Jörg Biesler: Heute jährt sich das Attentat auf Rudi Dutschke zum 50. Mal – das ist hier im Programm im Deutschlandfunk schon mehrfach Thema gewesen heute –, und dieses Attentat ist wohl deshalb noch heute ein so großes Thema, weil mit Dutschke auch eine kritische Haltung zur Gegenwart attackiert wurde: Das Nachfragen, Nachbohren, die Debatte zum Verstummen gebracht werden sollte. Und deshalb ist das Jahr 1968 und die Studentenbewegung auch für Studentinnen und Studenten heute ein Thema. Afanasia Zwick hat nachgefragt, was für Fragen Studierende heute an die Generation von 1968 haben.
"Eine der großen Errungenschaften der 68er-Revolution war ja auch die freie Rede. Heutzutage zieht man sich da jetzt eher wieder zurück, Thema auch Sexismus und Rassismus und eben Rechtsextreme. Inwiefern war die 68er-Revolution also ein Erfolg?"
"Warum habt ihr mitgemacht? Habt ihr es aus Liebe oder aus Angst gemacht?"
"Was war bei Ihnen im Durchschnitt so an Sexualpartner normal in der Zeit?"
"Meine Frage wäre, ob die Erwartungen sich erfüllt haben von dieser ganzen Bewegung."
Die Fragen von Studentinnen und Studenten an die Generation von 1968. Und zu der gehört auch der Soziologe Oskar Negt, damals Assistent von Jürgen Habermas. Guten Tag, Herr Negt!
Oskar Negt: Guten Tag!
Biesler: Schwierige Fragen waren das schon gleich zu Beginn, Herr Negt. Nicht auf alle müssen Sie antworten, die Frage nach den Sexualpartnern lassen wir hier vielleicht mal aus, aber immer taucht ja die Frage auf nach dem Erfolg von 1968. Das wird sich wahrscheinlich nicht pauschal beantworten lassen, aber vielleicht können Sie einige Punkte nennen, wo 68 erfolgreich war oder vielleicht auch nicht so. Wie steht's zum Beispiel …
Negt: Dieser Begriff des Erfolgs, was ist Erfolg: Ein Erfolg ist der, das hatte der eine jetzt ausgesprochen, die freie Rede. Ich habe nie in meinem Leben solche Lust am Reden verspürt wie in den großen Versammlungen. Da ist viel Unsinn erzählt worden, aber das Klima des Redens, des Argumentierens, das ist ein sehr intensives politisches Element gewesen, was man durchaus als Erfolg dieser Zeit bezeichnen kann.
Biesler: Und auch als Erfolg, dass wir heute noch davon profitieren?
Negt: Ja. Ich bin ja nicht so ein Pessimist, der meint, wenn gegenwärtig die Situation nicht so aufbruchsstimmungsmäßig aussieht, dass das so bleibt. Also gerade wenn man durch dialektische Schulungen Adornos einmal gegangen ist, dann vertraut man dem gegenwärtigen Tatsachenbestand sehr wenig.
Biesler: Können Sie das noch mal erklären für heutige Studentinnen und Studenten?
Negt: Na ja, man muss einfach von der Veränderbarkeit der Dinge ausgehen, und die können sich sehr schnell vollziehen, und ich glaube, dass gerade die dialektische Bewegung der Gedanken dazu führt, dass die Dinge auch von ihrer Seite gesehen werden, die die Veränderbarkeit anzeigt.
"Die Lust, die Dinge zu drehen und zu wenden"
Biesler: War das auch – danach ist ja gerade auch gefragt worden, damals ein Teil Ihrer Motivation, Ihrer Begeisterung auch, das zu entdecken, dass man etwas tun kann?
Negt: Ja. Ich glaube, der Satz von Adorno, die Dinge sind auch anders verwendbar, der Möglichkeitssinn, die Entwicklung des Möglichkeitssinns, nicht nur im Sinne der Utopien, sondern auch der Lust, die Dinge zu drehen und zu wenden, bis sie Seiten zeigen, die so im äußeren Anschein nicht sichtbar sind, das heißt, die Lust am Erkennen von verschiedenen Seiten der veränderbaren Dinge.
Biesler: Oskar Negt im Gespräch heute bei "Campus & Karriere", und die Fragen, die stellen heute Studentinnen und Studenten, zum Beispiel diese hier:
"Wie sehen Sie aus heutiger Perspektive die Ergebnisse von der 68er-Bewegung? Ist es eher wieder eine Entwicklung weg von Ihren Idealen oder haben Sie das Gefühl, langfristig was erreicht zu haben? Gerade Kapitalismuskritik, Beteiligung von Bürger*inen?"
"Seht ihr die Idee von den 68ern noch an der Uni heute vertreten?"
"Viele Menschen haben Lust am Erkennen"
Biesler: Sie haben es gerade schon angesprochen, auch wenn es Bewegungen gibt, die vielleicht wieder ein bisschen von der freien Rede weggehen, so kann es auch wieder Bewegungen geben, die hingehen. Kapitalismuskritik ist hier angesprochen worden, das ist ja auch eines Ihrer großen Thema mit Blick auf die Macht von Konzernen heute und dem ja doch an die Hochschulen und Schulen herangetragenen Anspruch, doch stärker sich auf die Berufsausbildung zu konzentrieren, als das vielleicht in der Vergangenheit der Fall war. Sind wir da auf einem Weg hinter 68 zurück?
Negt: Na ja, wissen Sie, das Problem ist, dass sich die Studenten langfristig nicht an die Vorgaben halten, die ihnen der Bologna-Prozess suggeriert, das heißt also Fachstudium, möglichst fleißig, möglichst frühzeitig Studienabschlüsse machen. Das heißt, dieser Bologna-Prozess besteht eigentlich darin, den Menschen die Zeit für Reflexion und Nachdenken zu nehmen.
Das Schlimmste ist der Zeitraub. Das heißt, wenn es nicht mehr möglich ist, in der Universität die Traumdeutung von Freud zu lesen oder wenigstens Teile daraus zu lesen, sondern nur Stückwerk vermittelt wird, dann ist das ein fragmentiertes Wissen, was im Grunde die Reflexionslust auch blockiert und verhindert. Die 68er-Bewegung hat dokumentiert, dass das bei vielen Menschen so ist, dass sie mehr Lust am Erkennen haben.
Biesler: Und die glauben, sie kehrt auch zurück. Sie haben ja gerade gesagt, die Studentinnen und Studenten werden sich langfristig nicht einordnen lassen in diese Zwänge.
Negt: Bin ich absolut sicher. Ich meine, es wäre nicht das erste Mal, dass stagnierende, irgendwie tot geglaubte Verhältnisse plötzlich aufbrechen. Es werden sich die Menschen nicht auf Dauer gefallen lassen, von ihrer Lust betonten Fantasien und Träumen entfernt zu werden.
Biesler: Jedenfalls scheinen sich viele Studentinnen und Studenten heute zu orientieren an der 68er-Bewegung, noch immer irgendwie, scheint eine Art Vorbildcharakter. Die fragen sich zum Beispiel auch, was denn heutige soziale Bewegungen vielleicht unterscheidet von 68.
"Wie sehen Sie die sozialen Bewegungen von heute? Mir scheint es ja so, dass sie heute weniger konfliktreich sind, sodass die Kämpfe zumindest nachgelassen haben, und ich glaube, das ist vor 50 Jahren um einen grundsätzlicheren Kampf ging, wie eben Menschen zusammenleben sollten, und dieser grundsätzliche Kampf eben heute ausgeklammert wird."
"Was würdet ihr sagen, was fehlt der heutigen Generation an inneren Werten, Ambitionen?"
"Die Kampfformen sind andere geworden"
Biesler: Herr Negt, fehlt ihr was, der heutigen Generation? Sind die Auseinandersetzungen heute andere, weniger grundsätzliche?
Negt: Das ist schwer zu sagen. Ich meine, der Kapitalismus hat eine andere Struktur angenommen, und insofern ist es sehr viel differenzierter und unübersichtlicher – der eine Kommilitone hat ja gesagt, es wird nicht mehr so viel gekämpft. Ich glaube, die Kampfformen sind andere geworden, und deshalb muss man nach solchen verschiedenartigen Kampfformen suchen, also Proteste, die die Studenten dahin führen, dass sie sich vertiefen in bestimmte Verhältnisse. Die Intensität des Studiums hat nicht nachgelassen, aber sie ist anders geworden.
"Die unmittelbare Lebenswelt muss miteinbezogen werden"
Biesler: Man könnte auch sagen, heute sind natürlich die Institutionen, mit denen man sich auseinandersetzt, auch andere. Damals war es Axel Springer natürlich in ganz extremer Weise und die "Bild"-Zeitung, und heute wäre es dann vielleicht eher Facebook. In die Richtung geht die nächste Frage, die können wir uns vielleicht gleich noch anhören:
"Würdet ihr euch wünschen, dass es so eine Bewegung noch mal geben würde, von heutigen Studenten, dass man für mehr Politik vielleicht im Alltag kämpft gegen irgendwie eine Politikverdrossenheit oder so?"
"Wenn man heute seine politischen Interessen wieder wie damals vertreten möchte, welche Art von Medium man dazu benutzen würde, also ob auf die Straße gehen oder gewisse Proteste noch taugen oder man das nicht über die sozialen Netzwerke anders kommunizieren könnte, wie sich das entwickelt hat und wie man das heute anders machen würde."
Biesler: Das geht in die Richtung, die Sie angesprochen haben, Herr Negt, oder?
Negt: Ich meine, das ist als Forderung, als Postulat sehr sinnvoll. Ich meine, die mediale Welt hat sich natürlich radikal verändert gegenüber der Zeit vor 50 Jahren. Also wenn ich denke, was ich als jetzt alter Mensch lernen müsste, um in dieser Kommunikationsstruktur zurechtzukommen, ist das eine gewaltige Anforderung, aber die jüngere Generation, das merke ich auch an meinen Kindern - die jüngste Tochter ist 29 -, die gehen spielend damit um.
Ich glaube, das ist aber nicht ausreichend, mit den Apparaten in den Straßen herumzulaufen und zu kommunizieren und sich informieren zu lassen, sondern es muss wieder so etwas wie konstituierte Verhältnisse, das heißt gewisse Verhältnisse, die die Menschen zusammenbringen an Ort und Stelle, in den Familien, in den Nachbarschaften, das heißt, die unmittelbare Lebenswelt muss miteinbezogen werden. Und das wäre eine Forderung an eine andere Form des Umgangs mit dem Politischen.
Biesler: Sagt der Soziologe Oskar Negt, geboren 1934, 1968 Assistent von Jürgen Habermas, über die Bewegung von 1968 und die Bewegungsmöglichkeiten heute, befragt bei "Campus & Karriere" von Studentinnen und Studenten von heute. Danke, Herr Negt!
Negt: Ich habe zu danken!
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