Der Sozialpsychologe Ernst Dieter Lantermann kritisiert eine zunehmende Radikalisierung unserer Gesellschaft, bei der Mauern zwischen einzelnen Gruppierungen aufgebaut würden. Das gelte für Fremdenhasser ebenso wie für Veganer oder Klimaschützer. Die Folge sei eine Zerstückelung der Gesellschaft auf Kosten des Gemeinwohls und des Dialogs mit Andersdenkenden. Empathie und Mitleid würden "begrenzt auf die Menschen, die mit mir gemeinsam eine eingeengte Weltsicht teilen". Das sei "sehr, sehr dramatisch", so der Autor des Buches "Die radikalisierte Gesellschaft". Dabei verweist er auf Beobachtungen von Rettungskräften, wonach die Verrohung im Alltag stark zunehme.
"Radikalisierung ist ein Zeichen für eine schwieriger gewordene Gesellschaft"
Ein wichtiger Auslöser für diese Entwicklung war nach Lantermanns Ansicht die Agenda 2010. Sie sei ein Bruch in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik gewesen, "weg von der Fürsorge hin zur Selbstermächtigung". Seitdem werde nur der gefördert, der sich für sich selbst einsetze. Deshalb sieht Lantermann auch in der zunehmenden Radikalisierung "mehr ein Zeichen einer schwieriger gewordenen Gesellschaft als das Problem eines Einzelnen". Jeder versuche sein Leben sinnvoll zu gestalten. Und da komme es darauf an, welche Angebote eine Gesellschaft mache.
Auch die Radikalisierung des Einzelnen ist für Lantermann ein Weg zur Selbstermächtigung: "Das ist ein Triumph der Wiedergewinnung von Sinn, Bedeutung und Klarheit." Die Leute wüssten endlich wieder, was sie zu tun haben und was richtig und falsch ist. Sie wüssten, wo die Freunde und die Feinde sind: "Sie haben die Welt vereinfacht und sich dadurch einen unglaublichen, auch moralischen Gewinn verschafft."