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Sorj Chalandon: "Mein fremder Vater"
Schlüsselroman über väterlichen Terror

Anfang der 1960er-Jahre erlebt der pubertierende Émile zu Hause ein Wechselspiel aus Zuckerbrot und Peitsche. Mal ist er Opfer seines erziehungswütigen Vaters, mal sein Kumpan im Untergrundkampf für ein französisches Algerien. Sorj Chalandons Roman "Mein fremder Vater" bleibt bis zur letzten Seite ergreifend.

Von Christoph Vormweg |
    Sorj Chalandon hält mit "Mein fremder Vater" die Erinnerung an den Algerienkrieg wach.
    Sorj Chalandon hält mit "Mein fremder Vater" die Erinnerung an den Algerienkrieg wach. (dtv Verlag)
    Prügelnde Väter gibt es in der Literaturgeschichte zuhauf. Denn die Familie ist ein klassischer Tatort. Auch der pubertierende Émile wird Anfang der 1960er Jahre regelmäßig von seinem Vater verdroschen. Zu Hause lässt der ehemalige Fallschirmjäger kein Widerwort zu. Schlimmer: Niemand außer der Kernfamilie darf die kleine Wohnung in Lyon betreten - nicht einmal die Großeltern. Und Anlässe zur Züchtigung finden sich immer.
    "Mein Vater war einmal adventistischer Pastor gewesen. […] Er, der Evangelist, der charismatische Kreuzritter, stehe weit über Jesus. Gott spreche mit ihm. […] Er nahm mir auch die Beichte ab. Einem Pfarrer meine Sünden zu gestehen hatte er mir verboten. Das machte er selbst, heimlich, im Wohnzimmer, bevor meine Mutter von der Arbeit kam. Dazu legte er sein schwarzes Pastorengewand mit den weißen Aufschlägen und der violetten Stola an, bestickt mit Erde, auf der einst das Kreuz stand. Ich musste mich hinknien, die Arme ausgebreitet, Handflächen nach oben […] und ihm meine bösen Taten und bösen Gedanken gestehen. Die Strafe wurde mit der Peitsche vollzogen. Die hatte ich mir selbst von meinem Taschengeld kaufen müssen."
    In seinem Roman "Mein fremder Vater" verarbeitet der 1952 geborene Sorj Chalandon den Sadismus seines eigenen Erzeugers, wie er bei einer Buchpräsentation offengelegt hat. Selbsterlebtes vermischt sich mit Fiktion. Dabei macht gerade die Kommentarlosigkeit seiner nüchtern-präzisen Prosa die Lektüre so beklemmend, ja oft erschütternd. Für das Einzelkind Émile sind die Zeugnistage der Gipfel des Alptraums. Denn sein Vater ist nie zufrieden. Häufig enden die Prügelorgien mit einer Nacht im Kleiderschrank des elterlichen Schlafzimmers: der sogenannten "Besserungsanstalt". Der Widerstand der Mutter bleibt halbherzig. Denn sobald sie aufbegehrt, wird sie selbst geschlagen.
    Komplex gebrochenes Vater-Sohn-Verhältnis
    Ein Teufelskreis. Doch trotz aller Demütigungen stellt Émile seinen Vater nie in Frage. Denn er bekommt auch Anerkennung von ihm. Mit anderen Worten: Sorj Chalandon stellt nicht einfach einen Prügelvater an den Pranger, sondern zeichnet ein komplex gebrochenes Vater-Sohn-Verhältnis. So bekommt der Roman auch eine politische Dimension. Denn der Vater will Émile zum "Rebellen" ausbilden: wider ein schwächelndes Frankreich, das gerade dabei ist, die Macht über Algerien zu verlieren. Der algerische Unabhängigkeitskrieg – und das ist selten – wird also aus der Perspektive eines französischen Rechtsradikalen beleuchtet. Émiles Vater engagiert sich für die im Untergrund operierende Terror-Organisation OAS, die mit Anschlägen im Mutterland die Abspaltung Algeriens verhindern will. Seinen minderjährigen Sohn lässt er mit Kreide Parolen auf Hauswände schreiben und nachts Drohbriefe bei einem verhassten Politiker einwerfen. Das macht Émile stolz und selbstbewusst. Er heuert sogar heimlich einen Mitschüler an, um ihn seinerseits so zu steuern wie der Vater ihn. Luca scheint ihm besonders geeignet, weil er gerade mit seinen Eltern aus Algerien geflohen ist.
    "Luca hatte die ganze Nacht überlegt. Mein Vorschlag hatte ihn erschreckt und fasziniert zugleich. Also ja, einverstanden. Er wollte der Organisation beitreten.
    'So einfach ist das nicht', erwiderte ich lächelnd.
    Wir standen in einer Ecke des Schulhofs. Er wirkte verstört.
    'Aber du hast mich doch gefragt, ob ich dabei sein will!'
    Er jammerte fast. Diesen Blick und diese Kinderstimme kannte ich an ihm nicht.
    Auf einmal hatte ich keine Angst mehr vor ihm. Er war groß und weich. Irgendwie leer.
    'Du widerst mich an', hatte mein Vater einmal gesagt, als ich schlechte Noten nach Hause gebracht hatte.
    Jetzt, wo ich Luca so sah, verstand ich, was das bedeutete.
    Er krümmte sich, um auf meiner Höhe zu sein. Wartete auf meine Antwort.
    Ich schaute woanders hin. Verzog schmerzlich grübelnd das Gesicht und sah möglichst sorgenvoll drein. Noch nie hatte ich so ein Machtgefühl verspürt.
    'Ich werde mit dem Anführer reden.'
    Er sah mich an, Hoffnung schwitzend aus allen Poren."
    Im französischen Original heißt Sorj Chalandons Roman "Beruf des Vaters". Denn Émile, der mittlerweile 13 Jahre alt ist, schreibt im Fragebogen der Schule stets: arbeitslos. Schließlich ist der Vater in seinen Augen Geheimagent – was keiner wissen darf. Nie zweifelt er an den väterlichen Erzählungen, die seine jugendliche Fantasie befeuern. Doch ist er früher wirklich ein hochtalentierter Sänger gewesen, ein Judo-Lehrer mit schwarzem Gürtel, ein Berater von General de Gaulle, dem Staatspräsidenten?
    Der französische Schriftsteller Sorj Chalandon; hier bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen von France Culture in Paris im September 2013
    Der französische Schriftsteller Sorj Chalandon; hier bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen von France Culture in Paris im September 2013 (imago/PanoramIC)
    Die tragikomischen Zwischentöne mehren sich
    Dem Leser kommen nach und nach Zweifel. Denn die Indizien sind oft dürftig: hier eine Pistole, da ein Rangabzeichen oder ein vergilbter Brief. Ob der Vater wirklich ein Held oder doch bloß ein arbeitsloser Aufschneider und Familientyrann ist, hält Sorj Chalandon gekonnt in der Schwebe. Mehr noch: Die tragikomischen Zwischentöne mehren sich, zum Beispiel wenn Vater und Sohn mit den ersten auf dem Markt erhältlichen Walkie-Talkies für den nächsten Einsatz üben. Zugleich steigt die Spannung beständig. Denn Möchte-gern-Geheimagent Émile schafft neue Tatsachen, indem er seinen Mitschüler Luca anstachelt.
    Das Schlussdrittel des Romans "Mein fremder Vater" spielt dann in der Gegenwart. Der Erzähler ist verheiratet und selbst Vater eines Sohnes. Sein einziges Talent - das Zeichnen, das ihm schon als Kind den Spitznamen Picasso eingebracht hatte – ist zu seinem Beruf geworden. Wie sich das Verhältnis zu seinem Prügelvater entwickelt hat, sei hier nicht verraten. Nur so viel: Sorj Chalandons Schlüsselroman über väterlichen Terror bleibt bis zur letzten Seite ergreifend, gerade deshalb, weil er auch zeigt, wie gewalttätig Worte sein können.
    Familiäre Lügen hat der französische Schriftsteller Sorj Chalandon schon in seinem Roman "Die Legende unserer Väter" entlarvt. In seinem neuen Roman "Mein fremder Vater" beschreibt er den Teufelskreis des pubertiernden Émile. Zu Beginn der 1960er Jahre ist der Junge seinem erziehungswütigen Vater ausgeliefert. Durch den in Frankreich so lange verdrängten Algerienkrieg bekommt Sorj Chalandons Familiendrama dabei auch eine politische Dimension.

    Sorj Chalandon: "Mein fremder Vater"
    Aus dem Französischen von Brigitte Große, DTV Literatur, München 2017, 272 Seiten, 22 Euro.