Sie waren langhaarig, liefen barfuss durch die Straßen, trugen Blumen im Haar zu Schlaghosen-Jeans mit selbst aufgenähten bunten Stofffetzen. Sie tranken billigen Wein, redeten über Musik und tanzten in Clubs von Moskau, Leningrad, Riga und Kiew. Sie waren die Sowjet-Hippies. Inspiriert durch Zeitungsartikel über die antikapitalistische Bewegung in den USA schufen sie sich Ende der 1960er Jahre eine friedliche Alternative zu Stagnation und sozialistischem Alltag. Sie nannten es "Sistema". Joanne Chen Cham, Archivarin des Wende Museums von Los Angeles:
"Obwohl es eine Gegenbewegung zur Gesellschaft war, musste sie ironischerweise ihre Inspirationen aus sowjetisch sanktionierten Medien beziehen. Die Grundlagen für ihre Gegenkultur kamen aus Quellen der offiziellen Kultur."
"Symbol für Widerstand"
Im Archiv des Wende Museums von Los Angeles lagern zwischen mehr als hunderttausend anderen Zeugnissen aus der Zeit des Kalten Krieges kistenweise "Sistema"-Materialien: Schallplatten, Aufnahmen aus Musikclubs, Kleidung, Briefe, Bücher, Fotos, Tagebücher, Anleitungen für die Verwandlung gewöhnlicher Jeans in Schlaghosen und jede Menge Heimvideos. Kate Dollenmeyer, Wende Museums-Archivarin für audiovisuelle Zeugnisse ist dabei, das Material zu digitalisieren.
"Das ist eine der Gruppen in Sankt Petersburg. Sie hatten diese Treffen im Wald, wie Festivals. Hier gehen sie in einen Club. Hier sieht man, wie die Hippies auf der Straße von anderen schräg angeschaut werden. Und wirft ein Mann ein Frisbee. Das war ein begehrtes Objekt: amerikanisch, schwer zu bekommen und ein Symbol für Widerstand."
Die Historikerin Juliane Fürst entdeckte bei ihrer Forschung zum "Sistema" die Zeugnisse, die in Kellern und Dachstühlen der sowjetischen Blumenkinder verstaubten und verrotteten. Auf der Suche nach einem Archiv, das den Wert des Materials zu schätzen wusste, landete sie in Los Angeles. Chef-Kurator Joes Segal erklärt: Wende Museum und "Sistema" sind eine ideale Kombination:
"Wir waren sofort interessiert. Das Ziel dieses Museums ist, die vielen Schichten von Geschichte zu zeigen. Das passte perfekt: eine wenig bekannte Geschichte, eine neue Perspektive auf sowjetische Geschichte. Wir haben es sofort geliebt."
Kritik mit Konsequenzen
Doch bei der Archivierung gibt es Herausforderungen: Das Material ist weitgehend ungeordnet und kommt aus unterschiedlichen Quellen. Im Museum gibt es nur wenige Mitarbeiter, die gut genug russisch sprechen, um Texte und Töne zu übersetzen und um Zusammenhänge herzustellen.
Das "Sistema" war mehr als eine Imitation der West-Hippies. Die Bewegung breitete sich schnell aus: von Kindern der Moskauer Elite mit Zugang zu Medien und Auslandsreisenden in die gesamte Sowjetunion und zum Rand der Gesellschaft. Wie Vögel zogen sie von einem Treffpunkt zum anderen, zu Clubs, Festivals und Sommercamps. Während im Westen Hippies an Bedeutung verloren, wurde das "Sistema" zur sichtbaren Kritik an der sowjetischen Regierung. Das hatte Konsequenzen: Exmatrikulierungen, Kündigungen, Gefängnisstrafen, Einlieferungen in die Psychiatrie und die Verpflichtung zum Armeedienst. Kurator Joes Segal:
"Weil die Kontrolle in der Sowjetunion strenger und die Bestrafung so viel härter war als im Westen, war es dort eine bewusst politische Entscheidung, Hippie zu sein und ihnen war das Risiko bewusst."
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zerfaserte auch deren Hippie-Bewegung. Manche Mitglieder zogen um nach Kalifornien. Das Wende Museum hofft, dass sie bei der Eröffnung der Sowjet-Hippie-Ausstellung dabei sein können.