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Sozial benachteiligte Kinder und Corona
"Es ist eine kleine Katastrophe"

Die Pandemie habe die Gesellschaft in zwei Gruppen geteilt, denn die Armen verlören komplett den Anschluss, sagte Pastor Bernd Siggelkow im Dlf. Gerade für Kinder aus bildungsfernen Schichten sei die Lage dramatisch, sagte der Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche".

Bernd Siggelkow im Gespräch mit Stefan Heinlein |
Pastor Bernd Siggelkow (li.) teilt mit während der Corona-Pandemie Buchspenden an bedürftige Familien aus.
Gründer und Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche", Pastor Bernd Siggelkow, geht davon aus, dass es in Deutschland bald 25 Prozent funktionale Analphabeten gebe (dpa / picture alliance / Markus Schreiber )
Kinder seien durch die Corona-Pandemie in der Gesellschaft am stärksten belastet, sagte der Gründer und Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche", Pastor Bernd Siggelkow, im Deutschlandfunk. "Es ist eine kleine Katastrophe für unsere Kinder", sagte er. "Wir haben Kinder, die jetzt noch schlechter sind, als vor dem Lockdown. Wir haben Erstklässer, die kaum in der Schule waren."
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Auch nebenbei würden die Kinder viel vor dem PC sitzen, irgendwelche Spiele zocken und litten unter Übergewicht, weil sie nicht mehr vor die Tür kämen, sagte Pfarrer Siggelkow. In Deutschland lebten knapp drei Millionen Kinder und Jugendliche in Armut.

"Bald 25 Prozent funktionale Analphabeten"

Vor der Pandemie kamen täglich bis zu 300 Kinder ins Kinder- und Jugendwerk "Arche" in Berlin-Hellersdorf - heute sind es wegen der Beschränkungen nur noch rund 40. "Die Kinder bei uns haben schon die Herausforderung, dass die Eltern mit ihnen kein Homeschooling machen können." Denn Homeschooling bedeute auch zu unterrichten, sagte der Pfarrer.
"Wir haben viele Kinder aus bildungsfernen Schichten, viele Kinder mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung und wir versuchen dann mit unseren Programmen virtuell zu Hause zu helfen", so Pfarrer Siggelkow. Das Hilfswerk gegen Kinderarmut stoße aber an seine Grenzen.
Die Pandemie habe dafür gesorgt, dass die Gesellschaft in zwei Gruppen geteilt werde, denn die Armen würden komplett den Anschluss verlieren. Er geht davon aus, dass es in Deutschland bald 25 Prozent funktionale Analphabeten gebe, sagte Siggelkow.

Lesen Sie hier das vollständige Interview.


Stefan Heinlein: Herr Siggelkow, 1994 haben Sie mit Ihrer Arbeit in Berlin-Hellersdorf begonnen, mittlerweile gibt es Archen an 27 Standorten in Deutschland, etwa 4500 Kinder haben Sie vor der Pandemie täglich mit kostenlosen Angeboten versorgt. Wie vielen Kindern geben die Archen heute ein Dach?
Bernd Siggelkow: Heute ist es ein bisschen schwierig, weil wir natürlich auch Beschränkungen haben, das heißt, wir haben im Moment nur die Möglichkeit gehabt, in unserer Haupteinrichtung in Berlin alle Kinder einmal in zehn Tagen zu sehen. Wir fahren dann allerdings zu ihnen nach Hause und machen Hausbesuche, aber es ist schon eine kleine Katastrophe für unsere Kinder in dieser Situation.

"Wenn der Lockdown mal zu Ende ist, werden wir erschreckende Zahlen haben"

Heinlein: Warum ist das eine Katastrophe?
Siggelkow: Unsere Kinder brauchen ja nicht nur ein kostenloses Essen und schulische Hilfen, weil sie ja schon vorher abgehängt waren und jetzt noch viel weiter abgehängt sind, sondern sie brauchen ihre sozialen Kontakte. Sie brauchen Menschen, die auch mal sehen, was vielleicht zu Hause los ist, ohne dass sie was sagen.
Man sieht ja ganz oft an den Symptomen von Kindern, wie sie gerade auftreten, vielleicht auch mal an blauen Flecken, dass vielleicht auch zu Hause etwas passiert, was glücklicherweise nicht so häufig ist, aber jetzt in dieser Zeit sieht man es halt nicht. Die Psychologen sagen gerade, sie haben einen Anstieg von 30 Prozent Kindern, die gerade in ihrer Behandlung sind, das sind allerdings Kinder, die von ihren Eltern gebracht werden.
Unsere Kinder würden da nie hinkommen. Und wenn der Lockdown mal zu Ende ist, dann werden wir erschreckende Zahlen haben, weil unsere Kinder dann eben auch an ihren Symptomen erkannt werden, was ihnen fehlt.
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Heinlein: Lernförderung, Hausaufgabenbetreuung oder schlicht ein warmes Mittagessen, das sind Teile Ihres Programms, der Arche. Was machen denn die Kinder nun mit ihrer Zeit, die sie zuvor bei Ihnen in den Archen verbracht haben?
Siggelkow: Sie haben schon die Herausforderung, dass ihre Eltern häufig gar nicht mit ihnen Homeschooling machen können, und Homeschooling ist ja nicht Hausaufgaben machen, sondern eben unterrichten.
Wir haben ganz viele Kinder aus bildungsfernen Schichten, wir haben viele Kinder mit Migrations- und Fluchterfahrung, das heißt, also auch da können die Eltern gar nicht unterstützen.
Wir versuchen dann eben, mit unseren Programmen virtuell den Kindern zu Hause zu helfen. Sie sitzen natürlich auch nebenbei viel vorm PC, zocken irgendwelche Spiele, werden immer dicker, weil sie eben gar nicht mehr rauskommen, und sie haben eine Menge Defizite, weil sie eben auf beengtem Raum auch zusammenwohnen. Sie kommen gar nicht mehr raus und haben auch oft Streit mit ihren Geschwistern. Ja, die Luft ist dünn nach oben.

"Die meisten haben ja eben keine Endgeräte"

Heinlein: Virtuelle Angebote, sagen Sie, eine digitale Arche, kann das funktionieren?
Siggelkow: Na ja, es kann ja nur begrenzt funktionieren. Wir versuchen dann über Facetime oder mit den digitalen Hilfsmitteln, die wir gerade haben oder die unsere Kinder haben, das Beste draus zu machen.
Die meisten haben ja eben keine Endgeräte. Wir haben bis jetzt ungefähr 500 Laptops deutschlandweit verteilt an die Kids, 150 Smartphones, damit sie überhaupt erreichbar sind, aber sie haben ja weder Drucker noch Scanner noch das, was die Infrastruktur braucht. Deswegen kommen sie oft und bringen ihren USB-Stick oder schicken uns eine PDF-Datei und holen dann auch jeden Tag ihre Aufgaben ab, die sie dann in der Schule abgeben müssen.
Es ist schon eine ganz schöne Herausforderung, aber es funktioniert ganz gut, weil wir auch schon Nachmittagsprogramme anbieten, so Livestreams, um die Kinder bei Laune zu halten, aber man muss natürlich immer wieder motivieren und sagen, jetzt kommt und guck dir’s an, mach mit, weil die Luft bei ihnen natürlich auch draußen ist.
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Heinlein: Könnten denn Schnell- oder Selbsttests funktionieren, Ihnen helfen, um von diesen digitalen Angeboten ein wenig wieder wegzukommen und wieder analog in den Archen selbst Ihre Förderprogramme aufzulegen?
Siggelkow: Na ja, natürlich wäre das eine Möglichkeit, mit Tests die Kinder wieder in die Arche kommen zu lassen, allerdings ist jetzt nicht nur die Arche die Herausforderung für die Kinder, sondern das ganze Schulsystem.
Ich meine, wir haben seit zwölf Monaten ein System, das kollabiert. Die Ministerien haben es nicht geschafft, die Kinder einmal in der Woche oder zweimal in der Woche in die Schule zu schicken, wo man eben auch ihre Symptome sehen könnte, wo man sie entsprechend fördern könnte, wo man ihnen helfen könnte, auch zu sagen, okay, das musst du jetzt zu Hause ein bisschen besser betrachten, weil die Eltern, wenn sie drei, vier Grundschulkinder haben, können gar nicht das Ganze schaffen.
Natürlich wäre es gut, wenn mehr Kinder in die Arche kommen könnten, aber auf der anderen Seite müssen wir die Pandemie eindämmen. Wir müssen das Beste draus machen, aber man muss eben auch gucken, wie kann man es besser machen. Ich finde, man sollte jetzt die Lehrer richtig impfen, alle Erzieher impfen, die Arche-Mitarbeiter impfen, damit die Chancen dann größer sind, dass auch mehr Kinder kommen können, aber darüber denkt kaum jemand nach.

"Wir haben Erstklässler, die kaum in der Schule waren"

Heinlein: Seit zwölf Monaten ein System, das kollabiert, haben Sie gerade gesagt, Herr Siggelkow. Was sind denn die dauerhaften Folgen dieser Entwicklung, die Sie gerade mit diesen Worten beschreiben?
Siggelkow: Die Folgen sind ja schon da. Unsere Kinder, die vorher abgehängt waren, sind jetzt noch weiter weg. Wir haben teilweise Kinder, die sind jetzt noch schlechter in der Schule, als sie vor dem Lockdown waren, weil sie überhaupt keine Förderung erfahren haben. Das heißt, die Kinder werden, wenn sie wieder richtig Schule haben, dadurch, dass sie nicht gefördert sind, noch viel weiter weg sein als die, die zu Hause gefördert werden.
Wir haben teilweise Erstklässler, die ja kaum in der Schule waren, die ihre Lehrer gar nicht mehr kennen, die die Grundkenntnisse gar nicht vermittelt bekommen. Nun sagt man, okay, Eltern können ihren Kindern auch das Alphabet weitergeben und das Einmaleins, aber es fehlt ihnen ja die gesamte Struktur. Wenn diese Kinder mal in die zweite oder dritte Klasse kommen, dann fehlt ihnen so viel, dass sie gar nicht mehr mitkommen, das heißt also, sie werden die Verlierer auf Dauer sein und in Zukunft gar nicht mehr mitkommen.
Und wenn man sagt, okay, sie sollen die Klasse wiederholen, dann werden schon wieder die bestraft, die vorher schon abgehängt waren, und das ist nicht die Lösung, weil es kommen ja so viele Kinder nach, dass man das gar nicht auffangen kann.
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Heinlein: Vor diesem Hintergrund, den Sie gerade beschreiben, Herr Siggelkow, hat die Politik in der Abwägung Gesundheitsschutz kontra soziale und schulische Teilhabe von Kindern aus Ihrer Sicht zu sehr in die falsche Richtung tendiert? War es dauerhaft ein Fehler, Schulen und eben Fördereinrichtungen wie die Arche zu schließen?
Siggelkow: Ich glaube, das sind jetzt zwei unterschiedliche Ministerien, einmal das Gesundheitsministerium und einmal das Bildungsministerium, und wenn die richtig gearbeitet hätten, dann würde es ja funktionieren. Das Bildungssystem setzt sich ja nicht unbedingt nur mit dem Gesundheitswesen auseinander, das heißt aber, die Ministerpräsidenten haben ja den Kopf in den Sand gesteckt.
Ich hab schon vor Monaten vorgeschlagen, dass man jetzt endlich mal die Lehramtsstudenten ins Schulsystem integriert, um die abgehängten Schüler zu fördern. Das könnte man sehr gut machen. Mecklenburg-Vorpommern hat diesen Vorschlag ja aufgegriffen und macht das jetzt, alle anderen Bundesländer machen das nicht. Die Frage ist, warum macht man’s nicht. Weil man in seinem Föderalismus aufgeht und sagt, na ja, wir machen, was wir wollen, aber das, was sie wollen, funktioniert einfach nicht und die Kinder bleiben auf der Strecke.
Sie sind nicht da, wo sie hingehören, nämlich in die Mitte der Gesellschaft, sondern man hat das Gefühl, sie sind keine Wähler, und deswegen macht man nichts für sie.

"Wir haben jetzt auch Eltern, die ihre Jobs reduzieren müssen"

Heinlein: Wäre es also gut gewesen, die Fördereinrichtungen offen zu lassen, auch wenn das Risiko für die Kinder und für die Betreuer da gewesen wäre? Noch vor Monaten gab es nicht genügend Impfungen.
Siggelkow: Na ja, ich glaube, dass nicht das das große Problem war. Das große Problem war, dass man einfach zugemacht hat, man hat alles zugemacht und gar nicht nachgedacht. Hätte ich jetzt fünf Kinder pro Klasse einmal in der Woche in die Schule geholt die letzten zwölf Monate während dem ersten und zweiten Lockdown, dann wäre es nicht so ein großes Problem.
Man hat ja auch diese ganzen Risikoeindämmungen gehabt. Man hätte das umsetzen können, man hätte schon früher Menschen ins Schulsystem holen können, die die Kinder auch virtuell unterstützen, vor allem die Eltern, die häufig den Kopf in den Sand stecken.
Und wir haben jetzt auch eine Mittelschicht von Eltern, gerade von Müttern, die ihre Jobs reduzieren müssen, um ihre Kinder zu fördern. Das heißt, auch die werden ganz große Probleme haben, wieder in ihren Job zu kommen, und dadurch wird die Armut noch größer.
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Heinlein: Wenn Sie als Pastor, der ja sehr eng ein Ohr an der Basis hat, auf die Gesellschaft guckt insgesamt, welche Folgen hat die Pandemie für den Zustand unserer Gesellschaft? Beobachten Sie ein Mehr, ein Miteinander und Solidarität, oder kämpft in dieser Krise letztendlich jeder Einzelne, jede Gruppe vor allem für sich selbst?
Siggelkow: Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass die Gesellschaft sich in zwei Gruppen geteilt hat. Die einen werden egoistischer und die anderen solidarischer. Und jetzt ist die Frage, welche Gruppe ist größer. Die Gruppe der Verlierer wird immer größer, das heißt, bis jetzt ungefähr 15 Prozent der 15-Jährigen sind in Deutschland funktionale Analphabeten.
Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Jahren 25 Prozent Analphabeten haben, funktionale Analphabeten, die können dann gerade mal ihren Namen schreiben, aber auch nicht viel mehr, weil wir eben diese Generation der Verlierer selbst gezüchtet haben auf Deutsch gesagt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.