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Soziale Ungleichheit als Protestauslöser in China

Proteste wie in Wukan oder Haimen gebe es in China eigentlich schon seit Jahren, sagt Peking-Korrespondentin Ruth Kirchner. Inzwischen würden sich die Unruhen, die "die sozialen Folgekosten der wahnsinnig schnellen Entwicklung" des Landes seien, über das Internet viel schneller verbreiten.

Ruth Kirchner im Gespräch mit Christoph Schmitz | 21.12.2011
    Christoph Schmitz: Drei Monate lang probten die Fischer eines Dorfes in China an der Südküste des Landes den Aufstand. Im September hatten sie die Behördenvertreter aus dem Ort Wukan gejagt. Die korrupten Honoratioren hatten Gemeindeland illegal an Investoren verkauft. Die Polizei riegelte das Dorf ab, nahm den gewählten Dorfanführer fest, in der Haft starb er, totgeschlagen – das sagen die Angehören -, an einem Herzinfarkt, sagt die Polizei. Nun scheint sich aber die Lage in Wukan zu entspannen. Ganz in der Nähe, in der Stadt Haimen, eskaliert dafür ein anderer Konflikt. Die Polizei löst gewaltsam Demonstrationen gegen ein Kohlekraftwerk auf. Angesichts dieser und anderer Konflikte in China fragt man sich, ob möglicherweise wieder einmal ein Fünkchen des Arabischen Frühlings, wie schon zu Beginn des Jahres, nach Fernost übergesprungen ist? Sind die Proteste in Wukan und Haimen ein Zeichen dafür? – Das habe ich unsere Korrespondentin Ruth Kirchner in Peking gefragt.

    Ruth Kirchner: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass das mit dem Arabischen Frühling und den Protesten in Nordafrika eigentlich überhaupt nichts zu tun hatte. Solche Proteste, wie wir sie jetzt erlebt haben, die gibt es ja eigentlich schon seit Jahren in China. Nur ist vielleicht Wukan doch etwas besonderes, weil es eben ein größerer Protest ist als normalerweise. Aber Proteste auch teilweise mit Tausenden von Menschen, die gibt es schon sehr lange.
    Was anders ist, ist, dass wir jetzt viel schneller und viel häufiger davon hören. Es ist sehr schwer zu sagen, ob es tatsächlich mehr Proteste sind als noch vor einigen Jahren. Ich glaube, die offizielle Zahl liegt ungefähr bei 180.000 sogenannten Massenvorkommnissen pro Jahr. Das können kleine Mini-Demonstrationen sein, aber eben auch große Proteste. Aber weil es jetzt eben die Microblogs gibt und das Internet, verbreitet sich das natürlich viel, viel schneller.

    Schmitz: Was sagt denn dennoch so eine Dorfrevolte wie in Wukan über die chinesischen Verhältnisse allgemein aus?

    Kirchner: Es gibt in diesem Land eine ganze Menge soziale Spannungen, und die entzünden sich immer wieder an eigentlich den gleichen Themen, obwohl es natürlich immer örtliche Besonderheiten gibt und sich ja auch diese Proteste untereinander nie vernetzen, oder bislang eigentlich nicht vernetzt haben, und die Regierung auch genau das ja immer verhindern will. Ein ganz großes Problem sind immer die illegalen Landnahmen. Das sind Enteignungen vor Ort, wo dann die örtliche Partei, die Beamten den Bauern das Land wegnehmen und dieses Land dann gewinnbringend an Entwicklungsgesellschaften oder an Unternehmen verkaufen, und die Bauern entweder gar nicht, oder nur sehr unzureichend entschädigt werden, oder aber die geplanten Entschädigungszahlungen in den Taschen der Beamten selbst landen. Also Korruption, Vetternwirtschaft, das ist ein riesengroßes Problem. Ein anderes Problem ist immer wieder die Umweltverschmutzung. Also es sind ganz häufig eben auch die sozialen Folgekosten der wahnsinnig schnellen Entwicklung Chinas.
    Und ich denke, ein drittes Thema derzeit, was in China eine große Rolle spielt, ist die soziale Ungleichheit. Sie haben es auf der einen Seite zu tun mit sehr modernen Großstädten wie Peking, Shanghai und auch anderen Millionenstädten, und auf der anderen Seite mit Lebensverhältnissen auf dem Land, die eher Lebensverhältnisse eines Entwicklungslandes sind.

    Schmitz: Frau Kirchner, Sie sagten, dass diese vielen lokalen Revolten über das Land verteilt nicht untereinander vernetzt sind. Meine Frage: Wie reagiert denn dann die chinesische Öffentlichkeit, wie reagieren Zeitungen, wie reagiert das Internet auf diese vielen, vielen, vielen Konflikte?

    Kirchner: Über die meisten Konflikte werden sie in den staatlich kontrollierten Medien Chinas überhaupt nichts lesen. Über Wukan zum Beispiel wurde von den Zeitungen hier in China überhaupt nicht berichtet, das durften die Zeitungen nicht berichten. Und im Internet wurden nach den ersten, sich sehr schnell verbreitenden Berichten über die Revolte dort diese Berichte sehr, sehr stark zensiert. Wenn sie dann sich chinesische Einträge auf ausländischen Web-Seiten angucken, wo Leute aus China schreiben, ich sage mal auf Twitter, wo sie sich um die Zensur herummogeln und wissen, wie man das macht, dann sehen sie natürlich schon da sehr viel Kritik: Einerseits am Vorgehen der Behörden und zum anderen sieht man da auch, dass da schon sehr deutlich Parallelen gezogen werden zu Entwicklungen in anderen Landesteilen, dass man Vergleiche zieht und dass man auch immer wieder sagt, dass es hier eigentlich um ein Grundproblem Chinas geht, nämlich wie man mit der sozialen Ungleichheit umgeht – das ist das eine – und dass die Führung derzeit alles auf Stabilität setzt und dass auf Kosten der Stabilität häufig die eigenen Gesetze im eigenen Land einfach missachtet werden.

    Schmitz: Das heißt, angesichts der Ideologie der Stabilität und der Harmonie, der vermeintlichen Harmonie, geraten Bürgerrechte und rechtsstaatliche Entwicklungen ins Hintertreffen?

    Kirchner: Auf jeden Fall. Rechtsexperten und Intellektuelle, mit denen ich darüber gesprochen habe, die beklagen das und sagen, die Stabilität muss jetzt für alles herhalten. Man sieht es ja auch im jährlichen Haushalt, dass China mittlerweile für die innere Sicherheit mehr Geld ausgibt als zum Beispiel für die Landesverteidigung. Rechtsexperten, mit denen ich gesprochen habe, sagen, der Stabilität im Land, der inneren Sicherheit wird mittlerweile alles andere untergeordnet, und sie beklagen sehr deutlich, dass damit verbunden ist ein Rückschritt in der Rechtsstaatlichkeit. Der eine Intellektuelle, mit dem ich darüber gesprochen habe, sagte, das öffnet wirklich der Willkür in diesem Land wieder Tür und Tor.

    Schmitz: Ruth Kirchner aus Peking über die Bedeutung der Proteste in den südchinesischen Orten Wukan und Haimen.