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Sorge vor Radikalisierung
"Wir tun nicht genug"

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, hat davor gewarnt, Moslems unter Generalverdacht zu stellen. Damit betreibe man ein Geschäft im Interesse der Terroristen, sagte der SPD-Politiker im DLF. Um die Radikalisierung junger Menschen zu verhindern, müsse man zudem die Jugendarbeitslosigkeit stärker bekämpfen.

Martin Schulz im Gespräch mit Dirk Müller |
    Porträt von Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments
    EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hält es für wichtig zu begreifen, dass 99 Prozent der Muslime die Terrormiliz IS als Monster sähen. (picture alliance / dpa / EPA/ maja Suslin)
    "Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine Geißel unserer Zeit", betonte Schulz im Deutschlandfunk. Wenn man dieses Problem besser angehe, schränke man auch das Operationsfeld der Terroristen ein. Hier gebe es in allen EU-Ländern Handlungsbedarf: "Ich werde nicht müde, zu betonen, dass wir da mehr investieren müssen." Armut sei aber nicht der einzige Grund dafür, dass sich der Terrorismus ausweite, erklärte der SPD-Politiker. Ein Grund für die Radikalisierung sei auch der gesellschaftliche Ausschluss. Man müsse es schaffen, Menschen muslimischen Glaubens als Bestandteil der Gesellschaft zu sehen und begreifen, dass 99 Prozent der Muslime die Terrormiliz IS als Monster sähen.
    Mit Blick auf den Ausnahmezustand in Brüssel meinte Schulz, er habe mit einer Reihe von Mitarbeitern gesprochen. Vor allem diejenigen mit Kindern seien besorgt. Die meisten Leute seien aber sehr gefasst und eher froh darüber, dass die Polizei präventiv solche Maßnahmen ergreife.
    Schulz lobte den Umgang der deutschen Behörden mit der Bedrohung. Es sei richtig, den Bürgern zu sagen, dass auch Deutschland Ziel eines Anschlags werden könne, es aber keine konkreten Hinweise gebe. "Ich glaube nicht, dass man sich auf einen Anschlag wie in Paris vorbereiten kann", so Schulz. Man müsse hoffen, dass die Maßnahmen in der Bundesrepublik griffen. Allerdings habe die Polizei immer wieder darauf hingewiesen, dass sie an ihrer Leistungsgrenze sei. Dies zu ändern, sei eine innenpolitische Frage.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Zehn Tage nach den Attacken in Frankreich. Europa steht unter der Ägide des Terrors. Jemand, der seit vielen Jahren sein politisches Leben vor allem in Brüssel verbringt, ist SPD-Politiker Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. Brüssel ist ihm als Stadt, als Lebensraum auch längst ans Herz gewachsen. Guten Morgen, Herr Schulz.
    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Ist Brüssel für Sie noch näher als Paris?
    Schulz: Sicher. Räumlich ja und das ist der Arbeitsplatz von vielen, vielen tausend Menschen, mit denen ich auch jeden Tag zusammenarbeite. Es ist mein eigener Arbeitsplatz. Aber das ist eine räumliche Frage. Emotional ist mir jeder Ort, an dem der Terror zuschlägt, natürlich nahe wie uns allen.
    Müller: Wann müssen Sie wieder hin?
    Schulz: In dieser Woche sind wir in Straßburg, wo ja der eigentliche Hauptsitz des Europaparlaments ist und wo wir ähnliche Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen wie in Brüssel. Ich bin also am Wochenende, am Samstag und Sonntag, wenn möglicherweise europäische Sitzungen dort stattfinden, wieder da.
    Müller: Haben Sie jetzt am Wochenende mit Mitarbeitern, die vor Ort wohnen, mit Ihren Mitarbeitern telefonieren können?
    Schulz: Ja, in jedem Fall. Wir haben als Europäisches Parlament ja große Gebäude in Brüssel und die sind zu einem großen Teil in unmittelbarer Nähe der Orte, die sie eben genannt haben. Deshalb ist auch bei uns die Sicherheitslage so, dass wir die höchste Alarmstufe ausgelöst haben.
    "Eindeutig zu wenig Polizisten"
    Müller: Wie fühlen die sich vor Ort?
    Schulz: Ich habe mit einer Reihe von Mitarbeitern gesprochen, die Kinder haben. Die sind natürlich alle sehr, sehr besorgt. Das führt natürlich auch dazu: Die können mit den Kindern nicht raus, oder wenn sie mit den Kindern rausgehen, haben die Kinder Angst. Die Leute selbst sind, soweit ich mit ihnen sprechen konnte, eigentlich relativ gefasst, sind eigentlich eher froh, dass die Polizei präventiv solche Maßnahmen anordnet, weil die natürlich alle auch vor dem Eindruck der entsetzlichen Bilder aus Paris stehen und dann eher sagen, Vorsicht ist geboten, und deshalb akzeptieren wir auch Einschränkungen.
    Müller: Jetzt haben Sie gesagt, Herr Schulz, die räumliche Perspektive ist natürlich eine andere. Brüssel liegt näher auch bei Ihnen dran. Das ist ganz klar. Sie wohnen ja an der belgischen Grenze in der Nähe von Aachen. Wenn wir diese räumliche Perspektive sehen: Wir haben Paris, wir haben Brüssel, da ist bislang noch alles verhindert worden. Wenn wir die deutsche Perspektive dann sehen, auch eine gewisse Gelassenheit, auch nach Hannover relativ schnell eine gewisse Gelassenheit. Wiegen wir uns ein bisschen zu sehr in Sicherheit?
    Schulz: Das glaube ich nicht. Die Behörden der Bundesrepublik Deutschland weisen zu Recht immer wieder darauf hin, dass wir sicher auch Ziel der Terroristen sind, im Visier der Terroristen sind, aber dass es bis dato keine sehr konkreten Anhaltspunkte gegeben hat. Ich halte dieses Vorgehen auch für richtig, auf der einen Seite den Leuten das Gefühl zu vermitteln, dass es keine direkte Gefahr gibt, aber auch nicht auszuschließen, dass wir Ziel eines Anschlags werden könnten. Das ist genau die realistische Beschreibung der Lage.
    Müller: Und die Politik und die Polizei, alle sind darauf vorbereitet, wenn was passiert?
    Schulz: Wenn ein solcher Anschlag wie in Paris passiert, ich glaube nicht, dass man sich darauf vorbereiten kann. Man kann versuchen, mit Präventivmaßnahmen so gut es geht die Szene zu beobachten. Ich denke, in Deutschland werden zurzeit die sogenannten Gefährder genau beobachtet. Sie werden auch angesprochen. Man sagt ihnen auch, Leuten, die jedenfalls in der Nähe von terroristischen Aktivitäten identifiziert wurden, keine gute Zeit, um aktiv zu sein, wir haben euch im Bilde und wir haben euch im Auge. Aber das ist alles Prävention. Wenn ein solcher Anschlag wirklich geschieht, das wissen Sie so gut wie ich, dann ist der Schock natürlich auch und wäre der in Deutschland groß. Aber wollen wir hoffen, dass die Maßnahmen, die in Deutschland ergriffen worden sind, auch tragen.
    Müller: Jetzt wissen Sie intern ja viel mehr, Herr Schulz, als Sie uns sagen können und sagen wollen. Das ist auch nachvollziehbar. Wir haben vor gut einer Stunde mit unserem Sicherheitskorrespondenten gesprochen, der da gesagt hat, na ja, der eine oder andere Gefährder im Vorfeld von Hannover und auch danach ist der Polizei bei der Beobachtung abhandengekommen. Dann haben wir noch mal nachgefragt: Was heißt das? Und da meinte Rolf Clement: Ganz klar, wir haben zu wenig Polizisten, zu wenig Sicherheitskräfte, die diesen Dauerstress und diese Dauerüberwachung leisten können. Wie problematisch ist das?
    Schulz: Das ist schon problematisch. Die Polizei hat ja ihrerseits immer wieder darauf hingewiesen, dass sie mit ihrem Personal an der Leistungsgrenze ist, und es ist in Deutschland ja eine heftige Diskussion schon in den letzten Jahren im Gange gewesen, wo darauf hingewiesen wurde, dass es eindeutig zu wenig Polizisten gibt. Das ist natürlich eine innenpolitische Frage der Bundesrepublik Deutschland, bei der ich als Mitglied meiner Partei eine klare Position habe. Aber es ist deshalb auch gut, dass auf Drängen meiner Partei die Anzahl von Polizisten in den letzten Wochen erst deutlich auch im Rahmen der Haushaltsberatungen des Bundeshaushaltes nach oben gesetzt worden ist.
    "Es ist wohlfeil, nach schärferen Gesetzen zu rufen"
    Müller: Also jahrelang ist zu wenig passiert?
    Schulz: Die Bundesrepublik hat ja insgesamt ein Personalproblem. Schauen Sie sich die Überhänge bei der Bearbeitung von Asylanträgen an. Kein Land hat einen solchen Rückstau wie Deutschland. 250.000 nicht bearbeitete Altfälle, das ist natürlich schon ein Ballast, den wir da mit uns herumschleppen. Aber es nutzt uns in der jetzigen Situation auch nicht viel, da herumzumosern, aber in jedem Fall ist es gut, dass es jetzt mehr Personal gibt.
    Müller: Aber tun wir das, um besser zu werden, weil das Personal, haben wir gehört, muss ja auch noch lange, lange Zeit ausgebildet werden, bevor es dann zum Einsatz kommt? Warum haben wir das jahrelang unterschätzt, dementsprechend verschlafen?
    Schulz: Das ist eine Frage, die Sie berechtigterweise stellen. Allerdings stellen Sie sie natürlich an die falsche Ebene. Die Ebenen, die zuständig sind, vor allen Dingen bei der Terrorismusbekämpfung, die sind, glaube ich, aber in den letzten Wochen so öffentlich unter Druck geraten, dass die auch jetzt endlich angefangen haben zu handeln.
    Müller: Weil es wieder eines Terroranschlags bedurfte dafür?
    Schulz: Nein, das glaube ich nicht. Wir müssen schon sehen, dass es nicht eines Terroranschlags bedurfte, sondern der Pariser Anschlag war ja auch nicht der erste. Wir hatten ja Charlie Hebdo im Januar und ich glaube, dass in den letzten zwei Jahren insgesamt der Druck größer geworden ist und dass deshalb auch gehandelt werden muss. Eines ist ganz klar: Wir müssen manchmal auch als Deutsche ein bisschen auf uns selbst schauen und begreifen, dass wir nicht immer und zu jedem Zeitpunkt in allen Fällen die Besten sind, sondern es gibt auch Bereiche, wo die Bundesrepublik Deutschland ein bisschen mehr tun müsste.
    Müller: Wir hatten vor einigen Jahren ja auch schon mal darüber gesprochen, Martin Schulz, und da haben Sie im Grunde angedeutet: Na ja, wenn ich mit dieser Forderung mehr Polizei gerade auch aus der europäischen Perspektive, aus der Anti-Terror-Perspektive auch in meine Partei gehe, in den Vorstand, in das Präsidium der SPD, werde ich auch immer so ein bisschen schief angeguckt.
    Schulz: Mit der Forderung nach mehr Polizei nicht. Die Debatten, die wir damals geführt haben, gingen nicht um Personal; da ging es um Inhalte. Das ist ganz klar, dass bei der Güterabwägung zwischen Grundrechten und Eingriff in die individuelle bürgerliche Grundfreiheit die SPD immer sehr intensive Debatten führt, und darauf sollte sie auch stolz sein, weil es ist wohlfeil, nach Terroranschlägen schnell nach neuen und schärferen Gesetzen zu rufen. Die nutzen einem nur nichts, wenn man - und da sind wir wieder am Anfang - nicht die Leute hat, die sie umsetzen sollen. Und wenn man mehr Leute hat, die arbeiten, dann braucht man möglicherweise auch keine schärferen Gesetze.
    "Der Prozess des sozialen Ausschlusses radikalisiert Leute "
    Müller: Reden wir noch einmal über Belgien, über Brüssel, Molenbeek. Da haben viele von uns jetzt erfahren, wie dieser Stadtteil dort konstituiert ist. Sie sind vor vielen Jahren ja auch schon mal dort gewesen, haben sich das alles angeschaut. Ein großes Problem, ganz gleich über welches religiöse, kulturelle Fundament wir dort reden, ist die hohe Arbeitslosigkeit der Jugendlichen vor allem, die fehlende Perspektive dort, ebenfalls Themen, die uns vielleicht ja auch in den nächsten Monaten durch die Flüchtlinge noch einmal drohen könnten, auch diese Diskussion. Aber in ganz Europa, in vielen Teilen Europas ist das ja ein Riesenproblem, die Jugendarbeitslosigkeit, in Südeuropa 20, 25 Prozent, Italien, Spanien, Griechenland noch schlimmer. Darüber haben wir häufig berichtet. Ist das das Gefahrenpotenzial, wenn wir über Ursachen reden, in den kommenden Jahren?
    Schulz: Ich glaube, dass der Prozess des sozialen Ausschlusses Leute radikalisiert. Das ist ganz sicher so. Wenn die Adresse über die Zukunftschancen eines jungen Mannes oder einer jungen Frau entscheidet, ist das für jeden, der davon betroffen ist, eine deprimierende und zutiefst auch radikalisierende Angelegenheit. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es einen ursächlichen Zusammenhang dazwischen und dem Terrorismus gibt. Wir haben ja auch gesehen, dass eine Reihe der Terroristen aus durchaus sozial stabilen Verhältnissen stammte. Also einen permanenten Zusammenhang da herzustellen, das halte ich nicht für geboten. Man muss jeden einzelnen Fall prüfen. Nehmen Sie sich die 9/11-Attentäter, die stammten alle aus relativ guten Verhältnissen. Aber es ist eins ganz richtig: Wenn wir es nicht schaffen, Menschen muslimischen Glaubens als normalen Bestandteil unserer Gesellschaft zu betrachten, wenn wir nicht hingehen und sehen, dass 99 Prozent aller Moslems auf dieser Welt beim Islamischen Staat von einem Monster sprechen, so die höchste sunnitische geistliche Instanz in Kairo, sondern hingehen und wegen dieser Typen alle Muslime unter einen Generalverdacht stellen, dann betreiben wir das Geschäft in deren Interesse, denn das ist genau das, was sie wollen. Die und wir! Wir sind die Muslime, die guten, die sind die Schlechten und deshalb dürfen wir auch auf die losgehen. Das ist genau diese Schwarz-Weiß-Malerei, die das Ziel des IS ist. Das dürfen wir nicht zulassen.
    "Wir tun nicht genug"
    Müller: Wenn Sie sagen, Herr Schulz, das ist nicht immer die Ursache, diese Jugendarbeitslosigkeit in diesen bestimmten Stadtvierteln, in den Banlieues auch in Paris, sind es ja trotzdem ganz oft Jugendliche, muslimische Jugendliche, die da genau herkommen. Molenbeek ist ja auch ein Beispiel. Wenn wir das richtig verstanden haben, sind ja auch ganz, ganz viele der dschihadistischen Kämpfer, die aus Europa beispielsweise nach Syrien gehen, die sich dort auch radikalisieren und militarisieren lassen, genau aus diesem Milieu stammend. Sie sagen, der Zusammenhang ist gar nicht so gravierend?
    Müller: Nein, Sie haben schon recht. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine Geißel unserer Zeit und ich gehöre ja zu denen, die sich den Mund fusselig reden, um darauf hinzuweisen, dass Massenarbeitslosigkeit von jungen Menschen die Gesellschaft gefährdet und den inneren Zusammenhang einer Gesellschaft zerstört. Deshalb haben Sie hundertprozentig recht. Es ist schon so, dass der soziale Verfall in manchen Randlagen unserer großen Metropolen Leute radikalisiert und die dann zu Terroristen werden. Das will ich nicht ausschließen. Deshalb haben Sie recht mit dem Hinweis. Wenn wir die Jugendarbeitslosigkeit besser bekämpfen würden, wenn wir da mehr täten, wäre das sicher auch ein Begrenzen eines Operationsfelds von Leuten, die junge perspektivlose Menschen verführen.
    Müller: Wir haben nur noch 15, 20 Sekunden. Tun wir denn etwas dagegen?
    Schulz: Wir tun nicht genug. Wir müssten eigentlich mehr machen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern, und ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass wir da auch mehr Geld investieren müssen.
    Müller: Martin Schulz, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk, Präsident des Europäischen Parlaments. Danke nach Hamburg, Herr Schulz. Sie stehen dort vor dem Staatsakt für Helmut Schmidt heute. Ihnen noch einen guten Tag.
    Schulz: Ihnen auch, Herr Müller. Vielen Dank.
    Müller: Danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.