Kempf kritisierte das gestern vorgestellte Steuerkonzept der SPD. Der Abstand zwischen den Einkommen, die Spitzensteuersatz und denjenigen, die Reichensteuer zahlen sollen, sei viel zu klein. Außerdem treffe der geplante dritte Steuersatz gewerbliche Einkünfte. "Das hat mit nötigen Strukturreformen nichts zu tun".
Soziale Gerechtigkeit solle nicht über Umverteilung, sondern durch Schaffung neuer Arbeitsplätze hergestellt werden. Das sei in den letzten Jahren bereits gelungen. Mit Blick auf die Arbeitslosigkeit sagte Kempf, es müsse dafür gesorgt werden, dass Menschen durch "lebenslanges Alimentieren" nicht zu lange im Hartz-4-System bleiben. Dass Menschen über mehrere Jahre Hartz IV bezögen, sei ein strukturelles Problem, welches durch Bildung aus Ausbildung gelöst werden müsse. Dass die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden sei, liege nicht daran, dass die Armen ärmer würden, sondern die Reichen reicher.
Mit Blick auf den Niedriglohnsektor in Deutschland sagte Kempf, in der Wirtschaft gebe es einen breiten Konsens, dass Arbeit sich lohnen müsse. Unternehmen hätten die Einführung von Mindestlohn nur deswegen kritisiert, weil er große administrative Hürden bedeute.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Es geht Deutschland wirtschaftlich so gut, dass unsere Nachbarn entweder neidisch, oder mit großem Respekt auf die deutschen Wirtschaftsdaten schauen, oder ihren Blick verbinden mit Ermahnungen. Die Kritik am deutschen Exportüberschuss zum Beispiel wurde zuletzt immer stärker, auch und gerade aus Frankreich vom neu gewählten Präsidenten Immanuel Macron, von dem sich viele erhoffen, dass er sein Land wirtschaftlich wieder nach oben bringt.
Auf dem Tag der deutschen Industrie geht es heute sowohl um die innenpolitischen als auch die internationalen Perspektiven in Bezug auf Deutschlands wirtschaftliche Zukunft. Organisiert wird der Kongress von der obersten Interessensvertretung der Industrie, vom Bundesverband der Deutschen Industrie, kurz dem BDI, und dessen Präsident Dieter Kempf ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Kempf.
Dieter Kempf: Schönen guten Morgen, Frau Kaess.
Kaess: Sie haben ja heute auf dem Kongress fast alle politischen Linien vertreten. Es sprechen unter anderem Bundeskanzlerin Merkel, SPD-Kanzlerkandidat Schulz, FDP-Chef Lindner oder der Spitzenkandidat der Grünen Özdemir. Auf wen freuen Sie sich denn am meisten?
Kempf: Ich freue mich auf alle, weil es einfach interessant wird aus Sicht der Wirtschaft, unmittelbar von den Spitzenkandidaten der demokratischen Parteien in Deutschland ihre politischen Konzepte zu hören.
Kaess: Welche Rede wird am spannendsten?
Kempf: Wahrscheinlich durchaus die von Bundeskanzlerin Merkel. Sie wird sicherlich die breitesten Aspekte abdecken.
Kaess: Ist es Absicht, dass Die Linke und die AfD nicht dabei sind?
Kempf: Es gibt ein klares Commitment des BDI, wen wir einladen und wen wir nicht einladen. Die Nomenklatur lautet, jeder der Regierungsverantwortung in Bund und Land trägt, wird eingeladen.
Kaess: Die soziale Gerechtigkeit, die hat sich die SPD auf die Fahnen geschrieben. Ist das ein Widerspruch zu den Interessen der Unternehmen?
Kempf: Nein, überhaupt nicht. Unternehmen stehen in der Mitte der Gesellschaft. Darum stört mich manchmal auch der Begriff Zivilgesellschaft. Auch Unternehmen sind wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaft. Das konnte man im Übrigen schon bei Ludwig Erhards Definition der sozialen Marktwirtschaft nachlesen.
Das heißt, natürlich muss auch jedes Unternehmen, das Interesse an einem dauerhaften Erfolg seiner Produkte und Dienstleistungen hat, Interesse daran haben, an Themen wie Teilhabe, an seiner eigenen Arbeitnehmerschaft und vielem anderen mehr. Und dass dies die Unternehmen in Deutschland tun, zeigt ja nicht nur ihr Umsatzwachstum, sondern auch das sehr deutliche Beschäftigtenwachstum.
"Das hat mit notwendigen Steuerstrukturreformen eher weniger zu tun"
Kaess: Da schauen wir uns ein bisschen konkreter die Vorstellungen an. Die SPD hat gestern ihr Steuerkonzept vorgestellt. Für die Unternehmen ist hier wichtig, dass die SPD wieder zurück zum Prinzip der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, also zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern will. Ist das in Ordnung?
Kempf: Na ja. Jetzt ist Steuerkonzept und Krankenversicherungsbeitragsaufteilung ja nicht unbedingt unter der gleichen Überschrift zu sehen. Es hat ja seinerseits gute Gründe gegeben, warum man Arbeit verbilligt hat dadurch, dass man die paritätische Finanzierung aufgegeben hat.
Ich würde mich lieber auf das Steuerkonzept konzentrieren. Da hat die SPD nun gerade keine wirklich guten Ideen bereitet, statt zwei Steuersätzen, wie wir sie heute haben, deren drei zu machen, den Unterschied zwischen Spitzensteuersatz und Reichensteuer mit 16.000 Euro zu versteuerndem Einkommen im Jahr sehr eng zu machen, mit dem dritten Steuersatz insbesondere gewerbliche Einkünfte zu treffen. Das hat mit notwendigen Steuerstrukturreformen eher weniger zu tun.
"Die Alternative zum Umverteilen ist, möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen"
Kaess: Aber, Herr Kempf, Sie gelten ja tatsächlich als jemand, der nichts von sozialer Umverteilung hält. Auf der anderen Seite: Die Schere zwischen Arm und Reich war in Deutschland noch nie so groß wie jetzt. Was wäre denn die Alternative zum Umverteilen?
Kempf: Die Alternative zum Umverteilen ist, möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen und möglichst viele Menschen in Lohn und Arbeit zu bringen. Das haben wir in den letzten Jahren sehr gut geschafft, im Übrigen deutlich besser als Europa. Das sieht man auch, wenn man den Armuts-Risikobericht deutlicher liest.
Es ist richtig, dass die Schere größer wird, aber sie wird nicht deshalb größer, weil die Armen ärmer werden, um das sehr plakativ zu sagen, sondern weil die Reichen reicher werden. Das heißt nicht, dass wir uns beruhigt zurücklehnen können, aber die Mittel, um an dem Schließen der Schere zu arbeiten, sind dann andere, als wenn es dadurch wäre, dass die Armen ärmer werden. Es liegt einfach daran, dass die Arbeitsplätze, die wir geschaffen haben, ziemlich gleichmäßig über das Ganze Spektrum der Arbeitseinkünfte verteilt wurden. Das heißt, auch im Niedriglohnsektor wurden Arbeitsplätze geschaffen, genauso wie im Hochlohnsektor.
Kaess: Ja genau! Und da steht ja immer wieder der Vorwurf im Raum, dass es Deutschland wirtschaftlich so gut geht auf Kosten der Niedriglöhner. Ich möchte mit Ihnen mal zusammen anhören, was die Spitzenkandidatin der Linken, Sahra Wagenknecht, gestern im Deutschlandfunk dazu gesagt hat:
"Deutschland hat vor allem deshalb jetzt eine niedrige Arbeitslosigkeit, weil es sehr, sehr viele prekäre Jobs gibt, weil viele Menschen zwar offiziell nicht arbeitslos sind, aber sie haben nur einen Minijob, sie haben nur eine Teilzeitbeschäftigung, sie können nicht leben von ihrer Arbeit. Es gibt ja über fünf Millionen Menschen, die nach wie vor im Hartz-IV-System gefangen sind. Das heißt, damit sind sie abhängig von Lohnersatzleistungen.
Und Deutschlands Wirtschaft profitiert davon, dass wir mit diesem Lohndumping natürlich andere Länder auch niederkonkurrieren können, auch vor allen Dingen unsere europäischen Nachbarn."
Kaess: ... sagt Sahra Wagenknecht von der Linken. – Immer höhere Unternehmensgewinne, aber auf der anderen Seite immer schlechtere Löhne. Ist denn so eine Entwicklung gesellschaftlich wünschenswert, Herr Kempf?
Kempf: Zum Ersten ist es eine äußerst subjektive Darstellung einzelner Fakten zu einem in sich nicht stimmigen Zusammenhang. Auch im letzten Jahr sind die sozialversicherungspflichtigen Industriearbeitsplätze deutlich gestiegen.
"Wir haben ein strukturelles Problem und nicht ein Konjunkturproblem"
Kaess: Aber dennoch haben wir einen sehr großen Niedriglohnsektor. Das ist ja Tatsache.
Kempf: Ja! Den muss man sich aber auch ansehen. Das heißt, viele, die über mehrere Jahre im Hartz-IV-System verbleiben, da haben wir ein strukturelles Problem und nicht ein Konjunkturproblem. Das werden wir auch mit Konjunktur nicht lösen, sondern das können wir nur mit Bildung, mit Ausbildung lösen.
Daran müssen wir ansetzen und nicht versuchen, durch lebenslanges Alimentieren auch noch möglichst selbst dafür zu sorgen, dass möglichst viele möglichst lang in diesem System bleiben. Unser Bestreben von Wirtschaft und Gesellschaft muss sein, möglichst viele gar nicht erst in die Gefahr eines sozialen Sicherungssystems zu bringen, und die Antwort darauf kann nur sein, Arbeitsplätze schaffen.
Kaess: Aber, Herr Kempf, welche Verantwortung tragen denn die Unternehmen, die ja von den billigen Arbeitsplätzen profitieren?
Kempf: Auch das halte ich als These für falsch. Wenn Sie sich erinnern an die Einführung des Mindestlohns, dann richtete sich hier ein großer Teil der Kritik vonseiten der Unternehmen nicht an der Tatsache der Einführung eines Mindestlohns, sondern an den hohen administrativen Hürden bei der Bewältigung dieses Themas. Auch in der Wirtschaft gibt es einen breiten Konsens darüber, dass sich Arbeit lohnen muss, dass jemand, der in Lohn und Arbeit steht, auch davon leben können muss.
"Hier von Lohndumping zu sprechen, ist sachlich einfach unrichtig"
Kaess: Wir haben gerade gehört von Sahra Wagenknecht in Bezug auf den Niedriglohnsektor auch diesen Vorwurf, dass Deutschland sich mit Lohn-Dumping, wie sie es nennt, andere Länder niederkonkurriert. Geht der deutsche Wohlstand auf Kosten unserer europäischen Nachbarn?
Kempf: Das ist schlichtweg einfach falsch. Der durchschnittliche Lohn im Industriearbeitsplatz liegt bei 30 Euro in der Stunde. Hier von Lohndumping zu sprechen, ist sachlich einfach unrichtig.
Kaess: Aber da geht es ja auch um Wettbewerbsfähigkeit und in diesem Zusammenhang kommt ja auch immer wieder aus dem Ausland die Kritik am Exportüberschuss von Deutschland, und da sagt ja sogar Finanzminister Schäuble, tatsächlich ist der zu hoch.
Kempf: Der Exportüberschuss ist ein völlig anderes Thema. Dazu muss man zwei Dinge sagen. Exportüberschuss ist per se nicht schlecht. Es würde aber etwas länger dauern, dies zu erklären. Aber natürlich können wir selbst was dagegen tun. Das vorgeschlagene Mittel des BDI sind Investitionen und zwar sowohl öffentliche Investitionen, zum Beispiel in den Breitbandausbau, genauso gut aber die Förderung privater Investitionen, zum Beispiel durch die zusätzliche Einführung einer steuerlichen Forschungs- und Entwicklungsförderung. Damit würden wir insbesondere im Mittelstand auch dafür sorgen, dass Mittelständler intensiver in Forschung und Entwicklung investieren, und das würde das Handelsbilanz-Ungleichgewicht mit dem einen oder anderen Land auch positiv beeinflussen.
"Ohne Schaden wird es nicht ausgehen"
Kaess: Herr Kempf, wenn wir beim internationalen Kontext sind, schauen wir zum Schluss noch kurz auf ein anderes Thema. Gestern haben die Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien begonnen. Auf welches Ergebnis hoffen Sie?
Kempf: Ich hoffe auf ein Ergebnis, das beide Seiten möglichst unbeschädigt davon kommen lässt. Ohne Schaden wird es nicht ausgehen. Wir waren und sind immer der Meinung, dass Europa die Lösung und nicht das Problem ist. Die britische Regierung hat dies ganz offensichtlich anders gesehen, auf Basis einer Volksbefragung, die man dort gemacht hat. Das ist Fakt, daran kann man nichts ändern. Jetzt geht es um Schadensbegrenzung. Ich glaube, beide Seiten sind ordentlich aufgestellt. Die Seite der EU-Kommission hatte genügend Zeit, sich vorzubereiten. Auf der Seite der britischen Verhandlungsführer ist dies wahrscheinlich durch ein schief gegangenes wahltaktisches Manöver eher etwas schwieriger. Wir haben fast ein Jahr Zeit verloren. Deshalb wird das bedeuten, dass die Verhandlungen möglichst schnell beginnen und möglichst konzentriert geführt werden müssen. Am Ende hoffe ich auf ein Europa der 27, das deutlicher als bisher versteht, dass Europa diese Lösung und eben nicht das Problem ist.
Kaess: ... sagt Dieter Kempf. Er ist Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Danke für Ihre Zeit heute Morgen.
Kempf: Vielen Dank, Frau Kaess.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.