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Sowjetische Kriegsgefangene
Andenken in Deutschland lebendig halten

Hunger, Kälte, Krankheiten – die gut fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen litten unter dem NS-Regime besonders hart, mehr als die Hälfte von ihnen starb. Eine Gemeinde in Niedersachsen, in der ein Kriegsgefangenenlager stand, arbeitet diese Geschichte jetzt auf.

Von Andrea Rehmsmeier |
Ein Mahnmal erinnert an die Rotarmisten, die im Lager mit dem Namen Stalag XD starben
"Hier sind 16.000 sowjetische Kriegsgefangene begraben" - In Wietzendorf wird der Rotarmisten gedacht, die hier während des Zweiten Weltkriegs im Lager starben (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
Der kleine Bahnhof liegt in milchigem Morgenlicht, die Jalousien der alten Station sind heruntergelassen. Personenverkehr gibt es hier schon lange nicht mehr. Das war nicht immer so, berichtet der Historiker Rolf Keller. Denn hier, nahe der Gemeinde Wietzendorf in der Lüneburger Heide, gab es während des Zweiten Weltkriegs eines der größten Kriegsgefangenenlager des Deutschen Reiches: "Stalag X D".
"Damals war hier reichlich Betrieb. Da kamen fast täglich hier Züge mit Gefangenen an. Erst mal rein ins Lager und dann Abtransport ins Arbeitskommando. Und wenn man weiß, dass die Gefangenen dann auch immer durch das Dorf getrieben wurden, meistens zu Fuß, dann haben das viele beobachtet und es ist auch viel diskutiert worden damals."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Spätes Gedenken - Sowjetische Kriegsgefangene in Russland und Deutschland.
Mehr als 55.000 Kriegsgefangene - die meisten aus der Sowjetunion - rollten ab Juni 1941 in Viehwaggons auf dem Bahnhof ein, informiert ein Gedenkstein neben den Gleisen. 16.000 von ihnen haben Wietzendorf nicht mehr lebend verlassen.
Auf ihren Spuren sind an diesem kühlen Frühlingsmorgen die Historiker Rolf Keller und Silke Petry unterwegs. Auch Uwe Wrieden ist dabei, der Bürgermeister von Wietzendorf. Ihre Mission: Das Andenken an die verschleppten Soldaten lebendig halten – und das, obwohl von dem Lager selbst heute nichts mehr zu sehen ist. Baracken und Wachttürme sind Vergangenheit. Rolf Keller zeigt auf einen Acker, der gerade am Seitenfenster vorüberzieht.
"Hier fängt jetzt eigentlich das Lager an. Geradeaus, das können Sie noch gar nicht sehen, bis zur nächsten Querstraße. Wo die Sonnenkollektoren stehen."
Wer waren diese Kriegsgefangenen, die in "Stalag X D" lebten und starben? Keller und Petry gehören zu den wenigen Experten, die das im Detail beantworten können. Sie haben im Auftrag der "Stiftung niedersächsische Gedenkstätten" über Jahre Fotos, Briefe und Tagebücher zusammengetragen und Zeitzeugen interviewt.
Viele der sowjetischen Soldaten kommen verwundet von der Front. Wer nicht direkt zum Arbeitseinsatz eingeteilt oder in ein Konzentrationslager abtransportiert wird, weil er Jude oder Politkommissar ist, der bleibt auf dem Gelände zurück. In den ersten Kriegsmonaten graben sich die Gefangenen zum Schlafen mit ihren Händen Löcher in die Erde. Vor Hunger essen sie die Rinde der Bäume. Ruhr, Typhus und Fleckfieber grassieren. Mit dem Wintereinbruch im Jahr 1941 beginnt das Massensterben.
Monument mit Hammer-und-Sichel-Emblem
Wer heute der kriegsgefangenen Rotarmisten gedenken will, der muss den Friedhof besuchen, der unweit des damaligen "Stalag X D" gelegen ist. Der ist erhalten und heute eine Gedenkstätte. Ein Besuch dort aber ist kompliziert, denn das ehemalige Wehrmachtsgelände ist inzwischen in die Hände der Bundeswehr übergegangen. Bei Truppenübungen ist die Zufahrt zum Haupteingang gesperrt. Dann kann der Friedhof nur von der Rückseite her über einen kleinen Waldweg betreten werden, der für Ortsunkundige kaum zu finden ist.
Was also kann die Gemeinde Wietzendorf tun, um den Gedenkstättenbesuchern den Zugang zu erleichtern? Das beschäftigt Bürgermeister Wrieden.
"Da müssen wir eigentlich alle im Kontext noch mal nachfragen: Bundesforst, Truppenübungsplatzkommendantur. Was darf man hier überhaupt?"
Den Blickfang des Friedhofsgeländes bildet ein verwittertes Monument mit Hammer-und-Sichel-Emblem, das die sowjetischen Militärs hier nach Kriegsende aufgestellt haben.
"Also hier sind die Gräber. Wir latschen über die Massengräber. Und können aber gar nicht erkennen, wo die sind. 16.000 Tote, die hier ruhen. Schön geordnet in Reih und Glied. Rechteckig angelegte Gräberflächen und Reihengräber."
Man muss Historiker sein wie Rolf Keller, um hier angesichts der unscheinbaren Rasenfläche die Gräuel des Kriegswinters 1941/42 zu erahnen. Mit Minustemperaturen bis 24 Grad und mit Leichenbergen, die sich schneller türmen als im gefrorenen Boden Gräber ausgehoben werden können. Keller winkt, ihm zu einer Gruppe von Grabsteinen zu folgen. Aufgestellt wurden sie von den Angehörigen der Rotarmisten, die aus Russland, Weißrussland und der Ukraine angereist sind.
"Lvev, Jabok Prokoviev, 1889 bis 1941. Gefangener Nummer 42119", liest der Historiker auf einem der Steine ab.
Erinnern an die Opfer des Lagers "Stalag X D"
"Ja, Nummer 42119, der ist erst im November 1941 hier eingetroffen und im Dezember schon gestorben. Lange in einem dieser Front-Stalags schon gewesen, bevor er hier hergekarrt wurde. Der kam sicher schon ziemlich fertig hier an."
Bürgermeister Wrieden ist der herzliche Empfang der Angehörigen ein persönliches Anliegen. Denn immer mehr von ihnen reisen jetzt nach Wietzendorf. Er selbst und andere Bürger begleiten ihre weit gereisten Gäste nach der Einladung ins Rathaus zum Friedhof. Nicht selten kommt es dann vor, dass Familiengeschichten erzählt, Fotos gezeigt und Kontaktdaten ausgetauscht werden. In der Gemeinde Wietzendorf soll dieser Austausch auch zukünftig weiter gefördert werden – über alle historischen Gräben und Sprachgrenzen hinweg. Solange es solche Begegnungen gibt, glaubt Wrieden, werden die Opfer des Kriegsgefangenen-Lagers "Stalag X D" nicht vergessen werden.
"Es wird eine offene Begegnungsstätte sein und die Angehörigen der russischen Kriegsgefangenen, die hier beerdigt sind, die werden regelmäßig und auch ganz selbstverständlich, von sich aus organisiert, hierherkommen und diese Gedenkstätte bereichern."