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Sozialdemokratin mit gutem Gespür für das konkret Machbare

Zwei Mal scheiterte Renate Schmidt bei dem Versuch, als Spitzenkandidatin der bayrischen SPD Edmund Stoiber aus dem Amt zu vertreiben, doch sie nahm die Niederlagen erhobenen Hauptes hin. Als Gerhard Schröders Familienministerin kam ihr ihre pragmatische Grundhaltung zugute.

Rainer Burchardt sprach mit Renate Schmidt | 23.02.2012
    Sprecherin: Im rauen politischen Klima Bayerns musste sie manchen Spott über sich ergehen lassen. Ihre männlichen Kontrahenten von der CSU, politisch derb und rhetorisch Bierzelt-gestählt, erklärten sie einst zur Krampfhenne oder zum politischen Mäuschen. Zwei Mal scheiterte sie in den 90er-Jahren bei dem Versuch, als Spitzenkandidatin der bayrischen Sozialdemokratie den damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber aus dem Amt zu vertreiben, doch sie nahm die Niederlagen erhobenen Hauptes hin: Aufzugeben war ihre Sache nie. Die Rede ist von Renate Schmidt, der Sozialdemokratin aus dem fränkischen Nürnberg, die 1943 in Hanau geboren wurde. Dass sie eine pragmatische Grundhaltung und ein gutes Gespür für das konkret Machbare habe, wie es später über sie hieß, ließ sie schon früh erkennen: Bereits als Jugendliche eckte sie an und ging selbstbewusst ihren eigenen Weg, etwa als sie 1961, ein Jahr vor dem Abitur, vorzeitig das Gymnasium in Fürth verlassen musste, weil ihre Schwangerschaft im Alter von 17 Jahren zur Schande für ihre Schule erklärt wurde. Damals zeigte sie bereits jenen Charakterzug, der ihr später immer wieder attestiert wurde: emotionale Robustheit. Bevor sie in den 70er-Jahren in die SPD eintrat, war sie Programmiererin bei "Quelle" und konfliktbereite Betriebsrätin beim Fürther Versandhaus. Dann wurde sie in den Deutschen Bundestag gewählt und war von 1990 bis 1994 dessen Vizepräsidentin. Bundeskanzler Gerhard Schröder holte sie 2002 als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in sein zweites Kabinett. 2009 verzichtete sie auf eine erneute Kandidatur und zog sich aus der aktiven Politik zurück. Renate Schmidt ist verheiratet und hat drei Kinder.

    Westdeutsche Nachkriegszeit, frühe Schwangerschaft, jugendlicher Lebensoptimismus

    Renate Schmidt: "Mein Mann hat mich geliebt, ich habe meinen Mann geliebt, wir wollten so und so heiraten."

    Rainer Burchardt: Frau Schmidt, man darf es ja sagen, Sie sind Jahrgang 1943, und als der Krieg zu Ende war, waren Sie zwei Jahre, ich vermute mal, Sie haben davon nicht allzu viel mitbekommen.

    Schmidt: Nein, nichts.

    Burchardt: Aber Ihr Elternhaus. Ihr Vater stammt aus Prag und Ihre Mutter ist eine Bayerin gewesen.

    Schmidt: Nein, meine Mutter ist aus Siebenbürgen.

    Burchardt: Siebenbürgen. Also im Grunde genommen kann man schon sagen, wie würde man heute sagen: östlicher Migrationshintergrund oder so etwas.

    Schmidt: So kann man es ungefähr sagen, oder ein typisch mitteleuropäisches Schicksal. Meine Großmutter ist in Prag geboren und die hat also ihre Heimatstadt bis 1940 nicht verlassen und hatte in dieser Zeit drei Staatsbürgerschaften am selben Ort, zuerst war sie Österreicherin, dann war sie Tschechin und dann war sie Deutsche.

    Burchardt: Wie haben Sie denn die Nachwirkungen in der Familie, die Nachwirkungen des Krieges in der Familie erlebt als kleines Kind, als aufwachsender Teenager?

    Schmidt: Also es war so: Mein Vater kam aus dem Krieg zurück und zwar mit der festen Überzeugung, dass Krieg das Entsetzlichste ist, was es überhaupt gibt. Bei uns ist zu Hause über den Krieg geredet worden, es ist auch geredet worden über das Schreckliche, was da alles stattgefunden hat, und mein Vater ist einmal zu einer Demonstration gegangen, nämlich 1956/57, als gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik da doch gewisse Widerstände zumindest da waren, und ist dann – in meinen Augen dann rückblickend blödsinnigerweise – nicht mehr zum Wählen gegangen, weil er gesagt hat, dass er niemandem mehr was glaubt, Adenauer, der gesagt hat, dass ihm die Hand abfallen soll, wenn jemals wieder ein Deutscher ein Gewehr in die Hand nimmt, hat gesagt, er glaubt nichts mehr und ist nicht mehr zum Wählen gegangen. Das ist die eine Seite. Die zweite ist eine, dass die Geschwister meiner Mutter, die in Siebenbürgen geblieben sind – sie ist also ganz normal ausgereist, weil mein Vater halt kriegsbedingt dann in Hanau stationiert war und in Coburg meine Großmutter bei ihrem anderen Sohn gelebt hat –, und die Geschwister, die aber dort geblieben sind, die sind teilweise verschleppt worden nach Sibirien von den Russen. Eine Tante kam zurück zu uns, ist also dann nach der Gefangenschaft nach Westdeutschland ausgewiesen worden, und ihre Kinder waren nach wie vor in Siebenbürgen, die hat sie erst 1960 oder 1961, dann als junge Erwachsene praktisch, wiedergesehen und die ganze Zeit nicht. Was das also für eine Mutter bedeutet, wenn der Mann gefallen ist und die Kinder dann praktisch allein bei Onkel und Tanten aufwachsen, das ist also in meinen Augen schon sehr schlimm.

    Burchardt: Ja, hat denn das – wenn man das so hört, die schrecklichen Kriegserlebnisse, wer hat die nicht gehabt, der damals gelebt hat, und das, was Sie über Ihren Vater sagen, der vielleicht, übertrieben formuliert, zum Pazifisten geworden ist –, hat das für Sie auch die politische Sozialisierung im Wesentlichen beeinflusst?

    Schmidt: Ich muss sagen: Ich war über lange Zeit hier der Meinung, dass also wirklich alle Konflikte dieser Welt sich ohne Krieg lösen lassen würden. Ich sehe das heute differenzierter, aber das ist eher ein Denkprozess aus den letzten 20 Jahren, und so die ersten Jahre und auch die Zeit der jüngeren Erwachsenen, die war ich auch sehr pazifistisch geprägt und das ist sicherlich also durch meinen Vater und auch durch diese Erlebnisse insgesamt gekommen. Also das hat mich schon geprägt, und dann war es so, dass der erste Chef meines Vaters, der eine Firma dann in Coburg gegründet hat, Jude war, und die kannten sich aus Prag, und ich kam also da auch sehr bald mit der jüdischen Geschichte und mit der Situation der Juden in Deutschland, nicht nur während der Nazizeit, sondern also auch davor, kam ich also in Berührung. Und dann habe ich mal auch sehr bald, da war ich vielleicht 14, 15, das "Tagebuch der Anne Frank" gelesen, und da sind mir solche Tränen der Wut gekommen, also das waren so die prägenden Ereignisse, die mich auch politisch in einem hohen Ausmaß motiviert haben.

    Burchardt: Vielleicht noch mal ganz zurück zu Ihrem Vater: In Ihrer Vita ist zu finden, dass Ihr Vater aus einer Prager Offiziersfamilie entstamme. Hat er sich denn von dieser Familie losgesagt? Denn auf der anderen Seite haben Sie ja immer doch einen sehr engen Kontakt auch sozusagen zu den Ahnen Ihrer Familie gehalten.

    Schmidt: Also die Familie meines Vaters, das waren entweder Juristen oder Offiziere, zumindest in dem auslaufenden 19. Jahrhundert und ...

    Burchardt: Ihr Vater war das schwarze Schaf?

    Schmidt: Mein Vater war das schwarze Schaf, der war der, der kein Abitur gemacht hat im Gegensatz zu allen anderen, also mein einer Onkel war Jurist und Doktor der Jurisprudenz und so, also er war das schwarze Schaf, weil er kein Abitur gemacht hat. Er hat wahnsinnig gut gezeichnet, er war künstlerisch begabt und ist dann, aus welchen Gründen auch immer, die ich also heute nicht mehr weiß und auch nicht mehr rauskriegen kann, ist er also dann praktisch Kürschnermeister geworden, also hat was mit Pelzen zu tun gehabt.

    Burchardt: Sie sagten, Ihr Vater habe kein Abitur gemacht. Sie haben auch kein Abitur gemacht oder keins machen dürfen, ...

    Schmidt: Ich habe auch keins, ja.

    Burchardt: Sie sind in der, ja, etwas muffigen Adenauerzeit aufgewachsen, mit 17 wurden Sie schwanger und durften nicht länger bei der Schule bleiben. Was war denn da passiert?

    Schmidt: Ja, das wäre damals vollkommen unmöglich gewesen. Ich war ein Jahr vor dem Abitur. Es wäre auch organisatorisch und finanziell nicht gegangen, also ich hätte nicht bleiben können, auch von mir aus nicht bleiben können. Aber das ich nicht habe bleiben dürfen, ...

    Burchardt: Das verstehe ich nicht. Wieso organisatorisch nicht?

    Schmidt: Na ja, wieso? Meine Mutter war erwerbstätig, meine Schwiegermutter war erwerbstätig, das Kind wäre da gewesen. Also eine Möglichkeit, das Kind irgendjemandem in die Hand zu drücken und in die Schule zu gehen und kein Geld zu verdienen, also das war nicht vorstellbar.

    Burchardt: Wenn man jetzt den weiten Bogen schlägt in die wirklich unmittelbarste Vergangenheit, könnte man sagen: Unter dem Regime von Renate Schmidt als Familienministerin hätte es damals wahrscheinlich Möglichkeiten gegeben.

    Schmidt: Es hat späterhin Möglichkeiten gegeben und heute sind die also für eine junge Frau in meiner Situation deutlich besser, was die Frage des Organisatorischen betrifft. Allerdings – wenn ich mir vorstelle, dass ich damals, 1961, noch im fünften Monat schwanger zwei Stellenangebote hatte, als abgebrochene Abiturientin und sonst gar nichts, zwar mit vergleichsweise guten Mathenoten, aber im Prinzip konnte ich null und nichts vorweisen, ...

    Burchardt: Ich hoffe, Ihnen damit nicht zu nahe zu treten, aber: Wie fühlt man sich als 17-Jährige Fast-Abiturientin, die fast am Ziel ist, ein Kind bekommt und dann von der Schule muss?

    Schmidt: Wunderbar.

    Burchardt: Das glaube ich Ihnen nicht.

    Schmidt: Doch. Ich hatte Angst, es meiner Mutter zu erzählen. Meine Eltern haben großartig reagiert. Ich hatte Sorgen schon natürlich ein Stückchen, wie es weitergeht, aber wir waren von einem solch gnadenlosen Optimismus. Mein Mann hat damals, also mein Tanzstundenherr und späterer Mann, der Vater dieses ersten und auch der zwei weiteren Kinder, hat damals ein Praktikum in einem Architekturbüro gemacht. Er hatte Abitur, war 20, ich war 17. Und der hat 150 Mark dort im Monat bekommen, und wir haben uns ausgerechnet, dass man mit diesen 150 Mark eigentlich blendend über den Monat kommt. Das war zwar eine reine Illusion, aber wir waren also von einem irrwitzigen Optimismus, und wie gesagt, die Familie hat zu uns gestanden, mein Mann hat mich geliebt, ich habe meinen Mann geliebt, wir wollten so und so heiraten, wir kannten uns bereits seit drei Jahren, als wir dann in dieser Situation waren, und es war also eigentlich kein Problem. Das war ein großes Glück, dass es so gekommen ist für mich, weil ich dadurch in einen Beruf hineingeraten bin, den ich normalerweise wahrscheinlich gar nicht gekannt hätte und freiwillig auch gar nicht gewählt hätte. Ich wäre wahrscheinlich Lehrerin geworden und hätte einen ganz üblichen Lebensweg eingeschlagen. Dann wäre mein Mann irgendwann mit dem Studium fertig gewesen und dann hätte ich aufgehört, weil die Kinder da waren, und dann wäre es also ... Was weiß ich, was gekommen wäre.

    Wege in die Sozialdemokratie, temporäre Nähe zur DKP

    Schmidt: "Ich habe ja auch eigentlich niemals vorgehabt, irgendwann hauptberufliche Politikerin zu werden."

    Burchardt: Ist denn Ihr Berufsleben für Sie auch eine Motivation gewesen, zu sagen, jetzt gehe ich in den Betriebsrat, jetzt gehe ich in die Gewerkschaft und jetzt gehe ich in die SPD? Bis zur SPD hat es ja ein bisschen gedauert, bis 1972.

    Schmidt: Nein, nein, ich wollte schon 1962. Da habe ich mich mal mit meinem Mann gestritten, und da dachte ich mir, jetzt werde ich ihm mal zeigen, was ich für ein großer, selbstständiger, eigenständiger Mensch bin und wollte damals in die SPD eintreten und bin dann in Fürth dort in die Geschäftsstelle der SPD gegangen und wollte eintreten und dachte, jetzt kommen jubelnde Menschen, rollen mir einen roten Teppich aus und ich werde dann da feierlich empfangen. Und da stand ich also da in einem Büro, eine Dame tippte auf der Schreibmaschine, in meinen Augen eine ältere Dame, die wird vielleicht so 35 gewesen sein.

    Burchardt: Sie waren damals 19.

    Schmidt: Ich war damals, ja, knapp 19, und dann habe ich mich geräuspert, und dann hat sie endlich aufgeschaut und hat mich so von oben bis unten angeschaut und hat gesagt: "Was willst denn du da?" Und das hat mich schon sehr gestört.

    Burchardt: Jusos gab's da nicht, oder?

    Schmidt: Und dann habe ich gesagt: "Ich möchte gerne in die SPD eintreten." Und jetzt dachte ich, jetzt kommt irgendeine jubelnde Masse, aber sie kam auch dann nicht, da schaut sie mich wieder von oben bis unten an und hat gesagt: "Dann kommst wieder, wenn du 16 bist."

    Burchardt: Und als Sie sich geoutet haben als dann doch drei Jahre Ältere, hat nicht geholfen?

    Schmidt: Nein, das habe ich nicht gemacht, ich habe auf dem Absatz ...

    Burchardt: Sie waren empört?

    Schmidt: Ich war empört, ja, mir als einer erwachsenen Frau, Alleinverdienerin, Mutter, eine Tochter damals. Ich habe das unmöglich gefunden und bin also dann wieder gegangen und aufgrund dann auch der beruflichen Umstände, zweites Kind kam und man hatte viele andere Probleme und nicht jetzt als Erstes, in eine Partei einzutreten, hat es dann zehn Jahre gedauert, bis es dann tatsächlich dazu gekommen ist.

    Burchardt: Als Mann darf man heutzutage so was ja auch fragen, wir sind ja inzwischen auch etwas emanzipiert: War das auch so ein bisschen Konkurrenzdenken vielleicht damals im Büro dieses SPD-Ortsverbandes, dass da jemand ... da kommt ein fesches junges Mädel und will uns hier auf...

    Schmidt: Nein, nein. Ich sah sehr jung aus und ich glaube, die hat wirklich gedacht, ich bin noch keine 16.

    Burchardt: Haben Sie Ihren Kindern eigentlich jemals ... oder haben die auch gefragt, Mutti, wie ist das denn damals eigentlich gewesen, du musstest mit 17 von der Schule, ist ja auch nicht so einfach gewesen, dann habt ihr geheiratet, unsere Familie ist ja richtig ...

    Schmidt: Ach, das war eigentlich Bestandteil der Familiengeschichte, also ich musste denen das jetzt nicht irgendwie reindrücken und so, und die haben ja dann also gemerkt, dass wir andere Lösungsmöglichkeiten für viele der familiären Probleme haben als die Mehrheit. Also ich bin in die Datenverarbeitung gekommen, also das war damals ein ganz neuer Berufszweig überhaupt. Es gab kein Studium, mein Glück, es gab keine geregelte Berufsausbildung, mein Glück, sondern man hat "Learning by Doing" gemacht, und ich bin heute eigentlich ein, wie hat es mal jemand gesagt, ein Museumsstück in der Datenverarbeitung, eine Pionierin der Datenverarbeitung, weil ich kann noch Assembler programmieren.

    Burchardt: Doch der Atari ist nicht mehr da.

    Schmidt: Selbst die Piraten kriegen da große Augen, wenn man so was also erzählt.

    Burchardt: Würden Sie sich denn heute noch als Freak bezeichnen?

    Schmidt: Nein, nein, nein. Irgendwann hat man das Prinzip verstanden, weiß, wie es geht, und dann ist das nicht mehr so interessant. Ich bin absolut heute nicht mehr besonders bewandert, wie das Ganze geht, muss mir da also von meinen Enkelkindern lernen lassen, wie das Ganze funktioniert und kann es auch meine ... Aber ich begreife es dann sehr schnell, weil ich weiß, was dahinter ist, also was da hinten drin ist. Also man hatte ja früher in den Anfangsjahren sehr viel engere Beziehungen zum, wie sagte man damals noch, Elektronenhirn, musste also mit Kernspeicher sehr sorgsam umgehen, weil das also sehr wertvoll war und die Computer keine sehr große Speicherkapazität hatten.

    Burchardt: Das waren ja Schrankwände damals.

    Schmidt: Ja, Wahnsinn, wahnsinnige Größen. Mit Lochkarten haben wir unsere Programme gelocht und Ähnliches. Also wenn man das erzählt, ist man also im Prinzip tatsächlich ein Fossil, ein Museumsstück.

    Burchardt: Aber liebe Frau Schmidt, hätten Sie dann nicht eigentlich die SPD mal ein bisschen früher auf Trab bringen können? Denn ehe die EDV in der Baracke damals in Bonn noch Einzug gehalten hat, hat es ja noch ganz schön lange gedauert.

    Schmidt: Ich habe mich manchmal geärgert.

    Burchardt: Eigentlich war die SPD am Spätesten dran.

    Schmidt: Das weiß ich jetzt nicht genau, ob sie am Spätesten dran war, ich weiß nur, dass ich mich manchmal geärgert habe, dass es bei denen manchmal so schwerfällig ist. Aber das war jetzt nicht meine Aufgabe, jetzt von Nürnberg aus in Bonn da irgendwelche Sachen zu machen. Ich habe ja auch eigentlich niemals vorgehabt, irgendwann hauptberufliche Politikerin zu werden oder irgendwie ein Mandat anzustreben. Das hat sich zufällig ergeben wie übrigens das Meiste in meinem Leben. Es gab irgendwann mal Fragestellungen, auf die ich meistens gar nicht vorbereitet war, und dann habe ich mich im Regelfall für das Neue entschieden, also sei es, wie es darum ging, von der Datenverarbeitung in den Betriebsrat zu wechseln und freigestellte Betriebsrätin zu werden und auch dann später zu kandidieren für den Bundestag – nichts davon geplant, und insoweit halte ich auch nur sehr wenig von denen, die glauben, man könnte also seine berufliche Karriere von Anfang bis Ende planen, das ist ein Schmarren, damit vergibt man sich auch Chancen, sondern man muss einfach sehen, was kommt, interessiert mich das, ist das etwas, wo ich glaube, dass ich vorwärts komme, und das dann zu tun und keine Angst zu haben davor.

    Burchardt: Was war denn anno 1972 Ihr Hauptmotiv einzutreten? Ich meine, 1972 war ja insbesondere nach dem Motto "Willy wählen" ein sehr bewegtes Jahr, im April war das Misstrauensvotum, dass die SPD, aus welchen Gründen auch immer, gut überstanden hat. Herbert Wehner hat immer gesagt, er saß auf der Toilette, als es zur Abstimmung kam, wie auch immer, Stimmen sollen gekauft worden sein, womöglich von der Stasi, lange her und müssen wir auch nicht im Einzelnen erörtern, ich denke, Sie wissen es auch nicht genau.

    Schmidt: Ich weiß es nicht, nein.

    Burchardt: Und im November war dann diese grandiose Wahl mit diesem bisher ja besten Ergebnis für die Sozialdemokratie. Was war für Sie das Motiv?

    Schmidt: Ich habe immer, ich habe immer die SPD gewählt, wenn ich gewählt habe. Ich habe nicht immer gewählt, Kommunalwahlen haben mich manchmal nicht interessiert - blödsinnigerweise. Manchmal habe ich auch meine Wahlbenachrichtigungskarte nicht gefunden und bin auch mal zu einer Landtagswahl vielleicht nicht hingegangen - blödsinnigerweise, sage ich heute. Aber wenn ich gewählt habe – und das waren also dann doch die sehr große Mehrheit der Wahlen –, habe ich SPD gewählt, und ich war mal in Gefahr, dass ich also ein Stückchen nach links abdrifte, aber dann sind die Russen, die Sowjets damals in Prag einmarschiert und da war jedes Geliebäugele, jetzt dann noch ein Stückchen weiter nach links irgendwas zu tun, war also damit weg, weil sich also die DKP damals, die ja noch eine gewisse Rolle gespielt hat, da nicht eindeutig davon distanziert hat, sondern im Gegenteil versucht hat, das auch noch irgendwie schönzureden, und das war mit mir nicht zu machen.

    Burchardt: Das war ja 1968.

    Schmidt: Das war 68.

    Burchardt: Würden Sie sich denn als 68erin bezeichnen?

    Schmidt: Ich kann nicht die typische 68erin sein, ich war nicht an der Uni, ich war 1968 zweifache Mutter, gut bezahlte Systemanalytikerin, ich glaube damals sogar schon leitende Systemanalytikerin. Aber ich habe mit demonstriert, ich habe hier in Nürnberg den Hauptverkehrsplatz, den Plärrer, da haben wir eine Sitzblockade für den Nulltarif bei öffentlichen Verkehrsmitteln gesagt.

    Burchardt: Und dann haben sie nicht an den Kommunalwahlen teilgenommen?

    Schmidt: Nein, nein, dann danach nicht mehr, aber vorher kann es, also vorher kann das also schon mal passiert sein. Ja. Also ich war also schon immer ein politisch denkender Mensch. Ich war eine von drei Mädchen in einer politischen Arbeitsgruppe, die die drei Gymnasien in Fürth gegründet hatten, 40 Leute von drei Gymnasien, also auch nicht gerade viel, weil man immer sagt, die heutige Jugend ist politisch nicht interessiert – also zu meiner Jugend waren die auch nicht besonders interessiert.

    Burchardt: Eine hypothetische Frage drängt sich jetzt natürlich noch auf. Gesetzt den Fall, die DKP hätte sich distanziert damals, wären Sie dann in die DKP gegangen?

    Schmidt: Ich weiß es nicht.

    Burchardt: War das eine Alternative zur SPD?

    Schmidt: Ich weiß es nicht. Man muss da immer die Zeiten auch sehen. Damals, das war die Diskussion auch mit den Notstandsgesetzen, da hatte ich Probleme, was die Position ...

    Burchardt: In der Großen Koalition nach 1966.

    Schmidt: Ja, in der Großen Koalition. Das Profil der SPD drohte in der Großen Koalition ein Stück zu verschwinden. Und da ist die DKP ... In Europa gab es ja den sogenannten Euro-Kommunismus, und da erschien plötzlich eine Alternative aufzuwachsen. Ich glaube nicht, dass das gut gegangen wäre mit uns beiden, selbst wenn die sich distanziert hätten und wenn die also ein freiheitliches Staatsverständnis entwickelt hätten, was aber im Prinzip nicht ihrem Programm hat entsprechen können, und insoweit war das ...

    Burchardt: Man hat ja dann Berlinguer in Italien damals als den italienischen Willy Brandt bezeichnet. Wäre der für Sie auch so eine Leitfigur gewesen?

    Schmidt: Also ich kenne nicht genügend, um das also jetzt zu bejahen, aber ich, sage ich mal, die Richtung hätte also gestimmt, aber dann kommt bei mir, ich bin viel zu sehr Pragmatikerin, da kommt also dann das Illusionistische auch des Menschenbildes, was dahintersteht, und das ist nicht meins. Also das wäre nicht gut gegangen. Ich bin in der SPD schon gut aufgehoben und es hat sich schon glücklich gefügt.

    Deutschlandfunk, das Zeitzeugen-Gespräch, heute mit der ehemaligen Bundesfamilienministerin Renate Schmidt

    Die neue Ostpolitik, das Lebensgefühl der 68er und heftige Flügelkämpfe in der SPD

    Schmidt: "Ich trete aus der SPD aus."

    Burchardt: Die Sozialdemokraten hatten sich ja gerade unter dem Stichwort – das Illusionistische des Menschenbildes – auseinanderzusetzen in der Ostpolitik, und die Schmährufe, die von rechts kamen gegen Willy Brandt nach dem Kniefall von Warschau sind eigentlich ja jemandem wie Ihnen und mir noch sehr deutlich in Erinnerung.

    Schmidt: Ja.

    Burchardt: Was hat die Ostpolitik für Sie bedeutet damals?

    Schmidt: Das war ein ganz wichtiges Fanal. Das fing also an mit Heinemann als Bürgerpräsidenten, das setzte sich fort dann mit der Ostpolitik. Plötzlich brachen Dinge auf, die also festbetoniert schienen, und es ist ein anderes Lebensgefühl natürlich auch durch die 68er entstanden. Es war also plötzlich mehr Freiheit da, es war mehr Toleranz da. Das Leben wurde plötzlich bunter, das Lebensgefühl wurde bunter, und zwar bis weit in die Erwachsenenwelt hinein. Und das fand ich schon gut, und das habe ich identifiziert mit der SPD, und zwar zu Recht mit ihr identifiziert. So der letzte Schubs, in die SPD einzutreten, war dann das Misstrauensvotum, das anstehende, und war natürlich – ich war damals gerade ganz neu gewählte Betriebsrätin – und war das neue Betriebsverfassungsgesetz, das ja maßgeblich durch die SPD zustande gekommen ist.

    Burchardt: Sie sagten gerade, mehr Freiheit, mehr Optimismus in der damaligen Zeit. Willy Brandt trat an mit dem Slogan: Mehr Demokratie wagen. Und 1972 gab es den sogenannten Extremistenerlass vom Bund und Ländern, auch von Willy Brandt gegengezeichnet, er selbst hat das später als einen Fehler bezeichnet.

    Schmidt: Ja, hat er recht.

    Burchardt: War das nicht für Sie auch ein Schock damals?

    Schmidt: Ja, grauenhaft, also da gab es bei uns heftigste Auseinandersetzungen in meinem Ortsverein, also damals war ein Ortsverein noch eine richtige Größe, da ging es also richtig zur Sache. Im Unterbezirk waren das Auseinandersetzungen, und da standen sich die sogenannten Rechten in der SPD den Linken in der SPD, zu denen ich damals wohl eindeutig gehörte, also nahezu unversöhnlich gegenüber. In Nürnberg lief es also vielleicht noch ein Stückchen zivilisierter ab, als es in München der Fall gewesen ist, aber das war ein Schock. Und Willy Brandt hatte recht: Das war ein Fehler, das hätte man niemals machen dürfen.

    Burchardt: Es gab ja gerade auch hier in Bayern einige spektakuläre Gerichtsprozesse auch von Leuten, die geklagt haben, aber dann auch nicht damit durchgekommen sind. Sie halten es auch heute, nachträglich für absolut falsch?

    Schmidt: Es war ein absoluter Fehler. Man kann Gesinnung nicht in dieser Art und Weise bestrafen, und das sind Leute, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, die nicht irgendwie jetzt gegen den Staat agiert haben, sondern die halt ihre Überzeugungen hatten. Ich sollte ja auch mal aus der SPD ausgeschlossen werden, das zeigt sich also noch an meinem Mitgliedsbuch, und zwar ...

    Burchardt: Was war der Grund?

    Schmidt: Und zwar habe ich eine Unterschrift abgegeben für einen Aufruf des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit, KOFAZ genannt, und bei diesem Aufruf, also gegen Atomwaffen, gegen Massenvernichtungswaffen und so weiter und so fort ...

    Burchardt: Sie waren auch Ostermarschiererin, vermute ich mal.

    Schmidt: Bitte?

    Burchardt: Ostermarschiererin waren Sie auch.

    Schmidt: Ja, ja, freilich, ja. Und alles, was da drin stand, konnte ich also von der ersten bis zur letzten Zeile unterschreiben und habe da meine Unterschrift 1978 da druntergesetzt, und da haben auch ein paar Leute von der DKP unterschrieben bei dem Ding und auch einige von der SPD und viele andere Leute. Und ich habe das dann nur mitbekommen, dass da der Unterbezirksvorsitzende hier in Nürnberg, dass der also im Unterbezirksvorstand den Antrag gestellt hat, dass man ein Parteiordnungsverfahren gegen diese Abweichler da einleiten möchte, und das habe ich gehört und habe an diesem Abend mein Parteibuch mühevoll wieder irgendwo gefunden, und habe dann meinem Mann, der war mein Ortsvereinsvorsitzender, habe dem das theatralisch vor die Füße geknallt. Da hat er gesagt: Spinnst du jetzt? Was willst du denn jetzt damit? Dann habe ich gesagt: Ich trete aus der SPD aus. Und dann hat er mich gefragt warum, dann habe ich ihm das geschildert, er wusste das noch gar nicht, und da hat er gesagt, ja, bist du wegen dem in die SPD eingetreten? Da habe ich gesagt, nein, sondern wegen dem Willy Brandt. Dann hat er gesagt: Dann trittst du bitte schön auch nicht wegen dem aus.

    Burchardt: Aber da wir jetzt gerade bei Aus- und Rücktritten sind: 1974 ist Willy Brandt zurückgetreten. Es gibt heute viele, die sagen, das hat Herbert Wehner betrieben, es gibt auch viele, die sagen, das sei eigentlich gar nicht nötig gewesen. Und dann wurde es schwieriger auch für linke Sozialdemokraten. Dann kam Helmut Schmidt. Es wandelte sich dann auch im Grunde genommen der politische Aufmerksamkeitsgrad von der Bildungspolitik, von der Emanzipationspolitik in die Ökonomie, in die Wirtschaft, in Wachstum. Ölpreiskrise und dergleichen sind ja wirklich Stichworte dafür. Was haben Sie da gedacht, was kann man jetzt politisch machen, um noch zu retten, was womöglich gar nicht mehr zu retten ist?

    Schmidt: Also ich war ja in der sogenannten freien Wirtschaft und ich habe Helmut Schmidt immer geschätzt. Ich war zwar in der Nachrüstungsfrage anderer Meinung als er, habe aber Infoständen, wenn dann die Leute kamen und gesagt haben, der Helmut Schmidt, der Kriegstreiber und Ähnliches, habe den also vehement verteidigt, habe gesagt, ich bin zwar der Meinung, dass das nicht der richtige Weg ist, aber das Ziel, das der Helmut Schmidt hat und das Ziel, das die Renate Schmidt hat, das ist absolut identisch. Es war für mich also schlimm, dass Willy Brandt und Helmut Schmidt, also die beiden, die ich dann doch auch sehr verehrt habe, dass die sich über lange Jahre nichts zu sagen hatten, und ich war sehr stolz darauf, dass ich also bei dem Versöhnungsereignis in Berlin mit dabei sein konnte, als sich also Schmidt und Brandt wieder trafen, und das war eine für mich berührende Veranstaltung. Ich war damals stellvertretende Fraktionsvorsitzende, als das war, und das war also schon etwas, was also großartig war.

    Emotionale Faktoren in der Politik – vom Umgang miteinander

    Schmidt: "Das Leben, das man zu führen gezwungen ist, eignet sich nicht für Freundschaft."

    Burchardt: Es gab ja einen Dortmunder Parteitag, da sprach Helmut Schmidt sogar von Liebe, auch zu Herbert Wehner. Ist das glaubhaft in der Politik?

    Schmidt: Es ist die Frage, wie man Liebe definiert, aber dass eine sehr große Achtung und ein emotionales Berührtsein auch in der Politik möglich sind, das ist schon so. Jetzt dieses Mal im Dezember habe ich extra eine Urlaubsreise verschoben, weil ich den Helmut Schmidt unbedingt auf dem Parteitag hören wollte, und ich muss sagen, ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe, weil es war einfach großartig von der Tonlage, von der Sprache und natürlich vom Inhalt, was er uns da gesagt hat, also was er den Menschen mitgegeben hat und wie er, wie differenziert er das derzeitige europäische Problem gesehen hat. Und da ist ein emotionales Berührtsein. Ich würde jetzt nicht sagen, ich liebe Helmut Schmidt, lieben tue ich meinen Mann und meine Kinder. Aber dass da eine tief innerliche Achtung ist und dass da sein Schicksal mich was angeht, das schon.

    Burchardt: Freundschaft, so hat Gerhard Schröder auch mal gesagt, gibt es auch nicht?

    Schmidt: Es ist sehr, sehr schwer, in der Politik oder als Politikerin Freundschaften innerhalb der Politik zu schließen, und es ist auch schwer, sie in dieser Phase des Lebens außerhalb der Politik zu schließen. Innerhalb der Politik gibt es häufig dann Konkurrenzdenken, insbesondere wenn man jünger ist, will man ja auch noch irgendwo hin und hat noch was vor und möchte auch noch was werden. Das ist der eine Teil. Der zweite Teil: Das Leben, das man zu führen gezwungen ist, eignet sich nicht für Freundschaft, weil Freundschaft gebraucht genau so wie Partnerschaft, braucht Zeit.

    Burchardt: Man muss wie ein Handy jederzeit erreichbar sein.

    Schmidt: Ja, nicht nur das, sondern man ist halt an anderem Ort, man mag jemanden gerne, aber ist an einem anderen Ort, lebt an dem anderen Ort, hat dort seinen Wahlkreis, hat andere Verpflichtungen, ist in dem anderen Ausschuss, hat also praktisch ... sieht sich dann mal in der Fraktionssitzung und das war es dann auch. Also das ist sehr, sehr schwer, wirkliche Freundschaften zu schließen, und auch außerhalb, wenn man Politikerin ist, ist es auch schwer, weil man immer im Hinterkopf haben muss: Was will denn der, was will denn die wirklich von dir? Also es ist so wie jemand, der reich ist, dann sich immer fragt, mögen die mich nur wegen meines Geldes, so fragt man sich, mögen die mich nur wegen meines Einflusses?

    Burchardt: Sie haben ja eine grandiose Karriere hingelegt. Gibt es für Sie Momente in Ihrer politischen Laufbahn, wo Sie gesagt haben: Da war ich vielleicht ein bisschen zu abgehoben, da war ich zu kühl, nicht cool, sondern kühl, abwehrend vielleicht auch? Das bedaure ich, dass ich in diesem Fall so und so reagiert oder auch nicht reagiert habe?

    Schmidt: Also das passiert jedem Politiker, jeder Politikerin hin und wieder. Wenn man sagen würde, das ist mir nie passiert, das ist ein Schmarrn. Ich glaube, bei mir ist es nicht grundsätzlich passiert, das ist vielleicht auch so ein bisschen Geheimnis, dass ich über Parteigrenze hinweg auch eine gewisse Schätzung erfahre. Es passiert mir auch heute noch, dass ich hin und wieder denke, ja, kapieren die Leute nicht, dass ich also jetzt dann nicht alles, was sie jetzt von mir erwarten, machen kann? Und manchmal, hin und wieder, reagiert man da auch mal barsch. Aber ich hoffe, es ist eher der Ausnahmefall. Ich glaube, man muss dafür sorgen oder ich habe dafür gesorgt oder ich habe das Glück gehabt, gesorgt habe ich jetzt weniger dafür, dass ich immer Menschen um mich herum hatte, die mir gesagt haben, also komm jetzt mal wieder auf den Teppich.

    Burchardt: Das ging auch, ja? Waren Sie nicht zu empfindlich?

    Schmidt: Nein. Also das habe ich immer gekonnt, dass ich also sowohl Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hatte, die mir an jedem Tag, zu jeder Stunde das, was sie für wahr gehalten haben, haben sagen dürfen, auch wenn es für mich absolut wenig schmeichelhaft war, bis hin zum Aussehen. Das war also ... Ja, ja.

    Burchardt: Da können Sie ja nicht viel gehört haben eigentlich, Negatives.

    Schmidt: Ach, nein, es gab auch Tage, es gab auch Tage, da sah ich nicht gut aus oder habe eine bescheuerte Frisur gehabt oder sonst irgendwas, also solche Sachen gibt es ja. Also die dürfen einem das sagen, ohne dass sie Gefahr laufen, dass man sie also bestraft dafür, dass sie das gesagt haben, was sie glauben, das wahr ist. Das muss ich dann nicht alles annehmen, aber dass man jemandem, der so eng mit einem zusammenarbeitet, dass man das dann ernst meint, nimmt und dann sagt, aha, vielleicht hat er dann doch recht – vielleicht gibt man ihm nicht gleich recht, vielleicht hält man auch dagegen. Also ich muss mich mit meinem Team streiten können und muss dann auch mal den Kürzeren ziehen und muss dann auch mal akzeptieren, dass ich da Mist gebaut habe und das versuchen, dann zu ändern, das nächste Mal bei einem Interview oder indem ich mich nicht mehr so verhalte oder, oder, oder. Und zu Hause, weiß ich noch genau, da kam ich mal aus Bonn und mein erster Mann war schon tot, und dann kam ich also nach Hause und die beiden Söhne waren da, und dann habe ich da gesagt, was jetzt alles zu tun ist und alles organisiert und so, und dann hat mein einer Sohn gesagt, also Mutter, weißt du was, du bist hier in deinem Wohnzimmer in Nürnberg-Zerzabelshof und nicht etwa im Deutschen Bundestag. Komm mal wieder runter.

    Burchardt: Also nicht der Parteivorstand, ja.

    Schmidt: Ich dachte mir, mein Gott, der Knabe hat recht.

    Burchardt: Na ja, gut, da muss man ja auch umschalten in solchen Situationen.

    Schmidt: Und solche Sachen, die müssen möglich sein.

    Sozialdemokratie und nationale Frage, Ministerin im Kabinett Schröder, bayerischer Blick in die Zukunft

    Schmidt: "Ich glaube, dass bei uns die Bedenkenträger zu offensichtlich waren."

    Burchardt: Vielleicht sollten wir noch ein bisschen zurückkommen in die 80er-Jahre, wir waren bei Helmut Schmidt, dann wurde die Regierung Schmidt gestürzt aufgrund der Lambsdorffschen und Genscherschen Margen. Ein Bundespräsident ließ sich, der Herr Carstens ließ sich da durchaus weichklopfen, ein gefaktes Misstrauensvotum mit auf den Weg zu bringen, was Herr Köhler übrigens in Sachen Schröder später dann auch gemacht hat, es gab da ja durchaus dann auch den zweiten Fall. Aber vielleicht zu der Kohl-Ära, die dann ja auch ... Kohl war ja eigentlich 1989 schon so gut wie weg vom Fenster, auch die Europawahl hatte er verloren, und dann kam die deutsche Einheit. Was bedeutete die deutsche Einheit für Sie und darüber hinaus denkend vielleicht auch – Sie stammen von Eltern, die sozusagen jenseits der DDR aufgewachsen sind – die Osterweiterung in Europa? Was hat sich für Sie in diesen letzten Jahren entwickelt?

    Schmidt: Also ich weiß noch, 1989, ganz zu Beginn: Es war eine riesengroße Freude, also dass diese bescheuerte Mauer weg war und dass jetzt da was Neues beginnt. Es war eine riesen-, riesen-, riesengroße Freude. Aber dann hat sich herausgestellt im Laufe so der Zeit, dass das teilweise, dass die unterschiedlichen Generationen das unterschiedlich empfunden haben. Für mich war Deutschland die damalige Bundesrepublik Deutschland. Für Willy Brandt war Deutschland die BRD und die DDR zusammen, immer, nie was anderes. Und das ist eine Sache, die ... Also sage ich mal: Die Jüngeren, die wollten ihr Deutschland behalten und wollten, dass die anderen frei sind und dass das gerne auch noch ein Deutschland ist, aber ich erinnere mich noch an Kooperationsmodelle, und was haben wir doch damals alles herumgehirnt, wie man das insgesamt hinbekommen kann, damit das also geht. Die Menschen haben Fakten geschaffen, und ich glaube, dass Kohl an vielen Stellen zwar ökonomisch einen Blödsinn gemacht hat, aber politisch das Richtige getan hat. Es ging überhaupt nicht anders und es war richtig.

    Burchardt: Hätte das die SPD nicht damals eigentlich auch machen können? Es war ja eine große Überraschung, dass im März 1990 dann die Wahl grandios verloren ging.

    Schmidt: Ich glaube, dass bei uns die Bedenkenträger zu offensichtlich waren. Die Leute wollen in so einer Situation nicht hören, dass das ein ökonomischer Wahnsinn ist. Lafontaine hatte absolut recht ökonomisch, er hatte emotional und politisch absolut unrecht. Und das desaströse Wahlergebnis, das wir dann im Dezember 1990 auf Bundesebene eingefahren haben, das lag auch an der Unfähigkeit unseres damaligen Spitzenkandidaten, auszudrücken, dass er sich über dieses Ereignis freut, dass ihm diese Menschen genauso am Herzen liegen wie die Menschen in Westdeutschland. Das hat er nicht zustande gebracht. Und da kam nämlich neben dieser Frage der Generationen ... Lafontaine und ich sind ungefähr ... er ist zwei, drei Monate älter als ich, wir sind selber Jahrgang, also auch unser Deutschland, die BRD, und dann kam er ganz aus dem Westen, für ihn noch mehr, bei mir war ja noch da mit, ich bin in Coburg aufgewachsen, wir haben also noch die Kerzen ins Fenster gestellt für die ...

    Burchardt: ... Randgemeinde?

    Schmidt: Ja, ja, für die Brüder und Schwestern im Osten haben wir die Kerzen ins Fenster gestellt. Für uns war die Zonengrenze was ganz Reales, für mich war als Kind ... Wenn ich mit meiner Großmutter Pilze suchen im Wald war, da musste man aufpassen, dass man - damals gab es den Todesstreifen noch nicht und noch nicht diese Abgrenzung - und da musste man aufpassen, dass man nicht auf die andere Seite geraten ist. Für mich war das noch etwas realer, aber er konnte das nicht ausdrücken, und das war mit der Grund, warum wir so grandios verloren haben.

    Burchardt: Also mit März 1990 hatte ich die Volkskammerwahl gemeint, wo ...

    Schmidt: Ja, ja, das weiß ich schon, ja, ja.

    Burchardt: ... es dann 52 Prozent für die Union gab.

    Schmidt: Ja.

    Burchardt: Das war ja auch so was wie ein Vorbote schon für die Dezemberwahl.

    Schmidt: Ja.

    Burchardt: Dann 1998 die erste Regierung Schröder, Sie sind in der zweiten Regierung Schröder nach 2002 Familienministerin gewesen. Sie haben große Projektionen gehabt, insbesondere was die sogenannten kommunalen Bündnisse angeht, was Familienpolitik auch im Sinne von Gleichberechtigung, von Ganztagsbetreuung für Kinder bedeutet, sind wir da stehen geblieben? Ist Ihre Politik fortgesetzt worden oder würden Sie heute sagen, es müsste eigentlich mehr Drive rein?

    Schmidt: Also ich habe gesagt, dass ich zwar stinksauer war, als wir in der großen Koalition das Familienministerium aufgegeben haben, natürlich einmal, zum einen wegen mir selbst, aber auch, weil ich immer noch der Meinung bin: Das ist eines der großen Zukunftsthemen und man gibt nicht ein Zukunftsthema einfach aus der Hand. Ich weiß in der Zwischenzeit, dass es gar nicht anders möglich war aus vielerlei Gründen, das lag an Seehofer und Stoiber und dass die Frau Merkel ...

    Burchardt: Ihre bayerischen Freunde.

    Schmidt: ... dass die Frau Merkel ... nein, nein, die hat nichts gegen mich, sondern es war einfach, wer konnte welches Ministerium besetzen, und die Frau Merkel wollte unbedingt die Frau von der Leyen mit dabeihaben und wollte auf jeden Fall den Seehofer im Gesundheitsministerium verhindern, und ich war also dann diejenige, die das Familienministerium nicht mehr hatte. Also das sind aber nur so die Nebengeschichten.

    Burchardt: Pech gehabt.

    Schmidt: Ja. Es geht ja hier nicht um mich. Ich habe das also vergleichsweise schnell, nach ein paar Monaten, absolut auch für richtig gehalten, dass es so gekommen ist, weil ich gesagt habe: Ich hätte mir wahrscheinlich bei dem weiteren Fortschreiten, hätte mir wahrscheinlich an den Betonköpfen in der Union die Stirne blutig gerannt, und deshalb musste eine Unionsministerin das weiterführen, was die SPD-Ministerin Schmidt begonnen hatte.

    Burchardt: Wären Sie heute weiter gewesen?

    Schmidt: Ich würde jetzt sagen: Die Zeit der Frau von der Leyen, das war eine Fortsetzung dessen, was ich begonnen hatte. Wir haben im Koalitionsvertrag ja gemeinsam festgelegt, wie es weitergehen soll, Ausbau der Kinderbetreuung, Elterngeld und so weiter und so fort, also das war ein gemeinsames Werk, und sie hat das also auch mit großem Drive versucht umzusetzen.

    Burchardt: Hat Sie sich mit Ihnen auch unter der Hand besprochen?

    Schmidt: Also im Koalitionsvertrag ja, wir haben also jede Woche, paar mal nächtens, miteinander telefoniert, wie wir das hinkriegen und auch die Widerstände in unseren eigenen Fraktionen, die also versuchen, irgendwie aufzuweichen. Das war also nicht einfach und wir haben also da sehr gut zusammengearbeitet. Danach muss man also dann bitte schön auch loslassen, dann ist das nicht mehr die Sache, die man selber zu verantworten hat, sondern dann ist es die Nachfolgerin. Jetzt im Moment bin ich nicht besonders glücklich, weil ich die Linie nicht mehr erkenne und nicht mehr erkenne: Wohin soll es denn gehen? Wollen wir jetzt im Betreuungsgeld zurück oder wollen wir vielleicht dann doch nach vorne und das Elterngeld noch ein Stückchen modernisieren oder Ähnliches? Also im Moment bin ich nicht so zufrieden, aber die Richtung stimmt und die lässt sich auch nicht mehr zurückdrehen.

    Burchardt: Sie geben mir noch ein Stichwort zum Schluss unseres Gespräches, es verlief sehr, sehr schnell. Sie sagten, wir wollen nach vorn, die SPD in Bayern will auch nach vorn, wir waren ja auch bei bayerischen Befindlichkeiten, Christian Ude wird mit Sicherheit der Spitzenkandidat werden. Gibt es hier einen Regierungswechsel, was ja eigentlich vor paar Jahren hier in Bayern undenkbar war.

    Schmidt: Ich hoffe es.

    Burchardt: Weil dieses Land schien der CSU zu gehören.

    Schmidt: Ich hoffe es, ich glaube, dass Christian Ude das Zeug dazu hat, dass er also deutlich unser Ergebnis nach vorne bringt. Ich hoffe, dass die Grünen nicht nach hinten abschmieren und die freien Wähler stehen und die Piraten nicht reinkommen. Wenn das alles passt, dann gibt es einen Regierungswechsel. Das muss aber alles passen. Und ich drücke beide Daumen und die großen Zehen noch dazu, dass es so kommen wird. Ich habe ein bisschen Sorge, weil ich mich erinnere, 1993, da war die CSU – da war ich Spitzenkandidatin hier in Bayern –, da war die CSU bei 41 Prozent. Wir hätten mit der FDP und den Grünen die Regierung stellen können, und dann hat sich die CSU von Streibl Richtung Stoiber bewegt, dann kamen die Europawahlen und dann habe ich zu tun gehabt, wieder auf 30 Prozent zu kommen bei den Landtagswahlen 1994. 30 Prozent sind jetzt im Moment glaube ich gar nicht mehr zu erreichen, aber irgendwas, 25, vielleicht sogar ein bisschen Plus, ist zu erreichen, und wenn die anderen dann so abschneiden, wie ich es jetzt gerade gesagt habe, dann gäbe es endlich die Chance auf einen Regierungswechsel.

    Burchardt: Würden Sie dann auch in diese Regierung eintreten?

    Schmidt: Um Himmels willen, nein.

    Burchardt: Warum nicht?

    Schmidt: Also garantiert nicht mehr, das ist das Leben von gestern, ich führe das Leben von heute und habe für morgen auch noch einiges vor. Also die Phase der Politik – 29 Jahre hauptamtliche Politik auf Bundes- und Landesebene in den unterschiedlichsten Spitzenfunktionen, das reicht wirklich. Ich muss nicht mehr in die Politik zurück, ich bin jetzt 68, werde dieses Jahr 69, also bitte schön, nein, ich nicht, Schmidt – nein.

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