Die Sozialwahl (oder Sozialversicherungswahl) gilt nach Bundestagswahl und Europawahl als größte demokratische Abstimmung in Deutschland. Etwa 52 Millionen Menschen haben ihre Wahlunterlagen in den vergangenen Wochen per Post erhalten. Die Sozialwahl findet alle sechs Jahre statt, dennoch ist sie eher unbekannt – trotz bundesweiter Plakatwerbung für den Urnengang. Bei der vergangenen Wahl lag die Beteiligung bei rund 30 Prozent. Noch bis zum 31. Mai 2023 können Wahlberechtigte ihre Stimme für die Sozialwahl abgeben.
Was wird gewählt?
Bei der Sozialwahl werden die ehrenamtlichen Vertreter in den Selbstverwaltungsorganen von fünf Krankenkassen sowie der gesetzlichen Rentenversicherung gewählt. Deshalb erhält auch jeder Wahlberechtigte bis zu zwei Stimmzettel und kann dann über zwei Sozialparlamente mitbestimmen. Bei den Krankenkassen ist das Selbstverwaltungsorgan der Verwaltungsrat, bei der Rentenversicherung ist es die Vertreterversammlung. Neben den ehrenamtlichen Vertretern der Versicherten sitzen dort jeweils auch die Vertreter der Arbeitgeber.
Was entscheiden die gewählten Gremien?
In den Selbstverwaltungsgremien wird unter anderem über die Haushalte und damit über die Verwendung der Beitragsgelder entschieden. Sie bestimmen zum Beispiel, ob eine Krankenkasse ihren Versicherten zusätzliche Leistungen anbieten kann oder soll, ob eine Kasse eine bestimmte Therapie oder ein bestimmtes Arzneimittel bezahlt oder nicht, auch darüber können die gewählten Vertreter mitbestimmen.
"Das Rentenparlament ist auch für die Ausgestaltung der Rehabilitation zuständig und achtet auf die hohe Qualität der Reha-Kliniken", sagt Rentenversicherungspräsidentin Gundula Roßbach. "In der Corona-Pandemie hat es zudem wichtige Projekte wie Rehas bei Long Covid und Post Covid angestoßen, um den Versicherten schnell Angebote machen zu können. (…) Das Gremium ist auch für die Kontrolle der Verwaltung zuständig und achtet darauf, dass sparsam mit den Beiträgen umgegangen wird", sagt Roßbach. "Mehrere hundert gewählte Ehrenamtliche sind zudem in den Widerspruchsausschüssen aktiv." Dort werde jede Entscheidung der Verwaltung, mit der Versicherte nicht einverstanden sind, noch einmal überprüft.
Wer wird bei der Sozialwahl gewählt?
Bei der Wahl zur Sozialversicherung treten verschiedene Listen an. Auf dem Stimmzettel zur Deutschen Rentenversicherung Bund stehen zum Beispiel 13 unterschiedliche Listen von Gewerkschaften oder Gemeinschaften. Auch bei fünf sogenannten Ersatzkassen - Techniker Krankenkasse, DAK-Gesundheit, Barmer, KKH (Kaufmännische Krankenkasse) und Handelskrankenkasse (hkk) - stehen unterschiedliche Listen zur Wahl. Für die Selbstverwaltung der Krankenkassen wurde erstmals eine Frauenquote von 40 Prozent auf den Wahllisten eingeführt.
Gewählt wird aber nicht bei allen Versicherungen - sondern eben bei der Deutschen Rentenversicherung Bund und den fünf Ersatzkassen. "Bei allen anderen gesetzlichen Krankenkassen und regionalen Trägern der Rentenversicherung haben sogenannte Friedenswahlen stattgefunden. Das bedeutet, es haben sich nur so viele Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt, wie Mandate zu vergeben sind oder es wurde nur eine Vorschlagsliste eingereicht. Die aufgestellten Kandidatinnen und Kandidaten gelten somit automatisch als gewählt", sagt eine Sprecherin des Sozialwahl-Pressebüros.
Welche Kritik gibt es an den Sozialwahlen?
Wissenschaftliche Beobachter sehen einen schleichenden Bedeutungsverlust der zu wählenden Gremien, da der Staat immer stärker die Richtung im Sozialversicherungsrecht vorgebe. Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell sagte im Dlf, den allermeisten Wahlberechtigten sei „überhaupt nicht bewusst, was da gewählt wird“. Er sprach von einer Wahlentscheidung „im nebulösen Raum“. Die durch die Sozialwahl besetzten Gremien übernehmen laut Sell weiter wichtige Aufgaben – zumindest in Teilbereichen. Aber: „95 oder mehr Prozent“ der Regelungen in der Sozialversicherung seien „vom Gesetzgeber vorgegeben“.
Eine „gewisse Asymmetrie“ zwischen den Hauptamtlichen in Kassen und Sozialversicherung und den Ehrenamtlichen, die sie kontrollieren sollen, sieht der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Der Staat habe im Laufe der Zeit zudem immer mehr Aufgaben an sich gerissen, sagte Schroeder im Dlf. Aber die Sozialwahl gehöre zu diesem Sozialstaat, indem versucht werde, den Betroffenen eine Mitsprache in „Aufsichtsräten der Sozialversicherung“ zu geben.
Peter Weiß (CDU), Beauftragter der Bundesregierung für die Sozialwahlen, räumt Reformbedarf ein. Die Sozialwahlen müssten interessanter, die Selbstverwaltung effizienter werden: „Wenn ich für die künftigen Sozialwahlen Reformvorschläge machen soll, dann werde ich zum Beispiel prüfen, ob man nicht zumindest bei den Listen, die Namen der ersten drei Kandidatinnen oder Kandidaten mit auf die Wahlliste schreibt, über die man sich dann im Internet informieren kann, damit die Sozialwahl auch stärker ein Gesicht bekommt.“ Dies werde von den Menschen erwartet, so Weiß: „Sie wollen Programme und sie wollen Listen- oder Parteiennamen auch mit einem Gesicht verbinden.“ Weiß verteidigt aber die Selbstverwaltung der Sozialversicherung als Prinzip.
Kann man auch online an der Sozialwahl teilnehmen?
Nur teilweise. In einem Modellprojekt der fünf Ersatzkassen gibt es erstmals die Möglichkeit zur Onlinewahl. Sollte das Modellprojekt erfolgreich sein, will auch die Rentenversicherung bei der nächsten Sozialwahl online abstimmen lassen.
Wahlberechtigte, die Mitglieder der TK, Barmer, DAK-Gesundheit, KKH oder hkk sind, können online wählen, indem sie ihre Versichertennummer angeben. Zudem benötigen sie zur digitalen Stimmabgabe das sogenannte Wahlkennzeichen, das mit den Wahlunterlagen versendet wurde. Eine Identifizierung ist den Angaben zufolge mit der AusweisApp2 ist ebenfalls möglich.
Warum gibt es eigentlich die Sozialwahl?
Das Prinzip der Selbstverwaltung der Sozialversicherung mit den gewählten Vertretern von Versicherten und Arbeitgebern soll eine Staatsferne garantieren. Diese war bereits bei der Gründung der Sozialversicherungen im Kaiserreich verankert worden. Reichskanzler Otto von Bismarck führte 1883 verpflichtend für alle Arbeiter und Angestellten die gesetzliche Krankenversicherung, ein Jahr später die Unfallversicherung und 1889 die Rentenversicherung ein. Bismarck tat das aber nicht ohne Hintergedanken: Es ging ihm auch darum, mit den Sozialreformen den aufstrebenden Sozialdemokraten etwas entgegenzusetzen. Und dabei sollte nicht der Staat die Versicherungen organisieren und verwalten, sondern die, die sie finanzieren, die Beschäftigten und die Arbeitgeber. Die gewählten Vertreter werden deshalb bis heute auch Selbstverwalter genannt.
Philipp Landauer, Birgid Becker, tei, AFP, Deutsche Rentenversicherung