Über die "Fabrik der Zukunft" wird schon seit Langem nachgedacht. Sie ist mit technischen Meilensteinen verknüpft wie der Erfindung des Fließbands 1913 oder dem Einsatz erster Computer in deutschen Industrien der 50er-Jahre, um Werkzeugmaschinen zu steuern. Dr. Nora Thorade, Technikhistorikerin an der TU Darmstadt, macht in ihrer Forschung den Sprung in die 1980er-Jahre:
"Was ich mir angucke, da geht es eher um den Computer als informationstechnisches Instrument und als ein Modell, was dazu anregt, neue Konzepte von Fabrik zu entwickeln. Es geht letztendlich etwas um die Logik der Fabrik in dem Moment, wo die Digitalisierung viel, viel stärker in das Bewusstsein der Menschen rückt."
Die anstehenden technologischen Wenden hin zu einer digitalisierten, ressourcenschonenden Gesellschaft haben ihre Vorgeschichte. Professor Marcus Popplow, ist am Karlsruher Institut für Technologie für das Fachgebiet Geschichte zuständig:
"Wir haben solche Umbrüche auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit schon. Wir haben ja immer so ein bisschen das Gefühl, das passiert jetzt alles erst in den letzten 20, 30 oder vielleicht 50, 100 Jahren – dem ist aber nicht so. Es gab mal Pyramiden, die Römer haben dann ganz anders gebaut. Im Mittelalter gibt's die Kathedralen, dass damit unterschiedliche Technologien zusammenhängen, das ist uns vertraut. Ganz große Einschnitte haben Sie immer in der Militärtechnik, ganz klar, da kommt das Schießpulver aus dem Nahen und Fernen Osten nach Europa, so im 14. Jahrhundert, und löst eine ganze Reihe von Wandlungsprozessen aus, die die Belagerungstechnik und die Kriegsführung total verändern."
Vorgeschichten mitdenken
Nora Thorade stimmt zu: Auch Industrie 4.0 habe eine Vorgeschichte.
"Die Idee, die hinter 'Industrie 4.0' steht, die Vernetzung des ganzen Unternehmens, der ganzen Fabrik, vom Anfang, vom Auftrag bis zur Auslieferung, aber dann auch, dass die einzelnen Produkte selbststeuernde Elemente werden, dass die Kundenwünsche nachgefragt werden und in die Produktion mit einfließen. Das sind alles Sachen, die in den 80er-Jahren angelegt werden. Da wird nur noch ganz wenig hinzugefügt, um aus dem 'Computer Integrated Manufacturing' der 1980er-Jahre das 'Industrie 4.0' von heute zu machen."
Auch auf der Tagung "Technikwenden in Vergangenheit und Zukunft" wurde "Industrie 4.0" zu einem zentralen Schlagwort. Symbolisiert doch der Begriff, der für eine effiziente, wettbewerbsfähige und sozial verträgliche Produktion steht, dass Technikwenden eine Vorgeschichte haben und nach vorne offen sind.
Professor Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Potsdamer "Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung", IASS, verweist auf die zunehmende Automatisierung in Fabriken durch Maschinen, Fließband und Computer, sprich Industrie 1.0, 2.0 und 3.0:
"Geschichte ist immer Genese. Also es ist immer eine Frage, wie entsteht etwas, und wie entwickelt sich aus dem, was entsteht, Neues und Anderes. Und das Neue ist nicht verständlich, wenn man das Alte nicht mitdenkt. Ich fand eben sehr schön, mit 4.0. Dass man Industrie 4.0 nennt, ist ja schon ein geschichtliches Ereignis. Denn man muss ja ein 3.0, 2.0, 1.0 mitdenken."
Die Teildisziplin Technikgeschichte hat sich selbst stark verändert. Waren zunächst vor allem Ingenieure daran interessiert, technische Erfindungen und ihre Urheber zu erforschen und bekanntzumachen, sieht das seit den 70er-Jahren ganz anders aus. Seitdem sind Historiker am Werk, sagt Marcus Popplow:
"Und die haben nicht mehr so stark nach den berühmten Ingenieuren und den großen Erfindungen geschaut, sondern versucht, Technik in ihren sozialen, in ihren wirtschaftlichen und dann zunehmend auch in ihren kulturellen Zusammenhängen zu analysieren. Also 70er-, 80er-Jahre, das war sehr viel Sozialgeschichte, sehr viel Wirtschaftsgeschichte."
Einführung des Homeoffice
Dass dieser Blick auf Technikwenden auch heute noch die Forschung prägt, zeigt das Beispiel Telearbeit, heute Homeoffice genannt. Der Historiker Mirko Winkelmann promoviert zu diesem Kernelement Neuer Arbeit, wie er sagt, das in den 1980er-Jahren aufkam. Die Beschäftigung am heimischen Computer war ursprünglich in den USA erfunden worden, um den Verkehr zu reduzieren. In Deutschland wurde Telearbeit in den 80er- und 90er-Jahren kontrovers diskutiert – zum einen als Gefahr, zu Hause zu vereinsamen, zum anderen als Chance, die eigene Zeit selbstbestimmt einzuteilen, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren:
"Die wirkliche Durchsetzung dieser Arbeitsform erfolgte allerdings erst in der Zeit nach der Jahrtausendwende, als dann die Arbeit mit Computern im Beruf zur Selbstverständlichkeit wurde und auch die Leute zu Hause mehr und mehr Internetanschlüsse hatten. Das heißt, wir hatten in den 80er- und 90er-Jahren starke Diskussionen, aber die wirkliche Anwendung kam dann erst, nachdem die Diskussionen vorüber waren. Und das sagt uns etwas über Technikwenden heute, dass oft die Diskussionen vielleicht ein bisschen voreilig sind und die eigentliche Umsetzung vielleicht gar nicht so problematisch. Zum anderen, jetzt am Beispiel der Telearbeit, erfährt man natürlich auch viel zur Veränderung der Arbeit in den letzten 20, 30 Jahren, dass diese eben nicht so schnell und abrupt oder disrupted daherkam, sondern auch heute noch eigentlich Kontinuitäten überwiegen."
Alte und neue Technologien existieren lange nebeneinander
Technikwende bedeutet nicht, dass eine alte Technologie zugunsten der neuen schnell abserviert wird, beobachtet der Historiker Marcus Popplow. Vielmehr habe sich gezeigt, dass sie schon im Mittelalter und der frühen Neuzeit nebeneinander existierten.
"Heute verbreiten sich die Technologien ja ganz schnell einfach durch unsere Transporttechniken, die wir haben, ganz physisch. Wenn Sie Güter mit Schiffen innerhalb von ein paar Wochen überall hinbringen können oder gar mit Flugzeugen, wird die Sache natürlich einfach. Das ist im Mittelalter ein bisschen schwieriger. Die Erfindung des Buchdrucks heißt überhaupt nicht, dass die Leute aufhören, mit der Hand zu schreiben. Das existiert ganz, ganz lange noch gleichzeitig miteinander."
Ein gutes Beispiel dafür ist auch die Energiewende. Der Wirtschaftsingenieur Pao-Yu Oei von der TU Berlin untersucht im Projekt "Coal Exit", wie der Kohleausstieg in Deutschland - und weltweit - möglichst sozialverträglich gestaltet werden kann. Dabei handle es sich um eine besondere Technikwende, um einen komplexen, generationenübergreifenden Prozess, der schon länger als 60 Jahre dauere und die Gesellschaft noch zwei weitere Jahrzehnte beschäftigen werde:
"Wenn wir uns sonst Energieträger in den letzten Jahrhunderten angucken in Deutschland, dann sehen wir, dass wir in der Vergangenheit eigentlich keine Energieträger verabschiedet haben, sondern wir immer nur neue Energieträger hinzugewonnen haben, weil die gesamte Energienachfrage in Deutschland, aber auch global immer mehr angestiegen ist. Und dieser globale Energiehunger konnte nur durch neue Energieträger wie erst Kohle, dann später Gas, dann später auch Atom und jetzt Erneuerbare gewonnen werden. Und die Herausforderung der nächsten Jahre ist, jetzt aber auch Energieträger zu verabschieden, weil die so große externe Kosten für unsere Gesellschaft verursachen, dass wir uns nicht mehr leisten können, sie fortzuführen."
Eine der Leitfragen der Tagung, was sich aus Technikwenden der Vergangenheit für aktuelle oder zukünftige Umgestaltungen lernen lässt, beschäftigt auch Pao-Yu Oei. Diese Frage sei aber schwer zu beantworten, weil nicht ein Fall auf den anderen übertragen werden könne. Jede Kohleregion sei anders:
"Die Erfahrungen, die wir im Saarland oder im Ruhrgebiet haben, lassen sich nicht eins zu eins für die Lausitz übertragen. Sie lassen sich insbesondere nicht für Regionen in Südafrika oder für Kolumbien übertragen. Das heißt, wir können nur Anhaltspunkte sammeln und müssen dann immer wieder für jeden neuen Fall Stück für Stück entscheiden: Welche Lektionen sind übertragbar? Welche müssen adaptiert werden? Welche Ressourcen sind vor Ort vorhanden, auf Basis von Energieträgern, aber auch finanziellen Mitteln, Potenzial der Regionen, der Arbeitsplätze, der Perspektiven, das heißt, alles muss vor Ort individuell angepasst werden."
Gestaltung von Technikwenden
Welche Rolle Technikhistorikern und Sozialwissenschaftlern bei der Gestaltung von Technikwenden zukommt, war umstritten – egal ob es um aktuelle Veränderungen wie Künstliche Intelligenz oder um künftige wie "Industrie 5.0" geht, wo nachhaltig produziert, also weniger Ressourcen und Energie verbraucht werden sollen. Ortwin Renn etwa distanziert sich davon, dass Sozialwissenschaftler in erster Linie konkrete Lösungen beizusteuern hätten. Allerdings nimmt er seine Zunft dann doch in die Pflicht:
"Wir haben oft, gerade in aufgeregten Zeiten, das Selbstbewusstsein, dass es noch nie so viel Wandel gegeben hat wie heute. Stimmt das? Also als die Elektrifizierung eingeführt worden ist, das war auch ein wahnsinniger Wandel. Und wir haben im 19. Jahrhundert wahnsinnige Wandlungserscheinungen gehabt. Also vielleicht ist auch ein bisschen Selbstbescheidenheit ein Aspekt dessen, was wir aus der Geschichte lernen können."