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Der Sport auf der Suche nach dem „Wir“ (14)
Soziale Ungleichheit macht sich zunehmend im Sport bemerkbar

Sport gilt noch immer als einer der gesellschaftlich durchlässigsten Bereiche: Kinder und Jugendliche unabhängig vom sozialen Hintergrund kommen zusammen, um sich gemeinsam zu bewegen und zu spielen. Doch das scheint sich zu ändern - mit schwerwiegenden Folgen für Kinder aus ärmeren Verhältnissen.

Von Jennifer Stange |
Junge spielt alleine Fussball auf der Strasse vor einer Graffitiwand
Junge spielt alleine Fussball auf der Strasse vor einer Graffitiwand (imago / blickwinkel)
Wegen der Plattenbauten und später wegen des gravierenden Einwohnerschwunds wurde Grünau berühmt. Heute wächst der Leipziger Stadtteil wieder. Vor allem einkommensschwache Haushalte finden hier noch bezahlbaren Wohnraum. 30 Prozent der unter 15-jährigen Einwohnerinnen und Einwohner sind laut Sozialreport der Stadt Leipzig aus 2020 auf Grundsicherung angewiesen - Kinder und Jugendliche, mit denen Sozialarbeiterin Martina Lück zu tun hat.

Armut verdammt zu Passivität

"Die haben einen Bewegungsdrang, die wollen sich gerne bewegen und es geht nicht, dass wir den Familien sagen, ihr müsst machen, gesunde Ernährung und Bewegung, aber gar nicht die Möglichkeiten bieten." Martina Lück redet gegen Vorurteile an, bevor sie auf den Tisch kommen. Zu oft würden die Folgen von Armut zur Ursache erklärt. Wer arm ist, sei zu Passivität verdammt, nicht umgekehrt, erklärt Lück.
Junge spielt alleine Fussball auf der Strasse vor einer Graffitiwand
Denkfabrik 2021 - Der Sport auf der Suche nach dem „Wir“
Die „Denkfabrik“ des Deutschlandradios widmet sich in diesem Jahr Identitätsfragen. Im modernen Sport wird seit mehr als hundert Jahren die Frage gestellt: Wer darf mitmachen und wer bleibt draußen? Mal geht es um soziale Herkunft, mal um nationale Konflikte oder auch schlicht um Macht und Geld.
Die Bertelsmann-Stiftung gibt ihr Recht. In einem Dossier zu Kinderarmut heißt es: Die materielle Versorgung von Kindern in der Grundsicherung habe sich in den letzten fünf Jahren zwar etwas verbessert doch Insbesondere in den Bereichen Mobilität, Freizeit und soziale Teilhabe wären Familien im SGB II-Bezug teils erheblich unterversorgt.
Die weitläufigen Grünflächen zwischen den Plattenbauten in Grünau laden nur auf den ersten Blick zum Toben und Spielen ein. "In irgendwelche Hundehaufen zu treten beim Fussballspielen oder beim Radschlagen, das macht es natürlich nicht angenehmer. Wir müssen wirklich immer suchen: Wo können wir spielen - sucht bitte die Flächen ab. Dann stecken wir die Flächen ab", berichtet Lück.

"Die Schere geht auf"

Als sichtbarster Ausdruck von zu wenig Bewegung gelten Übergewicht und Adipositas. Dabei gäbe es noch viele eher unsichtbare physische und psychische Erkrankungen, die ebenfalls auf Bewegungsmangel zurück zu führen sind, sagt Professor Wieland Kiess. Er ist Leiter der Universitätskinderklinik in Leipzig und forscht in einer Langzeitstudie zu so genannten Zivilisationskrankheiten und ihren Ursachen in der Kindesentwicklung.
"Die Schere geht auf. Was meine ich damit? Während sich vor einhundert Jahren noch Kinder aus allen Schichten bewegt haben, bewegen sich heute Kinder aus sozioökonomischen schwierigeren Verhältnissen weniger als die Kinder, denen es gut geht. Ja man kann sogar von Risikogruppen jetzt sprechen." Statistisch, so Kinderarzt Kiess, ließe sich mittlerweile ein Zusammenhang zwischen bestimmten Krankheiten und der sozio-ökonomischen Lage heranwachsender nachweisen", sagt Kiess.

Soziale Ungleichheit auf unterschiedlichen Ebenen

Auch der Kinder- und Jugendsport Bericht aus 2020 stellt fest: Soziale Ungleichheit macht sich zunehmend im Sport bemerkbar. Herausgeber Christoph Breuer, Soziologe, Sportökonom und Hochschullehrer an der Deutschen Sporthochschule in Köln:

Die soziale Ungleichheit im Sport macht sich auf unterschiedlichen Ebenen bemerkbar, da ist zunächst das Bewegungsverhalten als solches. Wir können nachzeichnen, dass Kinder und Jugendlichen aus sozial schwierigeren Lagen weniger bewegungsaktiv sind. Sie sind auch weniger häufig Mitglied im Sportverein. Und das setzt sich dann eben weiter fort, im Hinblick auf die Sportarten. Die unterschiedlich starke ökonomische Eintrittsbarrieren, würden wir das nennen, eben haben.

"Je teurer eine Sportart was Beiträge, Ausrüstung und so weiter betrifft, desto weniger Kinder aus ärmeren Verhältnissen sind dabei. "Und deswegen würde ich eher von einem partiellen Vereins- und Marktversagen sprechen", so Breuer. Denn Sport sei nach wie vor einer der gesellschaftlich durchlässigsten Bereiche. Meint: Soziale Schicht, Klasse oder sozioökonomische Herkunft fallen weniger ins Gewicht. Und genau das müsse Aufgabenstellung für sportliche Einrichtungen bleiben.

Soziale Träger mit Sportangeboten haben Zulauf

Wer Sozialleistungen bezieht, hat unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf ein so genanntes "Bildungspaket". Fünfzehn Euro Zuschuss für die Mitgliedschaft in einem Sportverein zum Beispiel. Auf der Seite der Stadt Leipzig sind die Sportangebote aufgelistet, die darauf eingestellt sind. Auffällig ist, hier finden sich neben Sportvereinen mindestens genauso viele soziale Träger mit sportlichen Angeboten.
“Von meinen Kids, die ich jetzt in den letzten sechs Jahren begleitet habe, ist einer im Verein. Der macht tatsächlich Karate, weil er selber Karatelehrer werden möchte. Das ist aber einer von den ruhigeren, der schafft das sich zu konzentrieren", berichtet Martina Lück. Andere seien aus Vereinen rausgeflogen, weil sie bestimmten Erwartungen nicht entsprochen hätten.
Eltern in prekären Verhältnissen hätten außerdem kaum die Möglichkeit Fahrdienste, oder andere ehrenamtliche Aufgaben zu übernehmen. Nach dem Finanziellen sei vor allem Leistungs- und Anpassungsdruck das Problem. Lück:

Ich glaube, dass es weniger möglich ist, anders zu sein im Sport. Deswegen tauchen viele in der Kinder- und Jugendarbeit auf und leben sich dort aus. Das kann man ja auch Fussball spielen, Basketball spielen, man kann skaten.

Teilhabe, die von Wohltätigkeit abhängig ist

Wo Sportvereinen der Zugang schwer fällt, springt Sozialarbeit ein, das lässt sich an vielen Orten beobachten. "Weil die Vereine einfach nicht einschätzen können, wie sie mit der Zielgruppe umgehen, weil das Personal dafür fehlt, Konzepte dafür fehlen. Da wird sich dann halt eher darauf konzentriert sportlich zu fördern", sagt Pawel Erenburg. Er ist Programm-Manager bei Safe Hub, ein Sozialunternehmen, dass noch in diesem Jahr den ersten Spatenstich für einen Bildungs- und Sportcampus am Leopoldplatz machen wird - in einer der ärmsten Gegenden im Berliner Stadtteil Wedding.
"Genau da wollen wir ansetzen, weil wir eben sehen, dass der Bedarf von sozioökonomisch schlecht gestellten Menschen an Sport- und Bildungsangeboten ansteigt", sagt Erenburg. Grob das Konzept von Safe Hub: Sport erleichtert den Zugang zu Kindern und Jugendlichen und ist gleichzeitig Mittel, um Sozialkompetenz zu vermitteln. Hier sollen sie abgeholt und individuell gefördert werden: Jungs und Mädchen aus sozial benachteiligten Familien.
Der überschwängliche Slogan “Jetzt sozialen Wandel realisieren!” wirbt auf der Homepage für Spenden für den Safe-Hub am Leopoldplatz. Partner schon jetzt sind Sportmarken, UEFA und DFB-Stiftungen, Ex-Fussballer und der Kinderschutzbund. Auch das ist Ausdruck eines sozialen Wandels: Teilhabe, die von Wohltätigkeit abhängig ist.