Warten ist das Erleben von Zeit. Wie, das ist zunächst eine Frage des Individuums, seiner seelischen Verfassung, seiner Erfahrungen. Und es hängt natürlich auch davon ab, worauf man wartet: ob es um eine kleine Auskunft geht, das neueste Smartphone oder um eine schlimme Diagnose.
"Warten, kann man generell sagen, ist ein Phänomen oder eine Verhaltensform, die ganz selten eigentlich wertneutral verläuft. Also Warten ist oftmals emotional aufgeladen, und hoffen und fürchten beschreiben eben solche emotionalen Aufladungen des Wartens, das hängt natürlich davon ab, wie wir das Erwartete dann bewerten", sagt der Soziologe Doktor Andreas Göttlich.
Göttlich leitet derzeit an der Uni Konstanz das DFG-Projekt "Warten - Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens". Denn meistens warten wir nicht allein, sondern zusammen mit anderen. Es gibt: Wartegemeinschaften wie das Paar, das sich auf die Geburt seines Kindes freut, wie die Anhänger eines Weltuntergangspredigers oder wie Freunde, die gemeinsame Lottotipps abgeben.
Arztpraxis, Bushaltestelle, Bahnsteig
Der Forscher: "In vielen Alltagssituationen jedoch warten zwar auch alle auf dasselbe, aber ein Gruppengefühl entsteht dabei nicht: In der Arztpraxis, am Bahnsteig, an der Bushaltestelle, all das sind gesellschaftliche Warteräume, die sich üblicherweise durch ein hohes Maß an Kontrolle auszeichnen. Wir fühlen uns an solchen Orten besonders beobachtet und deswegen auch meist recht unwohl, und es gibt in solchen Situationen des gemeinsamen Wartens unausgesprochene Regeln, die aber dennoch sehr wirksam sind." Etwa, sich nicht vorzudrängeln oder Schwächeren gegebenenfalls den Vortritt zu lassen, aber auch: einander nicht zu nahe zu kommen, Kontakt möglichst zu vermeiden.
Das Kommunikationsverhalten in diesen Situationen hängt allerdings auch vom sozialen Status ab, hat Andreas Göttlich beobachtet. Menschen aus unterprivilegierten Schichten sprechen eher mit anderen Wartenden, sie haben das Gefühl, "im selben Boot zu sitzen" und tauschen sich über die gemeinsamen, oft negativen Erfahrungen aus.
"Das Warten spielt auch eine wichtige Rolle für die soziale Gerechtigkeit, denn es entscheidet darüber, wann wir soziale Ressourcen zugeteilt bekommen. Und wer solche Warteprozesse beeinflussen kann in der Gesellschaft, der besitzt offensichtlich sehr bedeutende soziale Macht. Wir kennen das von Ämtern, Behörden, wenn gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen ihre Ohnmacht vorgeführt wird, indem man sie bewusst warten lässt", so Göttlich.
Kellner, der Waiter
Sprachhistorisch hatte warten mit dienen zu tun. Der englische Begriff für Kellner zeigt das noch: Waiter. Lange gehörte es auch zum gesellschaftlichen Rollenbild von Frauen, als Manifestation ihrer untergeordneten Stellung: Wie Kinder durften sie in der ach so "feinen" Gesellschaft nur sprechen, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Und sie mussten darauf warten, als Ehefrau ausgewählt zu werden. Als Symbol für soziale Ungleichheit gelten heute lange Schlangen Wartender. Dabei war das einmal genau anders gedacht.
"In der Literatur ist man sich eigentlich einig, dass die Warteschlange gewissermaßen in Großbritannien erfunden wurde, und dass sich in der Warteschlange das egalitäre Grundprinzip der englischen Gesellschaft spiegelt. Da zählt mein Beruf nicht, da zählt mein Geschlecht nicht, da zählt meine soziale Herkunft nicht, sondern da gibt’s einfach das Prinzip: Wer zuerst kommt mahlt zuerst, es gibt hier also keine sozialen Rangunterschiede", sagt Göttlich.
Soziales Prestige durch weniger Warten
Schöne Theorie, sagt der Soziologe, aber: "Wir wissen alle, dass es auch in der Warteschlange Personen gibt, die versuchen sich vorzudrängeln, also da gibt es auch den Regelverstoß, und dann kann man natürlich sagen, gibt es Ausnahmen von der Regel; das betrifft dann genau solche Phänomene wie den Privatpatienten beim Arzt, der also nicht so lange warten muss wie der Kassenpatient, oder der Business Class-Reisende, der eben in eine schnellere Boardinglane kommt als der Reisende in der Economy Class. Also da wird soziales Prestige dadurch vermittelt, dass man sich die Wartezeit sparen kann, das hat natürlich auch was mit finanziellen Ressourcen zu tun, und wer es sich leisten kann, demonstriert natürlich gerade durch diesen Verstoß gegen das egalitäre Grundprinzip, dass er in einer sozial überlegenen Position sich befindet, die soziale Differenz."
Warten hängt aber nicht nur von individuellen und sozialen, sondern auch von kulturellen Faktoren ab. Man unterscheidet heute "westliche und nicht-westliche" Zeit-Kulturen. Im Westen herrscht ein lineares, zielgerichtetes Zeitverständnis, in anderen Kulturen hingegen ein zyklisches – wonach nur die Gegenwart wichtig ist, weil sich Ereignisse regelmäßig wiederholen.
"Wenn man einfach im Hier und Jetzt lebt, dann ist Warten nicht so schlimm, oder dann gibt es dieses Konzept eigentlich kaum, dass man auf irgendwas hin arbeitet, was in der Zukunft liegt oder darauf wartet", sagt Doktor Bettina Lamm, Psychologin an der Universität Osnabrück, hat mehrere interkulturelle Vergleichsstudien zum menschlichen Verhalten gemacht. Besonders viel Erfahrung hat sie in Afrika gesammelt.
"Für uns kann das natürlich oft schrecklich und quälend sein, wenn man mit westlichem Terminplan dorthin kommt und versucht, irgendwas zu erledigen. Wenn man zum ersten Mal dort ist, hat man das Gefühl, den größten Anteil des Tages verbringt man mit Warten. Auf den Bus, der eben nicht fährt, wenn es 8:20 Uhr ist, sondern wenn er voll ist, bei uns hat sich im Team eine Redensart eben etabliert, wenn wir uns verabredet haben auf eine bestimmte Zeit, dann wurde immer nachgefragt ‚whiteman-time‘ or ‚blackman-time‘? Und whiteman-time war eben ungefähr pünktlich, maximal eine Viertelstunde später, und blackman-time war eigentlich irgendwann an dem Tag", sagt die Psychologin.
"Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit", lautet ein afrikanisches Sprichwort. Die typisch westliche Ungeduld entsteht durch jenes Nützlichkeitsprinzip, das nach und nach alle Lebensbereiche erfasst hat. "Time is Money", und Warten ist unproduktive Zeit.
Professor Peter Vorderer, Kommunikationswissenschaftler an der Uni Mannheim, hat untersucht, wie die neuen Medien unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln - und damit auch das Warten – beeinflussen: "Die Medien geben uns die Möglichkeit, die Zeit, in der wir warten, zu überbrücken, die Zeit, die ja offensichtlich so unerträglich ist, zu vertreiben, indem man mit dem Smartphone andere Kommunikationen herbeiführt."
Weit verbreitet sind mittlerweile auch kollektive Warte-Hilfen in der Art von Countdowns: Auf Bahnhöfen werden die Minuten bis zum nächsten Zug angezeigt, durch Wartenummern in Behörden weiß man wenigstens ungefähr, wann man dran ist, und vielerorts blinkt sogar das Ampelmännchen kurz vor dem Umschalten.
"Es passiert nichts"
"Denn das Schlimmste, was dem Wartenden passieren kann, ist, dass er merkt, es passiert nichts. Ich komme aus dieser Situation unter Umständen niemals raus", sagt Vorderer.
Ein sinnfälliges Symbol für das moderne Warte-Verhalten ist der Fortschrittsbalken auf dem Computerbildschirm, zum Beispiel beim Herunterladen eines Programms. Er ermöglicht aber nur scheinbar die Kontrolle über die Zeit.
"Mittlerweile weiß jeder, dass diese Fortschrittsbalken eine völlig verzerrte Wiedergabe darstellen der Zeit, die man warten muss. Also es ist nichts anderes im Prinzip, als dem Nutzer die Illusion vermitteln: ja es geht voran. Wenn Sie wollen ist das auch wiederum ein Versuch, das Warten aufzufüllen, in dem ich mir sage: 'gut, das dauert offensichtlich jetzt noch zwei, drei Minuten, in der Zeit kann ich mir auch einen Kaffee holen, da muss ich nicht davor sitzen und nur warten', denn zumindest in unserer Kultur hat das ja auch einen gewissen Ruch von: 'Das sollte man nicht tun, seine Zeit nutzlos verplempern und einfach nur zu warten, bis sich etwas verändert hat'", sagt Vorderer.
Wie gut Menschen warten können, ist ebenfalls eine Frage der Kultur: Zunächst spielt zwar die biologische Entwicklung eine wichtige Rolle, denn die Zeitwahrnehmung wird überhaupt erst ab dem 3. Lebensjahr differenzierter. Vor allem aber hängt es von Selbstkontrolle ab. Auch die entwickeln Kinder erst nach und nach. Manche mehr, manche weniger. Das hat der Psychologe Walter Mischel (gespr. engl. "Wolter" und frz. "Michèl") in seinem berühmten "Marshmallow-Test" gezeigt.
"Die Aufgabe sieht so aus, dass die Kinder eine Süßigkeit angeboten bekommen und die Wahl haben, entweder diese Süßigkeit sofort zu naschen oder eben zu warten, bis der Versuchsleiter zurückkommt und dann noch eine zweite zu bekommen", erklärt Dr. Bettina Lamm. Sie hat am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung der Uni Osnabrück einen interkulturellen Marshmallow-Test gemacht und 125 deutsche Kinder mit 76 aus Kamerun verglichen.
"Das Beeindruckende bei unserer Untersuchung war, dass wir bei den deutschen Kindern in etwa das beobachten konnten, was auch Walter Mischel schon in den späten 60er Jahren in den USA beobachtet hat, dass bei den Vierjährigen ungefähr 30 Prozent der Kinder es schaffen zu warten auf die zweite Süßigkeit, und bei den Kamerunischen Kindern war die Quote etwa umgekehrt: also 70 Prozent haben es geschafft zu warten", sagt Lamm.
Die Psychologin erklärt das mit unterschiedlichen Sozialisations-erfahrungen und Erziehungsmodellen: "Während hier in Deutschland von Anfang an sehr viel Wert darauf gelegt wird, dass die Kinder sich zu Unabhängigkeit, Individualität, Eigenständigkeit entwickeln, dazu gehört ja auch dann, seine Bedürfnisse auszudrücken und sich auch dafür einzusetzen, sehen die Ziele in Kamerun ganz anders aus. Hier ist es wichtig, dass die Kinder lernen, sich in die Gruppe einzufügen, respektvoll und gehorsam gegenüber den Älteren zu reagieren, und das sind natürlich eher Fähigkeiten, die auch mit dieser Wartezeit im Zusammenhang stehen."
Besonders beeindruckend war die unterschiedliche Art des Wartens: "Die deutschen Kinder sind sehr hibbelig, aktiv, müssen sich ablenken oder versuchen das, indem sie mit ihren Händen spielen oder auf den Tisch trommeln, und die kamerunischen Kinder sitzen ganz ruhig da und warten. Und es scheint gar nicht schwer zu sein für die oder anstrengend. Und einige Kinder sind dort auch eingeschlafen beim Warten."
Aber auch vor den Wartekulturen macht die Globalisierung nicht halt, erzählt Peter Vorderer. Jedenfalls bei Erwachsenen: "Den Asiaten schreiben wir mehr das Kontemplative zu, das hat sich natürlich in diesen auch sich sehr, sehr schnell verändernden Gesellschaften mit einer extrem hohen Offenheit gegenüber neuen technologischen Entwicklungen binnen sehr kurzer Zeit rasant verändert. Ich bin relativ häufig in China und hab dort mit Kollegen zu tun, mit denen es fast nicht mehr möglich ist, ein Gespräch zu führen, ohne dass sie dabei ihr Smartphone in der Hand haben. Also Kontemplation zumindest im Geschäftsleben, ist dort immer weniger festzustellen."
Achtsamkeit als geschenkte Zeit
Muße wurde einst im Grimmschen Wörterbuch definiert als "Fernsein von Geschäften oder Abhaltungen". Heute würde das vielleicht unter dem Schlagwort "Achtsamkeit" diskutiert: Warten, auch mal positiv, als geschenkte Zeit, die man nicht vertreiben oder totschlagen muss. Nicht Qual, sondern Wahl.
Der Soziologe Doktor Andreas Göttlich von der Uni Konstanz plädiert dafür, auch den wissenschaftlichen Blick nicht nur auf die negativen Seiten des Wartens zu richten: "Wenn Soziologen über das Warten geforscht haben, dann sind sie meistens davon ausgegangen, dass Warten etwas sozial Disfunktionales ist: Wenn gewartet wird in der Gesellschaft, dann ist das eigentlich ein Hinweis dafür, dass etwas schief gelaufen ist. Wenn wir aber zu den Nachbardisziplinen schauen, die Ökonomie oder die Psychologie zum Beispiel, dann finden wir dort Theorien, die besagen, dass Warten auch positive Auswirkungen haben kann, und das gilt aus meiner Sicht auch durchaus für soziale Beziehungen, wo Schnelligkeit nicht immer von Vorteil sein muss."
Ein passendes Sprichwort hat schon im 17. Jahrhundert der Dichter Grimmelshausen in seinem "Simplicissimus" formuliert. "Gut Ding will Weile haben." Ein gutes Beispiel dafür, dass gerade soziale Beziehungen "Warte-Zeiten" brauchen, sind Entschuldigungen:
Nochmal Göttlich: "Wenn man sich entschuldigt für Fehler, die man begangen hat in einer sozialen Beziehung, dann wirken diese Entschuldigungen oftmals unglaubwürdig, wenn man sie sehr schnell, zu nahe an der Verfehlung selbst zeitlich anschließt, das heißt, man muss eigentlich zeigen: ich hab über meinen Fehler eine Weile nachgedacht, ich hab eingesehen, dass ich etwas falsch gemacht habe, und erst dann kann eine Entschuldigung die Wirkung haben, die sie eigentlich haben soll."
"Kinder, die warten konnten, waren bessere Schüler geworden"
Warten kann man lernen und sollte es wahrscheinlich sogar. Der aus Österreich in die USA emigrierte Psychologe Walter Mischel zum Beispiel hatte in einer Langzeituntersuchung zu seinem Marshmallow-Test festgestellt, dass das Glück mit den Geduldigen ist: Diejenigen Kinder, die warten konnten, waren bessere Schüler geworden, selbstbewusster und sozial kompetenter, später auch erfolgreicher im Beruf, zufriedener und gesünder.
Bettina Lamm von der Uni Osnabrück findet das nachvollziehbar: "Wenn man sich überlegt, dass diese Fähigkeit, ein momentanes Bedürfnis aufzuschieben und der Verlockung zu widerstehen, um an längerfristigen Zielen zu arbeiten, das ist durchaus eine Fähigkeit, die man an vielen Stellen im Leben braucht. Wenn es darum geht, für eine Prüfung zu lernen, statt lieber der Freizeitaktivität nachzugehen oder auch vielleicht Probleme in der Partnerschaft: sich auseinanderzusetzen und nicht gleich auszubrechen aus dieser. Also es hat durchaus eine Plausibilität."
Allerdings räumt die interkulturell forschende Psychologin ein, dass das Warten, als Erleben von Zeit, eben nicht nur eine individuelle Frage ist: "Ich würde schon dem Kulturellen eine sehr große Macht zuschreiben, diese wiederholten Erfahrungen und auch sehr frühen Erfahrungen. In Kamerun kann ich ganz gut damit umgehen, dass alles viel länger dauert, und lebe damit, aber wenn ich zurück komme und der Zug hat ein paar Minuten Verspätung, dann ärgere ich mich trotzdem darüber."