Entsprechend umfangreich gestaltet sich auch die Bezugnahme auf Deleuze/Guattari in Soundcultures . Viele Autoren lassen deren Theorie in ihre Texte einfließen, ob es dabei um die Rezeption der Performance von Laptop-Musik geht oder um die Illusion vom reinen Sound. Daneben gibt es auch eine medientheoretische Exploration mit Marshall McLuhan oder den Versuch einer Kognitionstheorie der Musik. Souverän mit Philosophiegeschichte und Kommunikationstheorie jonglierend, entwickelt der Systemtheoretiker Dirk Baecker hier die These, dass elektronische Musik das Hören selber hörbar werden lasse. Wo Baeckers Diskurs aber nur schillert, ist der brillante Beitrag von Christoph Cox wirklich erhellend. Im Rückgriff auf Deleuze wird plausibel, auf welche Weise Musik zu einem organlosen Körper wird:
Wir haben gesehen, dass die klassische Komposition, der Jazz Tune und der Rocksong Körper sind, die sich aus feststehenden Schichten oder Organen (z.B. Streichinstrumente / Blasinstrumente / Blechinstrumente / Schlaginstrumente; Vocals / Gitarre / Bass / Drums) zusammen setzen, die den Klang einfangen und ihn für bestimmte Funktionen – etwa Melodie/Harmonie/Rhythmus, Refrain, narrative Entwicklung – einspannen. Von außen durch ein prädeterminiertes, transzendentales Schema (Partitur, Diagramm, Song) organisiert, bewegen sie sich im Einklang mit der pulsierenden Zeit – der Zeit der Entwicklung, der Form, der Erzählung und des Refrain. Experimentelle Elektronik löst den Klang von dieser Schicht und befreit ihn von der pulsierenden Zeit. Der Klang erscheint in seiner eigentlichen Form: als ein sich frei bewegender Strom, reine Möglichkeit, nicht länger oder noch nicht an musikalische Formen oder Funktionen gebunden. An Stelle von Erzählungen, Melodien und Themen hören wir die Klänge selbst. Wir hören akustische Kräfte, Affekte, Singularitäten und Intensitäten, Strukturen, Klangfarben et cetera.
Dass die historische Musik-Avantgarde heute ganz im Universum von Mille Plateaux aufgeht, darüber herrscht Konsens in Soundcultures . Edgard Varèse, John Cage, die musique concrète , Karlheinz Stockhausen, amerikanische Computermusik, Noise, Kraftwerk, Sampling, Scratching – all die musikalischen und technologischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts finden ihre Vollendung in der Produktionsweise und Ästhetik elektronischer Musik, wie sie bei Mille Plateaux erscheint. Es wirkt tatsächlich so, als hätten sich einzelne Autoren zur Veranschaulichung ihrer Thesen ausschließlich im Katalog von Mille Plateaux bedienen dürfen. Insofern kommen rund 80 Prozent heutiger Elektronik-Produktionen gar nicht vor. Auch der Titel des Buches ist irreführend, werden hier doch gerade nicht unterschiedliche Sound-Kulturen oder audio-soziale Szenen präsentiert: von HipHop, Techno, Drum & Bass, Dancehall-Reggae – alles Stile, die sich ebenfalls elektronischer oder digitaler Mittel bedienen – ist kaum die Rede. Und leider ist schwarze Musik völlig unterrepräsentiert.
Es stellt sich schon ein leichtes Unbehagen ein, wenn mit den angeblich "vielfältigen Einblicken in die Elektronik" vor allem der Kosmos und die Unternehmens-Philosophie von Mille Plateaux beleuchtet wird. Aber trotz der dubiosen Verschränkung von Herausgeberschaft und Plattenfirmen-Interessen enthält Soundcultures einige lesenswerte Texte. Michael Harenbergs Analyse virtueller Instrumente zwischen Simulation und (De)Konstruktion zeigt, wie sehr digitale Musik-Produktion am Computer immer noch auf Simulationsleistungen von analogen Verfahren und Arbeitsprozessen beruht. Norbert Schläbitz zeichnet nach, wie sich die Musik der Gegenwart umfassend dem Geräusch geöffnet hat. Für die Zukunft prognostiziert Schläbitz eine ebenso kollektive wie anonyme Musik der Netze sowie die neue Gattung der Medienkomposition. Und zum Glück findet sich in Soundcultures dann doch noch ein Statement, das die Rezeption von Elektronika und Deleuze/Guattari mal auf die aktuellen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse projiziert. Dabei wird dann deutlich, dass der Diskurs von Soundcultures eher am Ende einer vielversprechenden Entwicklung steht, welche sich heute zweifelsohne im Stadium der Ernüchterung befindet.
Nach dem kurzen Sommer, den Dotcoms und Internethype erlebt haben, gehören wohl auch die goldenen Tage von Techno, Rave und Deleuze und Guattari der Vergangenheit an. Was noch vor Jahren Ausnahme, aufregend und dissident war, ist nun Normalfall und Mainstream. Aus Maschinen, die nur als gestörte gut funktionieren, sind gut geölte geworden. In dem Maße, wie Stil, Jargon und Begriffssound von Deleuze und Guattari chic geworden und zur Dolce & Gabbana der Theorie mutiert sind, ist auch Techno dem machtvollen und schelllebigen Wechsel der Moden, Stile und Trends unterlegen, der die postmoderne Interface-Kultur auszeichnet. (...) Und heute trägt die Sozialutopie eines immanenten Werdens längst die Embleme des Kapitals und der Macht, seitdem Beschleunigung, Umherschweifen und Out of Control zum Markenzeichen des räuberischen Kapitalismus geworden sind, asymmetrische Krieger sich in Netzwerken und Rhizomen organisieren und der Raum, das Territorium und die Geopolitik die Zeit wieder erobert haben.