Archiv

Von der Sowjetunion zur Nationalstaatlichkeit
Historikerin: "Im sowjetischen Fußball waren die ukrainischen Spieler überlegen"

Der russische Invasion in der Ukraine, lässt ein Kapitel in der ukrainischen Sportgeschichte wieder in neuem Licht erscheinen - die Zeit vom Zusammenbruch der Sowjetunion. Dabei spielten die Ukrainer im sowjetischen System die wichtigste Rolle, sagte die Historikerin Kateryna Chernii im Dlf.

Kateryna Chernii im Gespräch mit Jessica Sturmberg |
Gedenkplakat für Valeriy Lobanovskiy (Ukraine)
Walerij Lobanowskyj hat seit den 1970er-Jahren als Trainer von Dynamo Kiew versucht, Lücken im System zu nutzen, um den Fußball zu professionalisieren (imago/Maxim Sergienko)
Sport ist in der Ukraine seit dem Beginn der russischen Invasion nicht mehr möglich. Alle Sportlerinnen und Sportler sind vom Kriegsgeschehen betroffen. Manche sind geflohen und trainieren im Exil, andere nehmen als Soldatinnen und Soldaten sogar direkt am Kriegsgeschehen teil.
Der weitere Fortbestand ukrainischer Nationalmannschaften hat dabei eine existenzielle Bedeutung. Der Krieg verändert auch den Blick auf die Entstehung des nationalstaatlichen Sports in der Ukraine aus dem sowjetischen System heraus, vor etwas mehr als 30 Jahren.
Mit dieser Transformation im Fußball beschäftigt sich die Historikerin Kateryna Chernii. Sie forscht jedoch nicht nur über die Transformation an sich, sondern auch darüber, wie das kommunistische Erbe die Strukturen und die Menschen beeinflusst hat, vor welchen tiefgreifenden persönlichen und zugleich hochpolitischen Entscheidungen die Spieler damals standen.

Sowjetsportler waren keine Profis

Der ukrainische Fußball habe sich im Rahmen des sowjetischen Systems entwickelt, des proklamierten Nichtprofessionalismus, in dem Spieler keine Profis waren, sondern offiziell als Angestellte und Arbeiter einem anderen Beruf nachgingen, erläuterte Chernii im Dlf.
Als einer der ersten habe Walerij Lobanowskyj seit den 1970er-Jahren als Trainer von Dynamo Kiew versucht, Lücken in diesem System zu nutzen, um den Fußball zu professionalisieren und konkurrenzfähiger zu machen.
Der Trainer der ukrainischen Fußball-Nationalmannschaft, Walerij Lobanowskyj im Jahr 2001
Der Trainer der ukrainischen Fußball-Nationalmannschaft, Walerij Lobanowskyj im Jahr 2001 (picture-alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner)
Mit der Perestroika Ende der 80er-Jahre hat sich dann nicht nur das politische, sondern auch das Sportsystem verändert, und damit den Sportlern die Möglichkeiten für größere Professionalisierung eröffnet.

"Im sowjetischen Fußball hatten die ukrainischen Spieler eine Überlegenheit"

Neben seiner Tätigkeit als Chefcoach von Dynamo Kiew war Lobanowskyj in den 1970er- und 80er-Jahren auch drei Mal als Trainer der sowjetischen Nationalmannschaft. "Das heißt, dass viele Spieler von Dynamo Kiew auch zur Stammbesetzung der sowjetischen Nationalmannschaft gehörten", erklärte Chernii.
"Im sowjetischen Fußball hatten die ukrainischen Spieler eine Überlegenheit, indem sie den sowjetischen Fußball in der Welt fast alleine vertraten." Die Ukrainer spielten also im sowjetischen System und speziell in der sowjetischen Fußball-Nationalmannschaft eine wichtige Rolle.

Russischer Fußball mit besserer Ausgangsposition

Als die Sowjetunion zerfiel, gab es eine kurze Übergangsphase, in der eine Mannschaft der GUS-Staaten spielte. Allerdings fiel die Identifikation einiger Spieler mit diesem Team schwer, weil sie nicht wussten, für wen sie da eigentlich auf dem Platz standen.
Nach der Regelung der FIFA durften die ehemals sowjetischen Fußballspieler dann ihre Nationalmannschaft selbst aussuchen, was dann zu einem Konflikt vor allem zwischen dem ukrainischen und russischen Fußballverband um die ehemaligen sowjetischen Fußballspieler führte.
Die Spieler aus der Ukraine stellte es vor eine schwierige Entscheidung, denn für die war es nicht nur eine Frage der Identifikation, sondern auch eine der sportlichen Perspektive.
Zwar hatten sie einen maßgeblichen Anteil an sportlichen Erfolgen des Teams, aber ihre Nationalmannschaft stand ganz am Anfang. Denn Russland wurde als Nachfolgestaat der Sowjetunion erklärt und "bekam das Recht für die Teilnahme an der Qualifikation für die Weltmeisterschaft in den USA 1994 - und eben nicht die ukrainische Mannschaft", erklärt Chernii.
Auf Vereinsebene waren die größten Konkurrenten von Dynamo Kiew die Moskauer Mannschaften - und die seien vom Zentrum in Moskau unterstützt worden, erläutert die Forscherin. "Und das heißt es war auch nicht nur einer sportliche Konkurrenz." Moskau hatte dabei die besseren finanziellen Möglichkeiten und die besseren Kontakte, etwa zur FIFA.

Zerrissenheit auf dem Platz und im Herzen

Da war zum einen eine pragmatische, zugleich aber auch hochpolitische Entscheidung für die Spieler, erklärt Chernii: "Sie hatten ganz praktisch das soziales Bedürfnis nach Sicherheit, auch finanzieller Sicherheit - und überhaupt nach der Möglichkeit, überhaupt zu spielen - vor allem auch international. Das war in Russland gegeben, aber vorerst nicht in der Ukraine."
Portrait des Fußballers Alexej Michailitschenko (UdSSR) beim Fußball-EM-Finale 1988 in München
Der ehemalige sowjet-ukrainische Fußballer Oleksij Mychajlytschenko war der letzte Kapitän der sowjetischen und GUS-Nationalmannschaft 1992 bei der EM in Schweden (imago images/Magic)
"Es gab nicht viele, die sich für die russische Mannschaft entschieden haben", sagte Chernii. "Das waren diejenigen, die gesagt haben: Die Karriere ist kurz. Ich will Fußball spielen, ich will erfolgreich sein." Einer, der das lukrative Angebot abgelehnt hat, möglicher Kapitän der russischen Nationalmannschaft werden zu können, war einer der besten Fußballer der Sowjetunion: Oleksij Mychajlyčenko.
"Eben weil er sagt, wie kann ein Ukrainer seine Heimat verraten?", erläutert Chernii. "Man muss aber klar sagen, dass er schon am Ende seiner Karriere war, was es ihm so ein bisschen einfacher in seiner Entscheidung gemacht hat." Er selbst sagte über seine schwierige Phase der Identitätsfindung: "Wenn du auf das Spielfeld trittst, ist es besser zu wissen, wen du vertrittst“. 

Langer Prozess der Transformation - auch im Sport

Und so ist er nur ein Beispiel für viele seiner Landsleute, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion erst einmal klar werden mussten, wer sie eigentlich sind, sagt Chernii: "Ehemalige Sowjetmenschen? Russen? Es gab natürlich viele gemischte Familien. Es gab lange Jahre der Russifizierung."

Mehr zur Rolle des Sports im Ukraine-Krieg

Bei der Fußball-Europameisterschaft 1992 in Schweden etwa gab es noch keine ukrainische Nationalmannschaft. Aber es gab Ukrainer, die in der GUS-Nationalmannschaft integriert waren. "Die GUS-Mannschaft ist ein Beispiel dafür, dass sich das sowjetische System nicht sofort aufgelöst hat", so die Historikerin.
"Es hat eine Weile gedauert, bis alle diese Strukturen sich transformieren konnten, bis alle einzelne Republiken auch ihren eigenen Weg finden konnten."
Die Nationalmannschaft ist mit den Jahren sehr erfolgreich geworden, und habe damit auch zur Identifikation der ukrainischen Gesellschaft als Nation enorm beigetragen. Sie speist sich auch aus dem ebenso erfolgreichen ukrainischen Vereinsfußball.

Seit dem Kriegsausbruch stellt sich die Existenzfrage

Allerdings sei dieser nicht nachhaltig aufgestellt worden, da er eine große Abhängigkeit von Oligarchen aufweise, erklärt Kateryna Chernii.
Seit der Annexion der Krim 2014 habe die Bedeutung und auch Abgrenzung der Nationalmannschaft nochmal deutlich zugenommen, mit dem Ausbruch des Krieges auch im Rest des Landes stellt sich inzwischen eine ganz andere Frage: die der Existenz.
Auch wenn Ukrainer gerade alles andere als Fußball beschäftigt, sei die Chance auf die WM-Teilnahme dennoch wichtig - wegen ihrer Symbolik der Existenz der Ukraine.