffbombe, gezündet von den USA. Doch schon während der Entwicklung der Bombe denken manche Physiker darüber nach, ob sich der Prozess nicht zähmen und zur Stromerzeugung nutzen ließe. Ein viel versprechendes Konzept entwickelt der russische Physiker Andrej Sacharow, der spätere Bürgerrechtler: In einem reifenförmigen Reaktor halten kräftige Magneten ein Wasserstoffgas gefangen, starke Ströme heizen das Gas kräftig auf. Tokamak - so nennt Sacharow das Konzept. Bald darauf entstehen überall auf der Welt Prototypen. Nur: Zünden können sie das Plasma nicht - dazu sind sie schlicht zu klein.

    Dann, am 9. November 1991, wagen Alan Gibson und seine Kollegen ein spektakuläres Experiment. Schauplatz ist Culham in England. Hier steht der europäische Versuchsreaktor JET, Durchmesser sechs Meter - das bis dato größte Fusionsexperiment der Welt.

    " Als wir in den Kontrollraum kamen, herrschte dort große Aufregung. Die Crew, die das Experiment ausführen sollte, bestand aus 35 Leuten, und weitere 150 Physiker drängten sich in den Raum, um das Ganze zu beobachten. Ich kann Ihnen sagen, es war ein extrem aufregender Augenblick."

    Das Zwitschern der Magnetsensoren zeigt an, dass im Inneren von JET ein heißes Plasma wütet. Alan Gibson gibt das Startzeichen.

    Über das Monitorbild einer Kamera fegt ein elektronischer Schauer. Der Versuch ist geglückt.

    " Im November 91 konnten wir erstmalig auf der Erde Energie aus der kontrollierten Kernfusion gewinnen. Damit haben wir den Weg freigemacht für diese Energiequelle, eine riesige Ressource im nächsten Jahrhundert."

    Zwei Sekunden lang verschmelzen Deuterium und Tritium, das sind schwerer und überschwerer Wasserstoff, zu Helium. Zwei Sekunden lang erzeugt JET eine Leistung von zwei Megawatt; erstmals ist in einem Reaktor ein kurzes Fusionsfeuer aufgeflackert. Damit ist bewiesen: Die kontrollierte Kernfusion ist möglich, jedenfalls im Prinzip. Das eigentliche Ziel aber ist noch nicht erreicht: ein Plasma, das sich zu einem Energie spendenden Fusionsfeuer entzündet und von selber weiter brennt.

    Genau das soll ein neuer Reaktor schaffen - ITER, lateinisch 'der Weg'. Angedacht wird das Megaprojekt bereits im November 1985 - von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan auf ihrem Gipfeltreffen in Genf.

    " Die konkreten Planungen begannen 1992. Das war eine Riesenmaschine, sie sollte 6,5 Milliarden Euro kosten. Sechs Jahre später waren die Pläne fertig. Doch da sagten die Politiker plötzlich: Halt, die Maschine ist uns doch zu teuer, speckt sie bitte ordentlich ab. Also entwarfen wir ein Gerät, das nur noch die Hälfte kostete.""

    Valery Chuyanov leitet die ITER-Filiale in Garching bei München. Im Juli 2001 sind die Pläne überarbeitet. Der Durchmesser der Reaktorkammer schrumpft von 16 auf zwölf Meter, die Leistung sinkt von 1500 auf 500 Megawatt. Nun wollen ihn die wichtigsten Industrieländer endlich bauen - Europa, Japan, Russland, China, Südkorea und die USA.

    " Die Pläne wurden genehmigt, und die sechs Partner begannen mit den Verhandlungen. Doch die Verhandlungen zogen sich hin. Denn zu unsrer Überraschung boten sich gleich mehrere Länder als Standort für ITER an - Kanada, Spanien, Frankreich und Japan. Plötzlich waren vier Standorte im Gespräch."

    Nach einiger Zeit streichen Kanada und Spanien die Segel. Nun streiten Cadarache in Frankreich und Rokkasho in Japan um den Standort für ITER. Südkorea und die USA unterstützen Japan, China und Russland sind für Europa. Ein Patt, das fast zwei Jahre währt.

    " Es sollte keinen Gewinner und keinen Verlierer geben. Also hat Europa angeboten, einen Ausgleich an Japan zu zahlen, und zwar 10 Prozent der Investitionskosten. Das bedeutet: Die japanische Industrie darf überproportional an ITER verdienen. Zudem darf Japan 20 Prozent des Personals stellen, obwohl es nur 10 Prozent der Kosten trägt. Und: Europa wird die Kandidatur eines japanischen Generaldirektors für ITER unterstützen. Ich denke: eine faire Lösung, die allen gerecht wird."

    Diese Lösung wird in der vorletzten Woche, am 28.Juni, auf einer Pressekonferenz in Moskau verkündet: Europa zahlt die Hälfte der Baukosten von insgesamt 4,6 Milliarden Euro, die anderen fünf Partner beteiligen sich mit je 10 Prozent. Als Ausgleich für seinen Verzicht erhält Japan diverse Vergünstigungen. Den Löwenanteil des europäischen Parts zahlt das Gastland Frankreich - knapp eine Milliarde Euro. Eine Investition, die sich lohnen dürfte. Die Franzosen rechnen mit 1000 neuen Arbeitsplätzen; über die Projektdauer von 40 Jahren dürften an die 10 Milliarden Euro ins Land fließen.


    " Nun muss ITER wissenschaftlich und technologisch beweisen, dass sich mit der Kernfusion tatsächlich Energie erzeugen lässt. Nach ITER müssen wir wissen, wie ein kommerzielles Kraftwerk zu bauen ist - und zwar effektiv, zuverlässig und sicher."

    Wie wird sie aussehen, die teuerste Wissenschaftsmaschine aller Zeiten? Als kleine Version lässt sie sich schon bestaunen - in Cadarache in Südfrankreich. Dort experimentieren Jean Marc Ané und seine Leute mit Tore Supra, einem der Vorläufer von ITER.

    " So, jetzt gehen wir in die Maschinenhalle. Sie sehen: Die Maschine steht hinter dicken Betonwänden. Die Wände schirmen die Neutronen und Gammastrahlen nach außen ab, die beim Betrieb der Maschine entstehen. Aus Sicherheitsgründen ist der Zutritt beschränkt, deshalb muss ich jetzt meine Karte in den Leser stecken."

    " Was Sie da hören, ist der Krach der Vakuumpumpen. Die Maschine vor uns ist 10 Meter hoch und ebenso breit. Sie hat die Form eines Torus - wie ein überdimensionaler Lastwagenreifen, der vor uns liegt. In diesem Reifen erzeugen wir etwas, das man Sternenmaterie nennen könnte. Wir Fachleute bezeichnen es als Plasma."

    Die Forscher füllen den Reifen mit Deuterium, mit schwerem Wasserstoff. Dann schicken sie einen kräftigen Strom durch das Gas. Dadurch lädt sich das Gas elektrisch auf und wird zu einem Plasma. Dieses elektrisch geladene Plasma lässt sich mit starken Magnetfeldern einschließen - wenn man so will halten es die Forscher in einem Magnetkäfig gefangen. Dazu braucht es überaus kräftige Magneten.

    Es sind wuchtige, ringförmige Magnetspulen, Durchmesser: neun Meter. Sie umfassen den Reifen wie gigantische Handschellen.

    " Diese Spulen nutzen wir, um das Plasma auf Position zu halten. Ein Plasma ist wie ein Blitz - ein höchst instabiles Gebilde. Die Magnetkräfte, die man braucht, um es in Schach zu halten, sind ziemlich groß. Das macht die Kernfusion übrigens zu einer überaus sicheren Technik: Läuft etwas schief und wir verlieren die Kontrolle über das Plasma, klatscht es ganz einfach gegen die Wand, kühlt sich ab - und die Fusionsreaktion stoppt. So etwas wie einen GAU, eine Kernschmelze wie bei einem Atomkraftwerk, kann es bei uns nicht geben."

    Wir gehen eine Treppe hoch, vorbei an einer Pumpe groß wie Kleintransporter. Sie pumpt überschüssiges Gas aus dem Reaktor.

    " Nun stehen wir ganz oben auf Tore Supra, genau über der Mitte der Maschine. Unter uns steht eine große Magnetspule, sie erzeugt im Plasma einen Strom - zwei Millionen Ampere. Dadurch heizt sich das Plasma auf. Außerdem entsteht dadurch der Magnetkäfig, der das Plasma einschließt. Aber wir müssen das Plasma noch zusätzlich heizen - etwa mit dieser Teilchenkanone dahinten. Damit schießen wir schnelle, hochenergetische Teilchen in die Kammer. Und drüben auf der anderen Seite stehen verschiedene Arten von Mikrowellenöfen. Damit schicken wir starke Mikrowellen in die Maschine."

    Eine aufwändige Mehrfach-Heizung, sie bringt das Plasma auf eine Temperatur von 75 Millionen Grad. Das ist fünf Mal heißer als das Sonneninnere. Der Magnetkäfig schirmt das Höllenfeuer zwar von den Wänden ab. Dennoch schlägt immer wieder heißes Deuterium auf den Boden der Reaktorkammer auf. Deshalb besteht der Boden aus einem Spezialmaterial - aus wassergekühlten Kohlefaserstäben. Sie können einem ernormen Hitzefluss trotzen: 15 Megawatt pro Quadratmeter, soviel wie auf der 6000 Grad heißen Sonnenoberfläche.

    Tore Supra kann kein Fusionsfeuer zünden. Dazu ist er schlicht zu klein. Stattdessen untersuchen die Forscher, wie sich die Hitze im Inneren des Reifens verteilt und wie sich die Temperatur immer weiter hochschrauben lässt. Und im Dezember 2003 glückte der Crew ein besonderer Coup: Sie konnte das flirrend heiße Plasma immerhin sechs Minuten lang gefangen halten - ein Weltrekord. Wird ITER nun genauso aussehen wie Tore Supra, nur eben viel größer? Nicht ganz, sagt Jean Marc Ané.

    " Man wird lediglich einen großen Zylinder sehen - eine Art riesige Thermoskanne. Denn ITER wird ausschließlich supraleitende Magneten nutzen und muss deshalb komplett mit Flüssighelium gekühlt werden. Stellen Sie sich also vor: Im Inneren von ITER wird es zehnmal heißer sein als im Zentrum der Sonne. Ein paar Meter weiter draußen ist es so kalt wie im Weltraum - minus 270 Grad Celsius, nahe am absoluten Nullpunkt der Temperatur. (5, 0:43) ITER wird ein sehr spezieller Ort im Universum sein - extrem heiß und extrem kalt."

    In Garching bei München, am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, arbeiten einige der Forscher, die ITER entworfen haben. Einer von ihnen, der Franzose Eric Martin, sitzt gerade vor seinem Rechner. Auf dem Monitor sieht man eine Computerskizze des Reaktors.

    " Der komplette Entwurf läuft auf dem Computer - und zwar in einer dreidimensionalen Darstellung. Auf diesem Bild hier sehen Sie den Tokamak, den eigentlichen Reaktor. Ein riesiger Zylinder, 28 Meter Durchmesser, 30 Meter hoch, seine Reaktorkammer hat 840 Kubikmeter Volumen. Da unten ist ein Mann eingezeichnet. Sehen Sie, wie winzig er ist im Vergleich zum Reaktor."

    Im Prinzip ist jedes Kabel, jedes Schräubchen von ITER im Rechner abgebildet. Martin und seine Leute entwickeln den Plan bis ins letzte Detail.

    " Wir gehen davon aus, dass die ganze Anlage aus zehn Millionen Einzelteilen bestehen wird. Zum Vergleich: Ein Auto hat 10.000 Teile, ein Flugzeug 100.000. Und die größten Flugzeugträger der USA bestehen als 10 Millionen Teilen. Wir sind also im Bereich eines riesigen Flugzeugträgers."

    Übers Internet arbeiten Dutzende von Experten aus Europa, Asien und Amerika zusammen - Leute, die sich zum Teil noch nie gesehen haben. Sie müssen dafür sorgen, dass 10 Millionen Teile zusammenpassen und dass die verschiedensten Einzeltechnologien miteinander harmonieren. Eine technische und logistische Mammutaufgabe.

    Eric Martin greift zur Maus.

    " Wie ein Vogel kann ich durch die Tür hier ins Innere der Maschine fliegen - dort, wo später das Plasma brennen wird. Jetzt schwebe ich im Reifen umher und schaue mir die einzelnen Komponenten an - die Reaktorwand, die Hitzeschutzkacheln, die Öffnungen für die Heizungen. Und nun lasse ich diesen Roboter hier ein Segment der Reaktorwand austauschen. Mit solchen Simulationen prüfen wir, ob wir bei der Konstruktion Fehler gemacht haben und ob nachher bei der Montage alles richtig zusammenpassen wird."

    ITER soll der Kernfusion zum Durchbruch verhelfen. Der Versuchsreaktor soll beweisen, dass sie nicht nur als physikalisches Laborexperiment funktioniert. Erstmals soll das Plasma aus Deuterium und Tritium zünden, soll von selber weiterbrennen und dabei deutlich mehr Energie produzieren als man zum Heizen hineinsteckt - sagt Bill Spears, Physiker bei der ITER-Abteilung in Garching.

    " ITER soll eine Fusionsleistung von 500 Megawatt schaffen - zwar weniger als ein Kraftwerk, aber immerhin in derselben Größenordnung. Damit soll ITER zehnmal soviel Energie erzeugen als man in ihn hineinsteckt. Das Plasma wird über 150 Millionen Grad heiß sein. Und es soll mindestens sieben Minuten lang brennen. Später wollen wir versuchen, es über Stunden oder sogar Tage aufrecht zu erhalten."

    Ziemlich ehrgeizige Ziele. Entsprechend groß sind die Anforderungen an Technik und Material.

    " Wir müssen supraleitende Magneten verwenden, weil normale Elektromagneten viel zuviel Strom verbrauchen würden. Wir müssen die Maschine fernsteuern, also benötigen wir Roboter, die die Segmente der Reaktorwand austauschen. Und wir brauchen ein so genanntes Blanket. Das ist eine Vorrichtung, mit der wir aus dem Lithium das Tritium brüten, also einen der beiden Brennstoffe."

    Ein weiteres Problem: Wie lässt sich das überschüssige Helium aus der Reaktorkammer leiten? Helium ist buchstäblich die Asche des Fusionsfeuers. Außerdem entstehen bei der Kernverschmelzung Unmengen von schnellen Neutronen. Sie fliegen aus dem Magnetkäfig heraus und sollen später in einem Kraftwerk ihre Energie über einen Wärmetauscher an eine Stromturbine übertragen. Das Problem: Die Reaktorwand besteht aus Stahl, und dieser Stahl hält dem Bombardement der Neutronen nicht ewig stand. Zum einen wird er brüchig, zum anderen wird er im Laufe der Zeit aktiviert, wie der Fachmann sagt. Das bedeutet: Einige der Neutronen lagern sich an die Atomkerne des Wandmaterials an und machen sie radioaktiv.

    " Wir brauchen Materialien, die nur wenig aktiviert werden und deren Radioaktivität nach 100 Jahren abgeklungen ist. Um solche Werkstoffe zu entwickeln, soll in Japan ein Teststand gebaut werden - eine Anlage auf der Basis eines Teilchenbeschleunigers. Sie soll die Werkstoffe mit schnellen Neutronen bestrahlen und dadurch die Verhältnisse in einem Fusionsreaktor simulieren."

    Magneten, Heliumasche, Stähle - die technischen Herausforderungen sind enorm. Dennoch: In den Köpfen der Forscher steht er schon, der Fahrplan für die Reise zu einem Fusionskraftwerk.

    " Der nächste Schritt wäre ein Demonstrationsreaktor, wir nennen ihn DEMO. Er soll ähnlich wie ein echtes Kraftwerk aussehen und zeigen, dass man mit der Kernfusion zuverlässig Energie erzeugen kann. Mit Glück könnte DEMO sogar als Prototyp für ein kommerzielles Fusionskraftwerk dienen."

    Wenn alles glatt läuft, könnte ein erstes Kraftwerk um das Jahr 2050 ans Netz gehen - viel später übrigens, als es die Pioniere einst prognostiziert hatten. Und dann, sagt Bill Spears, hätte die Fusion gewichtige Vorteile.

    " Die Brennstoffe sind frei verfügbar, und es gibt sie überall. Deuterium kann man aus Wasser extrahieren. Lithium, der Ausgangsstoff für das Tritium, lässt sich aus Steinen gewinnen. Brennstoffe also, die praktisch unerschöpflich sind."

    Der Inhalt von drei Flaschen Mineralwasser und zwei Feldsteinen würde ausreichen, um eine vierköpfige Familie ein Jahr lang mit Energie zu versorgen. Schließlich wird bei der Kernfusion reichlich Energie frei: Ein Kilogramm Wasserstoff verschmolzen zu Helium liefert genauso viel Energie, als würde man 11.000 Tonnen Steinkohle verheizen oder in einem Atomkraftwerk vier Kilogramm Uran spalten. Außerdem stößt ein Fusionsreaktor keine Treibhausgase aus. Und ein GAU wie in einem Kernkraftwerk scheint bei der Fusion ausgeschlossen: Der riesige Ringreifen ist immer nur mit maximal einem Gramm Brennstoff gefüllt. Und:

    " Man kann den Reaktor so konstruieren, dass er radioaktiven Müll erzeugt, der nicht länger als 100 Jahre strahlt. Danach ist die Strahlung abgeklungen, das Material kann ganz normal recycelt werden. Man hat also nicht das Problem des langlebigen Atommülls wie sonst in der Kernkraft."

    Das große Manko der Kernfusion aber lässt sich heute schon absehen.

    " Die Kernfusion wäre sehr kapitalintensiv. Es ist nicht wie bei einem Kohlekraftwerk, bei dem relativ geringe Baukosten haben und dann viel für den Brennstoff zahlen. Bei der Fusion wäre der Brennstoff zwar billig, die Anlage aber ziemlich teuer. Man müsste also, bevor man was rauskriegt, erstmal viel investieren."


    Auf das heutige Preisgefüge bezogen dürfte ein Fusionsreaktor nicht viel mehr als zwei Milliarden Euro kosten. Damit käme die Kilowattstunde aus der Fusion drei Mal teurer als der Strom aus Kohle oder Öl. Das bedeutet: Nur wenn der Preis der fossilen Brennstoffe drastisch steigt, wird die Kernfusion konkurrenzfähig.

    Aber soweit sind Bill Spears und seine Kollegen noch nicht. Erstmal müssen sie ihre Nagelprobe bestehen - den erfolgreichen Ausgang eines Experiments namens ITER.

    " Was wir noch nicht wissen: Wie wird sich das Plasma verhalten, nachdem es sich entzündet hat und von selber weiterbrennt? Unsere Theorien sagen zwar, es sollte funktionieren. Aber womöglich tauchen ja irgendwelche unerwarteten Phänomene auf und machen uns einen Strich durch die Rechnung. Möglich ist natürlich alles."

    " ITER könnte der Durchbruch für die Kernfusion sein, sicher. Aber die Sache könnte sich auch als Sackgasse erweisen - zu schwierig, zu kompliziert, zu teuer. Wir haben schlicht noch keine Erfahrung mit einem brennenden Plasma. ITER wird zeigen, ob die Sache funktioniert oder nicht."

    Zurück in die Sommerhitze Südfrankreichs, in den Wald von Cadarache, wo ITER einst stehen wird. Jean Marc Ané und seine Physikerkollegen stehen in den Startlöchern. Aber sie werden sich noch eine Weile gedulden müssen.

    " ITER soll im Jahre 2015 mit den ersten Experimenten loslegen - das hoffen wir jedenfalls. Doch es wird noch zwei bis drei Jahre dauern, bis hier die Bauarbeiten beginnen: Wir müssen noch vertragliche und juristische Details klären und die Aufträge öffentlich ausschreiben. Vergessen Sie nicht: ITER ist ein globales Projekt. Da ist es alles andere als einfach, all die verschiedenen Leute und Nationalitäten unten einen Hut zu bekommen."

    Vielleicht also kann ITER beweisen, dass die kontrollierte Kernfusion tatsächlich als Energiequelle taugt. Doch auch Ané weiß: Das wäre nur ein Schritt auf dem Weg zu einem Fusionskraftwerk.

    " Ich würde schätzen, in etwa 15 Jahren haben wir die Ergebnisse von ITER. Dann brauchen wir 10 Jahre für den Bau von DEMO, dem Demonstrationsreaktor. Das macht zusammen 25 Jahre. Dann dauert es weitere 10 bis 20 Jahre, um die richtigen Materialien zu entwickeln. Der erste kommerzielle Reaktor könnte also so in 50 Jahren fertig sein. Zugegeben - das klingt ein bisschen komisch: Schließlich haben wir ja schon früher immer behauptet, ein Fusionskraftwerk könne in 50 Jahren fertig sein. Aber jetzt - jetzt ist diese Aussage viel fundierter und glaubwürdiger!"

    Jean-Marc Ané geht zurück zu seinem Büro. Im Flur steht ein Tisch: das 50 Fußballplätze große ITER-Gelände als Modell. In der Mitte das Reaktorgebäude, daneben Versorgungshallen, Kühlanlagen, Bürogebäude, Straßen mit winzigen Spielzeugautos. Ané bleibt stehen, hält inne - und lässt einen sehnsüchtigen Blick über das Modell schweifen.

    " Das da ist der Bürotrakt. Ich hoffe der Raum an der Ecke wird mein Büro. Wenn ITER im Jahre 2015 das erste Plasma zündet - ich hoffe, dass ich dann noch dabei bin. Dann hätte ich 32 Jahre am ITER-Projekt mitgearbeitet. Ein langer Weg von den ersten Plänen bis zum ersten Plasma."