Martin Zagatta: Mehr als 80 Prozent der für die ARD Befragten meinen, Zuwanderer, die gar nicht die Absicht haben, in Deutschland zu arbeiten, sollen auch keine finanzielle Unterstützung bekommen. Doch leicht gesagt, das deutsche Sozialgesetzbuch schließt Hartz IV und Sozialhilfe für Arbeitssuchende EU-Bürger ausdrücklich aus. Dem steht aber ein EU-Recht gegenüber, das solche Leistungen unter Umständen für zwingend hält. Klarheit soll da demnächst der Europäische Gerichtshof schaffen. Doch jetzt hat sich auch die EU-Kommission noch zu Wort gemeldet gestern und klargestellt: Hartz-IV-Leistungen dürfen Ausländern nicht pauschal verwehrt werden in Deutschland, und das deutsche Sozialsystem – das steckt dahinter, in dieser Aussage – ist damit unter Umständen eigentlich rechtswidrig. Aus der CDU und der CSU verlautet, das sei völlig inakzeptabel und eine Einmischung in nationale Belange. Aber wie sieht das in der Praxis aus? Wie urteilen die deutschen Sozialgerichte? Das können wir uns jetzt von Hans-Peter Jung erläutern lassen, er ist der Vorsitzende des Bundes Deutscher Sozialrichter. Guten Morgen, Herr Jung!
Hans-Peter Jung: Guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Jung, die verschiedenen Landessozialgerichte in Deutschland sollen ja schon Hunderte solcher Fälle oder Klagen behandelt haben und urteilen oft schon im Sinne der EU-Kommission. Setzen sich da deutsche Gerichte eigentlich jetzt schon über deutsches Recht hinweg?
"Bund Deutscher Sozialrichter kommentiert nicht Gerichtsentscheidungen"
Jung: Zunächst einmal, Herr Zagatta, muss ich sagen, der Bund Deutscher Sozialrichter kommentiert und rezensiert natürlich nicht Gerichtsentscheidungen, die zu dieser Problematik der Armutszuwanderung ergangen sind, aber eines kann ich Ihnen schon sagen: Die Sozialgerichte und Landessozialgerichte, die sich mit dieser Frage befasst haben, haben sich nicht über deutsches oder über Europarecht hinweggesetzt. Sie haben sehr wohl die Vorschrift in Paragraf 7 Sozialgesetzbuch Zweites Buch geprüft, die bestimmte Voraussetzungen für Leistungsausschlüsse für Zuwanderer benennt. Sie haben dann aber auch weiter geprüft, inwieweit diese Vorschrift im Lichte europarechtlicher Vorschriften zu prüfen ist. Und sie haben dann das getan, was Gerichte in einem solchen Fall nur tun können, um auch eine einheitliche höchstrichterliche Entscheidung herbeizuführen. Sie haben diese Frage inzwischen dem Bundessozialgericht und auch dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Und im Rahmen dieses Vorlageverfahrens hat die EU-Kommission nun Stellung genommen gegenüber dem Europäischen Gerichtshof. Sie hat auch nicht, wie in der überhitzten Debatte behauptet wird, die Bundesregierung kritisiert oder Ähnliches, sondern sie hat nur ihre Rechtsauffassung dargelegt, die allerdings auch bei den europäischen Institutionen nicht einheitlich zu sein scheint.
Zagatta: Das heißt aber, wenn ich das recht gelesen habe, dann schließt ja das deutsche Sozialgesetzbuch Hartz IV und Sozialhilfe für arbeitssuchende EU-Bürger ausdrücklich aus. Wenn das so ist, wenn ich das richtig gelesen habe jetzt, wenn das so ist, wie kann man sich da als Richter darüber hinwegsetzen?
Jung: Also der eben schon genannte Paragraf 7 schließt einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, also Hartz-IV-Leistungen aus für die ersten drei Monate des Aufenthalts – darum ging es aber auch nicht in dem Verfahren, die die Sozialgerichte zu entscheiden haben – und für den Fall, dass sich Zuwanderer alleine zum Zwecke der Arbeitssuche hierher begeben haben in die Bundesrepublik. Also die Gerichte setzen sich nicht über dieses Recht hinweg, sondern sie prüfen diese Vorschriften. Und bei der Frage, der äußerst komplizierten Frage, ob die deutschen Rechtsvorschriften überlagert werden durch Europarecht, haben sie diese Frage auch dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, und der hat letztlich darüber zu entscheiden.
"Wir haben es mit einer sehr komplizierten Rechtslage zu tun"
Zagatta: Der wird ja wahrscheinlich erst auch aus politischen Gründen nach der Europawahl entscheiden, das heißt, diese Unsicherheit bleibt noch. Es hat in der Vergangenheit schon Hunderte Fälle gegeben. Urteilen da deutsche Gerichte im Moment auch höchst unterschiedlich – die gehen ja in verschiedene Richtungen –, also ist man darauf angewiesen oder ist das Willkür, wenn man in Baden-Württemberg klagt oder in Nordrhein-Westfalen, und man kommt vielleicht zu einem ganz anderen Urteil?
Jung: Nun, wir haben es mit einer sehr komplizierten Rechtslage zu tun, die, wie eben schon dargestellt, im Zusammenspiel von nationalrechtlichen Regelungen und europarechtlichen Regelungen. Und da ist eine Phase der Unsicherheit bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung nicht zu umgehen.
Deutsches und europäisches Recht widersprechen sich nicht
Zagatta: Stellt sich das für viele Richter so dar im Moment, dass das deutsche Recht und das europäische Recht sich da widersprechen?
Jung: Ich würde nicht sagen, dass sie sich widersprechen, sondern dass gegebenenfalls – aber das ist wohlgemerkt noch nicht höchstrichterlich entschieden – Europarecht das nationale Recht in gewissem Maße modifiziert oder andersrum gesagt, dass das nationale Recht im Lichte europarechtlicher Regelungen auszulegen ist.
Zagatta: Herr Jung, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" geht in ihrem Kommentar heute Morgen auf der Titelseite davon aus, dass die deutschen Sozialrichter, indem sie sich da immer auf das Europarecht berufen, dass die regelrecht einen Aufstand proben. Ist da was dran, kann man das so sagen?
Jung: Das ist zumindest mal gesagt überspitzt formuliert. Es ist nicht Aufgabe eines Gerichts, einen Aufstand zu wagen, und die Entscheidungen verschiedener Sozialgerichte und Landessozialgerichte, die ich gelesen habe, beinhalten eine sehr intensive und abgewogene Subsumtion zu den Regelungen, die zu prüfen sind. Da wird kein Aufstand gewagt, sondern da bemühen sich die Gerichte in einer sehr komplizierten rechtlichen Situation, wie ich sie eben schon mal versucht habe anzureißen, zu einer Entscheidung zu finden.
Die Gerichte werden in die Rolle der gesetzgebender Gewalt gedrängt
Zagatta: Lässt sich da vielleicht sagen, dass sich viele deutsche Sozialrichter da im Moment von der Politik im Stich gelassen fühlen, dass die das nicht längst schon geregelt hat?
Jung: Ja, natürlich. Wir sind ja nicht die erste, sondern die dritte Gewalt, und eigentlich wollen wir mehr auch gar nicht sein, nur wir werden in diese Rolle hier gedrängt, obwohl der Zug, der jetzt auf uns zufährt, schon 2005 die Fahrt aufgenommen hat, als Rumänien und Bulgarien in die Europäische Union aufgenommen wurden. Eigentlich müsste der Politik schon seit damals klar sein, zu welchen Folgen das führen kann angesichts der überaus unterschiedlichen Lebensstandards in Rumänien und Bulgarien einerseits und in der Bundesrepublik andererseits. Die Gerichte und in diesem Fall die Sozialgerichte werden immer wieder in diese Rolle hineingedrängt. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit aber auch sagen, dass wir nicht von den Rumänen und den Bulgaren hier sprechen dürfen. Sehr viele Zuwanderer aus diesen Ländern sind hoch qualifiziert, und die bekommen wir bei den Sozialgerichten deshalb gar nicht zu sehen, weil sie nämlich sehr schnell eine Arbeit finden und ihren Lebensunterhalt aufgrund des Broterwerbs sichern können.
"Die Fallgestaltungen sind äußerst vielfältig"
Zagatta: Die anderen, um die sich die Diskussion ja dreht, also die Menschen, die dann hierher kommen, um eventuell dann hier von Hilfen zu leben, beschäftigt das … ist in der Tat schon, viele Sozialgerichte, klagen die dann sofort, also ist das für sie ein wesentlicher Punkt ihrer Arbeit?
Jung: Nein, man kann nicht sagen, dass da eine große Anzahl von Verfahren anhängig wäre, aber eine nennenswerte Zahl, und eben auch über das ganze Bundesgebiet verteilt. Die Vorlageentscheidung, die dem Europäischen Gerichtshof vorliegt, die erste Vorlageentscheidung stammt ja vom Sozialgericht Leipzig. Im vergangenen Monat hat das Bundessozialgericht entschieden, da ging es um einen schwedischen Staatsbürger, der in Bosnien geboren war. Wir sehen also auch hieran, die Fallgestaltungen sind äußerst vielfältig. Es geht bei dieser Frage, über die wir sprechen, auch nicht etwa allein um Rumänen und Bulgaren, sondern der Leistungsausschluss bezieht sich im Grundsatz auf alle EU-Bürger, und mit Bezug auf alle EU-Bürger ist auch zu prüfen, inwieweit europarechtliche Regelungen dies modifizieren.
Zagatta: Hans-Peter Jung, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Sozialrichter. Herr Jung, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!
Jung: Bitte schön!
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