"Es ist uns gelungen, eine Einführung der Lohnzahlungen für die Feiertage zu erreichen, und vermehrten Schutz gegen Krankheit und Unfallgefahren."
Natürlich war es Propaganda, als Franz Seldte 1935 vor Bergleuten in Bottrop das NS-Regime als eine Regierung pries, die sich um das Wohl der einfachen Arbeiter kümmerte. Doch schlicht gelogen hatte der Reichsarbeitsminister nicht. Zwar hatte Hitler kurz nach seinem Machtantritt Anfang 1933 die Gewerkschaften zerschlagen und damit die Arbeiterschaft ihrer Interessensvertretung beraubt. Anschließend aber hatte seine Regierung die Zahl der Arbeitslosen binnen zwei Jahren von etwa sechs Millionen auf zwei Millionen gesenkt, betont Alexander Nützenadel, Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der HU Berlin.
"Arbeitsmarktpolitik spielte eine sehr große Rolle gleich zu Beginn der Machtergreifung, weil natürlich das große Problem der Arbeitslosigkeit aus der Weltwirtschaftskrise für die Frühphase der nationalsozialistischen Politik sehr wichtig war und die Frage der Neuorganisation von Rentenversicherung, von Sozialversicherung, von Arbeitsmarktsteuerung ein unheimlich wichtiges Feld war für die Etablierung dieses Regimes."
Aufschwung auf Pump
Hatten die sozialen Sicherungssysteme gegen Ende der Weimarer Republik kurz vor dem Kollaps gestanden, füllten sich ihre Kassen wieder, als mehr und mehr Menschen in Lohn und Brot kamen. Auch wenn der Aufschwung ausschließlich auf Pump finanziert war, festigten die guten Arbeitsmarktdaten ganz entscheidend das Ansehen des NS-Regimes. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, ergänzt der deutsch-britische Historiker Kiran Klaus Patel, der an der Universität Maastricht Europäische Geschichte lehrt.
"Festhalten wollen wir, dass selbst in westlichen Demokratien wie in Großbritannien oder den USA die Berichterstattung über die Entwicklung in Deutschland keineswegs durchgängig negativ war. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise stießen die NS-Ansätze, Sozialpolitik als Mittel gesellschaftlicher Mobilisierung einzusetzen, immer wieder auf überaus positive Resonanz."
"Es gab ja sehr stark die Vorstellung, wir müssen den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, der die 20er- und 30er-Jahre sehr stark geprägt hat, überwinden und ein neues Sozialmodell schaffen."
Alle Industrieländer suchten damals nach neuen Formen des sozialen Ausgleichs. Die USA setzen in ihrem "New Deal" auf die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates und eine Stärkung der Gewerkschaften. Aber nach einem kurzen Aufschwung stieg die Arbeitslosigkeit seit 1937 wieder an. Die Sowjetunion behauptete, ein demokratisches System von Arbeiterräten erfunden zu haben. Tatsächlich schufteten die Werktätigen in einer Kommandowirtschaft. Oberflächlich betrachtet erschien der deutsche Ansatz dagegen geradezu idyllisch. Die Gewinne der Unternehmen sprudelten, ab 1936 gab es Vollbeschäftigung und niemand streikte. Denn die Tarifparteien kämpften nicht mehr wie früher erbittert um Löhne und Arbeitszeiten. Die wurden stattdessen von sogenannten "Treuhändern der Arbeit" festlegt, die die Deutsche Arbeitsfront eingesetzt hatte, ohne Vorstände oder Belegschaften nach ihrem Einverständnis zu fragen. Mit solchen Zwangsmaßnahmen wurden alle Unternehmen zu Betriebsgemeinschaften formiert. Soziale Konflikte konnten gar nicht erst aufkommen, weil die Beschäftigten keine Gelegenheit mehr bekamen, frei für ihre Interessen einzutreten, erklärt Alexander Nutzenadel.
"Die Planungen für die Wirtschaftsordnung, die dann die Ressourcen für den Zweiten Weltkrieg bereit stellen sollte, hingen natürlich sehr stark davon ab, ob man Zugriff hat auf den Arbeitsmarkt, auf die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital, auf den Frieden innerhalb der Betriebe und deswegen waren die verschiedenen Institutionen, nicht nur das Reichsarbeitsministerium, sondern auch die Deutsche Arbeitsfront und andere Institution sehr daran interessiert, hier Zugriff drauf zu haben."
O-Ton Franz Seldte: "Von den Arbeitskameraden muss nun allerdings in einer Zeit, wo wir alle Kräfte des deutschen Volkes anspannen müssen, um innen und außen vorwärtszukommen, erhöhter Einsatz und gesteigerte Leistung gefordert werden."
Verhaltene Zustimmung
Um die Rüstungsproduktion hochzufahren, weitete das Reichsarbeitsministerium die täglichen Arbeitszeiten in Deutschland Schritt für Schritt aus, bis sie 1943 schließlich 14 Stunden erreichten. Proteste gab es keine, nicht zuletzt, weil die Versorgungslage auch im Krieg stabil blieb. Die dafür benötigten Nahrungsmittel und Rohstoffe raubte die Wehrmacht in den von ihr besetzten Staaten. Aber selbst in einigen dieser Länder verschafften sich die Nationalsozialisten zeitweilig eine verhaltene Zustimmung in Teilen der Bevölkerung durch sozialpolitische Maßnahmen. Zum Beispiel in Belgien.
"Man muss sagen, dass die Militärverwaltung ursprünglich keine Reform der belgischen Sozialversicherung geplant hat, aber einfach sehr schnell die Möglichkeit erkannt hat, durch die Einrichtung einer gesetzlichen Arbeitslosen- und Krankenversicherung einen Propagandaeffekt zu erzielen und so die Legitimität der Besatzungsherrschaft zu stärken."
Als die Wehrmacht 1940 Belgien überfallen hatte, erzählt die Historikerin Sabine Rudischhauser von der Freien Universität Brüssel, fühlten sich die Menschen an den Ersten Weltkrieg erinnert, als deutsche Truppen das Land jahrelang verwüstet und Städte wie Lüttich weitgehend zerstört hatten. Diesmal aber war der Krieg in Belgien nach zehn Tagen vorbei. Und dann führte die Besatzung auch noch Sozialversicherungen ein, für die belgische Gewerkschaften zuvor lange vergeblich gekämpft hatten. Sabine Rudischhauser nennt diese Politik eine Charmeoffensive der Nationalsozialisten. Angesichts derer hielten viele Belgier Kollaboration zunächst für aussichtsreicher als Widerstand.
"Das Ende ist erreicht im März '42 mit der Einführung der Zwangsarbeit und den beginnenden Deportationen belgischer Arbeiter, Zwangsarbeiter nach Deutschland. Das ist vor allem vor dem Hintergrund der Deportation belgischer Zwangsarbeiter im Ersten Weltkrieg so dramatisch und so traumatisch, dass es diese Charmeoffensive beendet. Danach geht nichts mehr."
Je mehr Deutschland militärisch in die Defensive geriet, desto brutaler beuteten die Nazis alle verfügbaren Arbeitskräfte aus, im Reich wie in den besetzten Ländern. Millionen Arbeiter in ganz Europa verloren im Krieg ihr Leben oder zumindest ihre Wohnungen und ihre Arbeitsplätze in den Fabriken, die zerbombt wurden. Nachhaltige Verbesserungen hat die nationalsozialistische Sozialpolitik nirgendwo gebracht. Aber sie hat erstaunlich lange dazu beigetragen, das Regime zu stabilisieren.