Larissa Bertonasco sitzt schmal und aufrecht in ihrem Atelier in einem ehemaligen Pfarrhaus in Hamburg-Winterhude. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Buch mit rotem Umschlag. Auf dem Cover drängen sich viele unterschiedlich gezeichnete Frauen. Der Titel lautet "Drawing the Line": Eine Grenze ziehen – oder auch zeichnen. Die schwarz-weiß gedruckten Comic-Geschichten im Buch sind alle im Rahmen des deutsch-indischen Zeichnerinnen-Workshops in Neu-Delhi entstanden, den Larissa Bertonasco mit geleitet hat.
"Die Geschichten, die kamen eigentlich so ganz natürlich, ganz allein. Wir haben uns einfach so unterhalten und einfach schon in dem Kontakt mit uns ist ganz viel passiert. Dass Sachen, die für die vielleicht normal waren, wir noch mal nachgehakt haben. Hä? Was ist denn das? Zum Beispiel weiß ich noch, dass wir das Wort "eve-teasing" nicht kannten, was in Indien total gebräuchlich ist. Das bedeutet, dass man Frauen auf der Straße ziemlich plump anmacht, hinterherpfeift, vielleicht noch mal unangenehmer bedrängt. Das war so was, was für die alltäglich war, was die gar nicht mehr so wahrgenommen haben."
Zentrale Frage: Wie sehen Frauen ihr Leben in der indischen Gesellschaft?
An dem Comic-Workshop nahmen 15 junge indische Zeichnerinnen teil. Im Frühjahr 2014 war das, zu einer Zeit, in der sich in Indien zum ersten Mal eine große Protestbewegung formierte – gegen die immer wieder bekannt werdenden Vergewaltigungen junger Inderinnen. Wie sehen Frauen ihr Leben in der indischen Gesellschaft? Um diese Frage ging es in dem Workshop.
"Der Prozess des Zeichnens oder des Entwickelns einer Geschichte, der ist schon sehr intim. Und ich glaube, die Bereitschaft sich zu öffnen, und wirklich was zu zeigen, was einem bewegt, der ist natürlich in so einem Rahmen sehr geschützt gewesen."
Die Comic-Arbeiten zeigen ganz unterschiedliche Aspekte. Erzählen von Eltern, deren einzige Sorge die Verheiratung der Tochter ist. Illustrieren die oft ungleichen Bildungsmöglichkeiten von Mädchen und Jungen. Aber zeigen auch – sehr lustig –, wie sich ein ungeborenes Mädchen schon im Bauch der Mutter im Kickboxen übt!
"Dadurch, dass man diese gleiche Sprache hat, das Zeichnen. Das ist einfach ein Medium der Kommunikation, die ohne Worte funktioniert. Da ist eine totale Nähe da. Das ist sehr schön, das zu erleben. Ich denke, Musikern geht es ähnlich. Das ist eine Sprache, wo man mit anderen kommunizieren kann, sich austauschen kann."
In Hamburg arbeitet die 43-jährige Larissa Bertonasco vor allem als Illustratorin. Bekannt geworden ist sie durch ihr gezeichnetes Kochbuch "La nonna, la cucina, la vita", einer Sammlung von Rezepten ihrer ligurischen Großmutter. Und sie gehört zum Zeichnerinnen-Kollektiv SPRING. Einer wechselnden Anzahl von Frauen, die einmal im Jahr ein monothematisches Heft mit Comic-Geschichten, Collagen und Zeichnungen herausgeben, selbst finanziert und unabhängig.
"Ich glaube schon, dass wir eine Inspiration waren mit SPRING. Wir haben auch so einen Vortrag gehalten, haben gezeigt, was wir alles machen. Und dass es bei uns gar nicht so im Vordergrund steht, dieses feministische, wir sind nur Frauen, wir müssen für unsere Freiheit kämpfen. Wir sind eben Frauen und machen das mit so einer Selbstverständlichkeit. Und die Inderinnen waren schon total begeistert. Haben gesagt, so was müssen wir auch hier machen. Schön, zu merken, dass so was auch so ansteckend sein kann, man auch so Mut machen kann."
Die Teilnehmerinnen des Workshops stammen alle aus relativ liberalen Familien, sie studieren Kunst oder arbeiten bereits als Illustratorinnen – und sind insofern auch Multiplikatorinnen in der indischen Gesellschaft
Larissa Bertonasco ist begeistert von den wütenden, ernsten, aber auch komischen Geschichten, die im Workshop ihren Anfang genommen haben und jetzt im Buch "Drawing the Line" versammelt sind.
"Eine tolle Geschichte find ich, weil die auch so typisch indisch ist, das ist die Geschichte von Samidha. Da beschreibt sie dieses Thema "eve-teasing". Ein ganz normaler Tag, wie sie aus dem Haus geht und über die Straße geht. Da kommen Männer, die ihr so "tz tz mhhh", hinterherpfeifen – und sie, die vorher so klein war, entdeckt ihre eigene Kraft und wird zu dieser Göttin Kali, die aus sich selber die Kraft schöpft, sich zu wehren. Die Männer fliegen auseinander, zerspringen und im letzten Bild sitzt sie ganz entspannt da, trinkt Kaffee, raucht ne Zigarette und zwinkert dem Leser zu.