"Ich war nie wieder in dem Haus drin. Nee, nee. Es sah auch ein bisschen anders aus damals. Erstens gab es einen Vorgarten anstelle eines Hintergartens. Ein bisschen wild."
Stephan Hilsberg steht 30 Jahre danach vor dem Pfarrhaus in Schwante nördlich von Berlin. In der DDR war er kirchlich-friedensbewegt. Und im Oktober 1989 war er dabei, als hier Bürgerrechtler die Sozialdemokratische Partei der DDR gründeten, kurz SDP. Später wurde daraus die SPD in Ostdeutschland.
"Dann kamen wir in diesen wirklich typisch evangelischen, protestantischen, norddeutschen Gemeindesaal. Mit Kartoffelsalat und Bockwurst, die gerade angerührt wurden, und trockenem Kuchen. Also insofern: War typisches evangelisches Milieu."
Theologen mit demokratischer Praxis
Initiatoren der Parteigründung waren die evangelischen Pfarrer Martin Gutzeit und Markus Meckel. Beide entwickelten seit dem Frühjahr 1989 den Gründungsaufruf. Der kursierte dann seit August des Jahres vor allem in Oppositionskreisen unter dem Dach der Kirche. Markus Meckel:
"Warum eine sozialdemokratische Partei? Weil die Sozialdemokraten die älteste Partei in Deutschland sind. Die im 19. Jahrhundert aus Untertanen, aus einer unterdrückten Klasse, Subjekte von Politik gemacht haben. Genau das wollten wir für die Situation der DDR. Und hier mit dieser Gründung zogen wir gewissermaßen eine Hand aus dem Parteiabzeichen der SED und machten deutlich: Ihr seid eine diktatorische kommunistische Partei. Sozialdemokraten beginnen etwas zu ändern."
Theologen gehörten zu den wenigen Menschen im Sozialismus, die eine gewisse demokratische Praxis hatten: Mit den Synoden und den Gemeindekirchenräten war auch die evangelische Kirche in der DDR über Gremien organisiert, die einer parlamentarischen Demokratie ähnlich sind.
"In der DDR war die Kirche, insbesondere die protestantische Kirche der einzige gesellschaftliche Raum, wo ein offener Diskurs gepflegt wurde," sagt Meckel. "Wo man sich mit verschiedenen geistigen Theorien auseinandersetzte. Ich habe Theologie studiert an diesen kirchlichen Hochschulen. Und wo konnte man sich sonst mit dem deutschen Idealismus, mit Hegel, Kant und auch kritisch mit Marx auseinandersetzen? Ich hab meine Examensarbeit über Nietzsches Zarathustra geschrieben. Und es gab immer eine offene Debatte. Das heißt, ein geistiger Ort der Freiheit."
Wahl-Niederlage 1989
In der Dynamik des Herbstes 1989 bekam die neue Partei viel Zulauf. Sie lag sogar ganz vorn in den Umfragen vor der ersten demokratischen DDR-Parlamentswahl. Zur Abstimmung am 18. März 1990 aber sah das Ergebnis dann anders aus: Die Ost-Sozialdemokraten erreichten nur 22 Prozent der Stimmen. Es gewann die "Allianz für Deutschland" mit Unterstützung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. 48 Prozent der Wähler stimmten für dieses Bündnis aus der alten DDR-Blockpartei CDU, dem Demokratischen Aufbruch und einer Kleinpartei. Markus Meckel erinnert sich:
"Es war zentral, dass Kohl natürlich als agierender Kanzler sagte: Wir machen die Währungsunion, ihr kriegt die D-Mark. Das heißt: Ich habe es selber erlebt, wie ein älteres Ehepaar zu Willy Brandt sagte: Eigentlich würden wir ja gerne Sie wählen. Aber jetzt müssen wir die CDU wählen, denn die hat das Geld."
Die Christdemokraten setzten dann auch die schnelle deutsche Wiedervereinigung durch – während die SPD damals für ein langsames Tempo plädierte. Hans Misselwitz, auch er engagiert in kirchlichen Friedenskreisen in der DDR und später viele Jahre Büroleiter des stellvertretenden Parteivorsitzenden Wolfgang Thierse, sieht darin die Wurzel der ostdeutschen SPD-Schwäche:
"Das war von der Erfahrung der Arbeiterschaft in den Betrieben ein viel zu langer Weg. Die sagten sich: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wir müssen also schnell durch. Insofern war die Sozialdemokratie im Osten schon von Geburt her eine Partei, die in dieser traditionellen gesellschaftlichen Verankerung nicht existierte."
Versäumnisse
Statt der Sozialdemokratie ist mittlerweile im atheistisch geprägten Osten die AfD besonders stark. Deren Klientel sind zum großen Teil leistungsorientierte Aufsteiger, die sich nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft ohne fremde Hilfe durchboxten. Die Flüchtlingshilfe hätten viele dieser Menschen als falsche Barmherzigkeit abgelehnt, sagt Misselwitz, selbst ausgebildeter Theologe. Die SPD habe versäumt zu erklären, dass es um Solidarität gehe:
"Die Sozialdemokratie setzte immer darauf, dass Menschen sich durch Arbeit ihr Leben gestalten. Nach Prinzipien eines Solidaritätsgedankens, der auf Gegenseitigkeit beruht. Ich geb was rein und krieg was wieder. Das ist jetzt nicht der Barmherzigkeitsgedanke: Ich gebe was ab und will gar nicht wissen, was ich dafür wieder bekomme. Und in dieser Schicht, die im Grunde die Aufsteigerschicht war in Ostdeutschland, in dieser Schicht ist diese Art von Common Sense nicht ausgebildet worden."
Im Seniorenkreis in der evangelischen Gemeinde Berlin-Nikolassee: "Ich schlage vor, wir singen jetzt die ersten zwei Strophen. Hören dann auf die Losung des heutigen Tages." - Gesang: "Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser grünen Sommerszeit …"
Pfarrer ist hier Steffen Reiche, einer der SDP-Mitgründer von 1989. Als erster Brandenburger Landesvorsitzender holte er Manfred Stolpe in die Partei, damals ein bekannter Funktionär der evangelischen Kirche. Stolpe blieb zwölf Jahre Ministerpräsident, wurde danach noch Bundesverkehrsminister. Anderswo in Ostdeutschland vermisste Reiche prägende Persönlichkeiten in seiner Partei.
"In diesen Ländern hat man eben leider versäumt, es nicht vermocht, anders leider als die CDU, charismatische Personen an die Spitze zu wählen, die Menschen für eine Politik hätten begeistern können. Das ist uns in Brandenburg mit Manfred Stolpe gelungen."
Manche Sozialdemokraten kritiseren auch, der SPD-Bundesvorstand habe jahrelang keine Strategie für die ostdeutschen Länder gehabt. Steffen Reiche aber will die Hoffnung nicht aufgeben.
"Auch die Sozialdemokratie kann wieder auferstehen. Wir haben in nördlichen Ländern, in Dänemark das durchaus erlebt."