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Sowjetklischees und Ostkapitalismus

Ein blondes Mädchen von ungefähr zehn Jahren hockt im kleinen Schwarzen auf der Badewanne, zeigt viel Bein und zieht lasziv an ihrer Zigarette. Eine Sekretärin hat sich bis auf die blaue Unterwäsche ausgezogen und rekelt sich unbeholfen für den Fotografen auf einem Bürostuhl.

Von Carsten Probst | 20.06.2010
    Ein halbwüchsiger, obdachloser Klebstoffschnüffler grinst wie einer Irrer aus dem Bild. Eine junge Soldatin salutiert und streckt ihre Brust heraus und wirkt dabei so klischeehaft wie ein Fotomodell bei einem Fetisch-Contest.

    Sie sind die neuen Helden von Sergej Bratkovs Bildern, sie alle sind lebende Zitate von Bildern, die sie irgendwo einmal gesehen haben und denen sie, jeder auf seine Weise, anscheinend unbedingt ähneln wollen. Sie alle sind die Alltagsprotagonisten der neurotischen, nationalen Befindlichkeit in Bratkovs Heimat, der Ukraine. Wie sein Vorbild und Mentor Boris Mikhailov stammt Sergej Bratkov aus Kharkov, sie haben sogar zusammengearbeitet zwischen 1994 und 1997, als sie mit einigen anderen die sogenannte Fast Reaction Group gründeten. Sie verfassten Manifeste und veranstaltete performative Aktionen, mit denen sie das moskautreue Regime ihres Landes provozieren wollten. Mikhailovs bekannteste Bilder sind seine Fotoserien, für die er Obdachlose Szenen nachstellen oder als Aktmodelle posieren ließ. Die oft deformierten, von Ekzemen übersäten, kranken Körper, die Unbeholfenheit ihrer Handlung und die Grimassen der Akteure bohrten sich dabei in das Gedächtnis der Betrachter und legten sich wie eine Anklage über die kunsthistorischen Zitate in diesen Bildern. Anklage gegen die finsteren Übergangsgesellschaften des Postkommunismus, die in die völlige Haltlosigkeit geraten waren.

    Im Vergleich zu Mikhailovs wuchtigen Bilddramen wirken Bratkovs Fotoserien subtiler, unauffälliger, weniger aufwühlend auf den ersten Blick. Sagt der 1960 geborene Bratkov auch von sich selbst, dass er viel von Mikhailov gelernt habe, so hat er doch eine neue Ausrichtung für das gemeinsame Thema gesucht. Bei Bratkov verschmelzen Bildklischees und abgebildete Personen nahtloser miteinander. Man benötigt den zweiten Blick, um die Abgründe dieser Als-Ob-Gesellschaft zu erfahren, die sich hinter den ungelenken Posen der Protagonisten auftun. Anders als Mikhailov zielt Bratkov auf das Moment der Kollektivität, des kollektiven Körpers, wie er sagt. Die Formung dieser Kollektivität im Sowjetsozialismus ist verschwunden. Stattdessen wird sie im Postkommunismus von den Medienbildern übernommen. Seit dem Jahr 2000 hat er in intensiven Arbeitsphasen mehrere Serien geschaffen, die auszugsweise in den Deichtorhallen zu sehen sind: die "Soldiers", die "Kids", die "Sekretärinnen", die "Army Girls", die Seemänner oder die Klebstoffschnüffler. Herausragend auch eine frühe Serie von 1996 über Frauen mit Kinderwunsch, die in der Bildsprache eines nationalistisch gefärbten Sozialismus auf Toiletten sitzend Petrischalen mit dem imaginären Sperma der Könige Österreich-Ungarns vorzeigen, zu dem die Ukraine vor dem Ersten Weltkrieg teilweise gehörte.

    Sind diese Bilder dokumentarisch, sind sie inszeniert, oder sind sie nur die bisweilen schrillen Fantasien eines verrückten Einzelnen, wie man es Bratkov in seiner Heimat vorgeworfen hat? Zweifellos sind sie Zuspitzungen, zugleich jedoch gerade dadurch merkwürdig eingängig. Sie treffen sich mit einer surrealen Tradition, die von Diane Arbus mit ihren Bildern von geistig Behinderten im Westen begründet wurde und die auf irritierende Weise die Grenzüberschreitung zur Realität eingeübt haben. Realität und Fiktion, so abgedroschen das mittlerweile auch klingt, sind in Bratkovs Bilder so sehr miteinander verschmolzen, dass es für den Betrachter unerheblich geworden ist, sie zu trennen. Und das Beste ist, dass es dieser Zustand gar nicht so weit von der Realität entfernt ist.