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Sozialphilosoph Hans Joas
"Ich würde niemals sagen, Religion ist nötig für Demokratie"

"Ein bestimmter religiöser Glaube kann sich nicht rechtfertigen durch seine Nützlichkeit für den sozialen Zusammenhalt", sagte der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas im Deutschlandfunk. "Ganz schrecklich ist, wenn wir so tun in Europa, als hätten wir doch diese unbezweifelbar großartigen Werte und seien gewissermaßen auch schon immer nahe an ihrer Verwirklichung gewesen, nur andere haben dafür kein Verständnis."

Hans Joas im Gespräch mit Britta Fecke |
    Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz beten beim Eröffnungsgottesdienst der Herbstvollversammlung 2015 im Dom in Fulda
    Auf der anderen Seite sei ein religiöser Glaube nicht bereits dann entwertet, wenn in seinem Zusammenhang Konflikte entstehen, betonte Hans Joas. (dpa / picture alliance / Arne Dedert)
    Britta Fecke: Das sich die meisten morgen über einen arbeitsfreien Tag freuen können, liegt in unserer christlichen Tradition begründet. Religiöse Rituale - mit Blick auf verwaiste Gottesdienste könnte man auch sagen religiöse Relikte -, die bis heute unseren Alltag beeinflussen. Wie viele Schüler wohl noch wissen, dass mit dem Pfingstfest die 50-tägige Osterzeit endet? Mit Sicherheit lässt sich wohl nur sagen, dass es vor 50 Jahren noch erheblich mehr wussten. Dem christlichen Glauben kam in Deutschland vor nur wenigen Jahrzehnten eine größerer Rolle zu. Wie wichtig Religion und Glaube für unseren heutigen Wertekanon sind, wie sehr das Christentum unseren abendländischen Kulturkreis geprägt hat? Und ob wir die Religion zum Schutz dieser Werte wie zum Beispiel der Menschenrechte überhaupt noch brauchen, gilt es zu hinterfragen, besonders wenn die abendländischen Werte von Politikern immer dann ins Feld geführt werden, wenn sie sich gegen vermeintliche Verfremdung schützen wollen. Mit dem Soziologen und Sozialphilosophen Professor Hans Joas möchte ich aber vorab erst einmal die klären, ob ich gläubig sein kann, ohne religiös zu sein?
    Hans Joas: Wenn man die Frage beantworten will, kommt natürlich alles stark darauf an, was man nun eigentlich unter Glauben und Gläubigkeit versteht und unter Religion. Jetzt will ich aber niemand mit Definitionen langweilen. Aber beim Glauben ist es doch so, dass manche Leute meinen, das sei das pure Fürwahrhalten von irgendwelchen Sätzen. Wenn man das darunter versteht, leben alle Menschen mit irgendeinem glauben, weil keiner die trivialsten Dinge machen könnte, ohne alles Mögliche, was er nicht selber untersucht oder herausgefunden hat, für wahr zu halten.
    Fecke: Das heißt, glaube ist alles, was ich nicht wissenschaftlich belegt habe?
    Joas: So meinen manche. Ich würde das nie so auffassen, weil ich das für eine völlige Unterschätzung des religiösen Glaubens halte. Für mich wäre das andere Ende eines Bedeutungsspektrums wichtig. Es gibt eine berühmte Definition von dem, was Glaube sei jetzt im religiösen Sinne, von dem großen protestantischen Theologen Paul Tillich, und die lautet: Das ergriffen sein von dem, was uns unbedingt angeht, das ist offensichtlich was ganz anderes, als irgendwas trivialerweise für wahr zu halten. Es setzt ein starkes innerliches ergriffen sein voraus, und zwar nicht von irgendwas wie zum Beispiel beim verliebt sein in eine andere Person, sondern von etwas, was uns unbedingt angeht. Und da kann man natürlich fragen: Haben alle Menschen so etwas?
    Fecke: Gibt es eine Begabung dafür? Gibt es Menschen, die sind begabter zu glauben?
    Joas: Das würde ich eigentlich eher nicht meinen. Auf jeden Fall will ich nicht in der Richtung verstanden werden, als seien immer schon die religiösen Menschen die tieferen und die nichtreligiösen Menschen die oberflächlicheren. Ich würde das als zwei Unterscheidungen behandeln. Es gibt sozusagen oberflächliche Gläubige und tiefe Gläubige; es gibt oberflächliche Nichtgläubige und tiefe Nichtgläubige. Man kann vielleicht darüber reden, inwiefern es eine Begabung gibt, tiefer zu sein, wobei ich nicht glaube, dass das eine Begabung ist, sondern dass das eher sich aus der Konfrontation mit bestimmten Lebensereignissen, dem Tod von nahestehenden Menschen, eigenen Schicksalsschlägen und so weiter, dass das eher damit zusammenhängt, dass Menschen etwas tiefer werden. Aber die Form, die das dann annimmt bei diesen Menschen, ob das in der Richtung des religiösen Glaubens geht, oder zum Beispiel gerade einer intensiven Distanzierung vom religiösen Glauben, die aber sehr ernsthaft gelebt wird dann, das ist dann immer noch offen und dazwischen würde ich keine Werturteile treffen wollen.
    Fecke: Wie wichtig, glauben Sie denn, ist das religiöse Bewusstsein, um die Werte der Demokratie zu schützen?
    Joas: Ich habe mir in einem anderen Zusammenhang auf eine ähnliche Frage die spaßige Antwort erlaubt: Glauben Sie wirklich, dass der Totemismus der australischen Urbevölkerung nötig ist, um die Demokratie zu stützen? - Verstehen Sie? Was der Witz daran sein soll ist: Religion ist ein viel zu großer Begriff. Ich würde niemals sagen, Religion ist nötig für Demokratie, sondern es sind bestimmte Werthaltungen sicher nötig, damit Demokratie funktionieren kann, und diese Werthaltungen werden bei manchen Menschen aus bestimmten Religionen, zum Beispiel aus dem Christentum, dem Judentum, abgeleitet. Aber bei anderen Menschen liegen diese Werthaltungen ebenfalls vor und sie leiten sie aus etwas anderem ab, vielleicht nur aus Negativem zum Beispiel. In Deutschland spielt das eine große Rolle, dass Leute sagen: "So wie im Dritten Reich nie wieder". Das ist keine Religion, aber es ist eine intensive Wertbindung, die sich darin ausdrückt.
    "Ich würde niemals sagen, Religionen stabilisieren den sozialen Zusammenhalt"
    Fecke: Sie haben ja auch gesagt, dass eine Gesellschaft auch ohne Religion stabilisierbar ist. Gilt auch der Umkehrschluss? Kann Religion enorm destabilisieren?
    Joas: Trivial wäre die Antwort ja. Ich habe keine Zweifel daran. Ich würde niemals sagen, Religionen stabilisieren den sozialen Zusammenhalt notwendigerweise, und weil ich das nicht sage, folgt daraus: Klar, Religionen können auch Sprengsätze sein. Aber übrigens: Das gilt für säkulare Wertsysteme natürlich wiederum genauso, weil der soziale Zusammenhalt hängt ja zum Beispiel auch daran, wie viele Menschen teilen was miteinander, wie einig ist sich eine Bevölkerung in einem Land. Und sie kann sich uneinig sein in religiöser Hinsicht; sie kann sich aber auch ganz ohne Religion tief uneinig sein. Da ist irgendwas Schiefes in der öffentlichen Debatte, finde ich, was sicher damit zusammenhängt, dass zum Beispiel die Kirchen in Deutschland sich gerne gegenüber dem Staat oder der Öffentlichkeit so anpreisen, dass sie sagen, fördert uns und schätzt uns, weil wir tragen Wesentliches bei zum sozialen Zusammenhalt. Und dann ist nur natürlich, dass dann andere kommen und sagen, Moment, so viel tragt ihr gar nicht bei, oder manchmal tragt ihr gerade zum Gegenteil des Zusammenhalts bei und so weiter. Aber das ist schief, weil ich glaube, der religiöse Glaube, ein bestimmter religiöser Glaube kann sich nicht rechtfertigen durch seine Nützlichkeit für den sozialen Zusammenhalt und er ist auch nicht schon entwertet, wenn in seinem Zusammenhang Konflikte entstehen.
    Fecke: Nutzt die Kirche ihre Möglichkeiten der Einflussnahme, um sich im Namen ihrer Wertvorstellung zu positionieren, wenn man zum Beispiel an den Schutz von Flüchtlingen denkt?
    Joas: Wenn Sie jetzt nur an Deutschland denken, ist ja kein Zweifel, dass die beiden großen Kirchen, die katholische und die evangelische, sich enorm, sage ich jetzt ganz vorsichtig, für die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel eingesetzt haben. Aber auffallend ist schon, dass Sie das nicht auf die anderen europäischen Länder hin verallgemeinern können. In anderen europäischen Ländern spielen durchaus, gerade auch in Polen, Ungarn und so weiter, etwa die Katholische Kirche eine Rolle, die eher zu den Skeptikern gegenüber einer sehr liberalen Migrationspolitik führt, und jetzt kann man natürlich daraus ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Man kann sagen, die deutschen Kirchen verhalten sich wirklich christlich, wie kommt es nur, dass die Kirchen in anderen europäischen Ländern sich nicht so christlich verhalten. Oder man kann auch, wenn man das aus der anderen Perspektive heraus sieht, natürlich sagen: Welchen Weg gehen denn die Kirchen in Deutschland gegenwärtig, warum entfremden sie sich so sehr von den Vorbehalten, die in der Bevölkerung in dieser Hinsicht ja auch weit verbreitet sind?
    Fecke: ... was man der Politik ja zum Teil auch gerade vorwirft.
    Joas: Genau!
    "Lasst uns außerordentlich selbstkritisch auf unsere eigene Geschichte blicken"
    Fecke: Aber, um Ihre Frage noch mal aufzugreifen. Warum sind denn andere europäische Kirchen - Sie haben Polen angesprochen - ganz anders unterwegs als die deutsche? Liegt das an unserer Vergangenheit, Sie haben ja vorhin schon kurz das Dritte Reich erwähnt?
    Joas: Das sind alles sehr komplexe Fragen, die Sie stellen, und ich möchte schon sagen, ich glaube tatsächlich, dass die Haltung eines beträchtlichen Teils der deutschen Bevölkerung und der beiden großen Kirchen in Hinsicht auf die Flüchtlingspolitik gefärbt ist (aber das soll jetzt nicht irgendwie wertend klingen) von der Erinnerung an inhumanes Handeln im Dritten Reich und an den mangelnden Mut der Kirchen, diesem inhumanen Handeln von vornherein energisch entgegenzutreten, so dass ein Gefühl vorherrscht, heute machen wir die Fehler, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, nicht wieder. Das Teuflische, wie jeder aus seinem individuellen Leben weiß, ist es nur manchmal, dass man, wenn man sich fest vorgenommen hat, einen bestimmten Fehler nicht wieder zu machen, vielleicht gerade dabei ist, einen anderen Fehler zu machen.
    Fecke: Ich weiß nicht, ob es ein Kollege im Geiste ist, aber Habermas hat gesagt, der Verfassungsstaat soll sich nicht von den möglichen Sinnpotenzialen abtrennen, die die christliche Religion uns bietet. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Politik eigentlich zu weit von den abendländischen Werten, die ja durch die christliche Religion geprägt sind, abgewandt hat?
    Joas: Ich weiß nicht, ob ich das erwähnen darf an der Stelle, aber ich habe letztes Jahr ein kleines Büchlein publiziert. Das heißt: "Sind die Menschenrechte westlich?" Das sage ich jetzt wegen dieser abendländischen Werte. Und da habe ich die Aufmerksamkeit eher darauf gerichtet, dass wir gerade, wenn wir diese Werte hochhalten wollen, ein realistisches Bild der Geschichte Europas und der Geschichte der Rolle Europas in der Welt brauchen. Ganz schrecklich ist, wenn wir so tun in Europa, als hätten wir doch diese unbezweifelbar großartigen Werte und seien gewissermaßen auch schon immer nahe an ihrer Verwirklichung gewesen, nur andere haben dafür kein Verständnis, und denen müssen wir jetzt versuchen, dieses Verständnis beizubringen, aber vermutlich haben die dann immer noch kein Verständnis dazu. Das zieht von der Geschichte zum Beispiel des Kolonialismus, von der Geschichte der Sklaverei und so weiter in einer Weise ab, dass es einem schwindelig werden kann. Ich neige eher dazu zu sagen: Wenn wir es ernst meinen mit Werten wie Gerechtigkeit, Demokratie und so weiter, dann lasst uns außerordentlich selbstkritisch auf unsere eigene Geschichte und wahrlich auch auf die gegenwärtige Rolle Europas oder der USA in der Welt blicken. Wie Habermas das mit Religion zusammenfügt ist was ganz Eigenes, und zwar entsteht das daraus, dass Habermas, der ja nun sehr ausdrücklich kein Christ ist, irgendwie in seinem Denken darauf stößt, dass das, was er lange verfochten hat als Moralphilosophie, die Motivationsquellen nicht hervorbringt, die das Christentum hervorgebracht hat. Und deshalb verteidigt Habermas heute sozusagen die Motivationskraft des Christentums, ohne dieses Christentum aber als Glauben zu teilen. Übertragen Sie das doch auf Erziehung: Ich kann doch nicht ein Kind zum Beispiel erziehen zum Christentum und ihm dabei sagen, ich bin natürlich überhaupt kein Christ, aber ich möchte, dass Du einer wirst.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.